Deutung der Unterweltsfabeln

[125] Nun erst die Fabelgestalten, die da in des Acheron Tiefen

Hausen! Du findest natürlich sie alle in unserem Leben:

Tantalus braucht nicht zu fürchten den über ihm schwebenden Felsblock

Hoch in der Luft, wie man fabelt (der Schrecken des Armen ist nichtig),

Sondern die grundlose Angst vor den Göttern bedrücket die Menschheit

Während des Lebens schon jetzt und die Furcht vor den Tücken des Zufalls.[125]

Auch in des Tityos Leib, der am Strande des Acheron daliegt,

Wühlen nicht Geier; sie können in Ewigkeit sicherlich nimmer

Etwas entdecken, was unter der mächtigen Brust sie erwühlen.

Wenn auch sein Riesenkörper unendlich an Größe sich dehnte,

Daß er nicht nur neun Jucherte bloß das Gelände bedeckte,

Sondern den Erdkreis ganz mit der Spanne der Glieder umfaßte.

Trotzdem könnte er nimmer die ewigen Qualen erdulden

Oder vom eigenen Fleisch stets Nahrung den Vögeln gewähren.

Aber der Tityos lebt ja in uns: wer in Liebe verstrickt ist,

Wem die quälende Angst, wem andre Begierden und Sorgen

Ständig verzehren das Herz, die alle zerreißen die Geier.

Auch des Sisyphos Bild steht uns aus dem Leben vor Augen:

Der vom Volke die Beile und Rutenbündel erbettelt

Und nach dem Wahldurchfall stets traurig vom Markte zurückkommt.

Denn nach der Herrschaft streben (ein eitel, unmöglich Begehren)

Und in dem Streben danach stets härteste Mühen erdulden,

Das heißt aufwärts stets anstemmend den Felsblock wälzen,

Der von dem obersten Gipfel doch wieder und wieder herabrollt

Und mit beflügelter Hast sich hinab in die Ebene stürzet.

Weiter: im Herzen beständig ein undankbares Gemüte

Hegen und nie sich an Gütern ersättigen oder genugtun,

Was uns die Zeiten des Jahres bescheren im wechselnden Kreislauf,

Wenn sie uns Frucht darbieten und mancherlei andere Gaben,

Ohne daß je wir genug von des Lebens Früchten bekämen –

Dies heißt meines Bedünkens das Naß in durchlöcherten Eimer

Schütten, den trotz der Bemühung man niemals zu füllen imstand ist

Wie dies Fabeln berichten von Danaos blühenden Töchtern.

Nun gar Cerberus erst und die Furien, endlich der dunkle

Tartarus, der entsetzlichen Qualm aus dem Schlunde herausstößt

All dies gibt es ja nicht und kann es auch wirklich nicht geben.

Aber im Leben schon folgt auf gräßliche Taten des Frevels

Gräßliche Angst vor den Strafen: der Kerker, als Sühne der Schandtat,

Oder der schaurige Sturz von den Felsen hinab in die Tiefe,

Henker und Geißel, der Block, Pech, Fackeln, glühendes Eisen!

Selbst wenn die Strafe nicht folgt, so stachelt das Sündenbewußtsein,

Das sie ahnt, das Gemüt und peitscht es mit brennenden Hieben.

Und doch sieht es nicht ab, wie ein Ende soll werden der Übel

Oder wie endlich sich schließe der Kreis der drohenden Strafen;

Ja, es befürchet sogar noch ihre Verschlimmrung im Tode.

So wird schließlich schon hier zur Hölle das Leben der Toren.[126]

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 125-127.
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