Kleinheit der Seelenatome

[108] Erstlich zeigt' ich ja schon, daß das feine Gebilde der Seele

Nur aus den kleinsten Atomen besteht, die kleiner bei weitem[108]

Sind als die Urelemente der flüssigen Wassermaterie

Oder des Rauchs und des Nebels. Denn ihre Beweglichkeit steht ja

Weit voraus, und sie setzt sich beim leisesten Stoß in Bewegung,

Da sie doch schon von den Bildern des Rauchs und des Nebels erregt wird.

So erblicken wir oft im Schlummer, wie Dampf vom Altare

Hoch in die Lüfte sich hebt und weithin der Rauch sich verbreitet.

Denn unzweifelhaft schweben uns Bilder von dort vor den Augen.

Da du nun also siehst, wie rasch aus zersprungnen Gefäßen

Naß auseinander fließt und Wasser ins Weite entweichet,

Da sich auch, ebenso Nebel und Rauch in die Lüfte verbreitet,

Glaube mir, daß auch die Seele noch schneller sich teilt auseinander

Und noch rascher vergeht und in ihre Atome sich auflöst,

Ist sie einmal den Gliedern des Menschen entflohn und entwichen.

Denn wenn der Körper bereits, der gleichsam der Seele Gefäß ist,

Nicht mehr die Seele zu halten vermag, wenn irgendein Stoß ihn

Trifft und ein Leck entsteht, so daß aus den Adern das Blut rinnt,

Wie soll dann wohl die Luft, wie du wähnst, sie zu halten vermögen,

Die doch viel weniger dicht als der Leib ist und weniger festhält?

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 108-109.
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