Die Stimme der Natur

Die Stimme der Natur

[124] Wenn die Natur nun plötzlich erhöbe die Stimme und zornig

Also in eigner Person zu einem der unsrigen spräche:

»Sterblicher, sage, was ist dir? Was gibst du so über die Maßen

Kläglichem Trauern dich hin? Was beklagst und beweinst du das Sterben?

War dir dein Leben erfreulich, das hinter dir liegt und vollendet,

Sind dir alle Genüsse nicht etwa kläglich zerronnen

Wie durch ein leckes Gefäß und ohne Genuß dir entschwunden,

Warum scheidest du nicht als gesättigter Gast von des Lebens

Tafel, du Tor, und genießest die sichere Ruhe mit Gleichmut?

Sind hingegen die Quellen der Freude dir gänzlich zerflossen,

Ist dir das Leben zum Ekel, was willst du denn weiter hinzutun,

Was doch wieder verschwindet und ohne Genuß dir zerrinnet?

Warum machst du nicht lieber ein Ende der Qual und des Lebens?

Denn was könnt' ich noch weiter ersinnen dir oder erfinden,

Was dich zu freuen vermöchte? Es bleibt ja doch immer beim Alten.

Auch wenn die Jahre noch nicht dir den Körper völlig entnervten

Oder die Glieder dir lahmten, so bleibt doch alles wie vorher,

Magst du auch alle Geschlechter an Lebensdauer besiegen,

Ja, selbst wenn du für immer dem Tod zu entfliehen vermöchtest.«[124]

Was entgegnen wir dann der Natur? Doch wohl, daß mit Recht sie

Uns vor Gericht hat gezogen und nur die Wahrheit gesprochen.

Wenn nun vollends ein alter, gebrechlicher Greis sich beklagte

Und zu kläglich begänne den nahenden Tod zu bejammern,

Müßte sie da nicht noch lauter und schärfer die Schelte erheben?

»Weg mit den Tränen, du Narr, und laß dein Klagen und Jammern!

Alles, was schön ist im Leben, das hattest du: nun bist du fertig;

Doch weil du immer verschmähst, was du hast, und begehrst, was du

nicht hast, So entschwand dir dein Leben in unerfreulicher Halbheit,

Bis sich der Tod urplötzlich zu Häupten dir stellte, bevor du

Scheiden konntest gesättigt und voll von den Gütern des Lebens.

Jetzt laß alles im Stich, was sich nicht mehr schickt für dein Alter,

Mach den Klügeren Platz, schnell! ohne zu murren: es muß sein!«

Klagte nun so die Natur, sie hätte, ein Recht so zu schelten.

Wird doch das Alte beständig verdrängt von dem Neuen: es muß ihm

Weichen und immer sich eins aus dem anderen wieder ergänzen.

Niemand kann in dem Schlund und des Tartarus Dunkel versinken;

Denn man bedarf ja des Stoffs zur Bildung der nächsten Geschlechter,

Die dir alle jedoch einst folgen werden am Ende:

Vor dir nicht minder wie nach dir verfallen sie alle dem Tode.

So wird unaufhörlich das eine entstehn aus dem andern,

Keinem gehört ja das Leben zum Eigentum, allen zur Nutzung.

Blick nur zurück! Was können für uns die vergangenen Jahre

Jener unendlichen Zeit vor unsrer Geburt noch bedeuten!

Dies ist also der Spiegel, den uns die Natur von der Zukunft

Vorhält, welche dereinst wird sein nach unserem Tode.

Ist das ein Schreckensbild? Erscheint da was Düsteres? Oder

Ist man nicht besser im Tod als im ruhigsten Schlafe gesichert?

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 124-125.
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