Verwerfliche Lebensgier

[128] Endlich die Gier nach dem Leben! Wie maßlos beherrscht sie und zwingt uns,

Stets in Gefahren und Zweifeln mit Zittern und Zagen zu leben!

Sicher, ein Ende des Lebens erwartet uns Sterbliche alle,

Flucht vor dem Tod ist nicht möglich, es rettet uns nichts vor dem Sterben.

Außerdem drehn wir uns stets und verharren im selbigen Kreise;

Und kein neues Vergnügen ersprießt aus der Lebensverlängrung,

Sondern, so lange uns fehlt, was wir wünschen, erscheint uns just dieses

Besser als alles, und haben wir dies, dann wünschen wir andres.

Also lechzen wir stets, nie stillt sich der Durst nach dem Leben.

Auch welch' Los uns die Zukunft bringt, was der Zufall uns zuwirft,

Was uns erwartet am Schluß; dies alles muß zweifelhaft scheinen.

Mag man das Leben verlängern, vom Zeitraum unseres Todes

Rauben wir keine Sekunde. Wir können ja niemals bewirken,

Daß wir geringere Zeit im Reiche des Todes verweilen.

Könnten wir also das Leben selbst auf Jahrhunderte dehnen,

Ewig würde doch währen der Tod, und für jenen, der heute

Schied aus dem Tageslicht, wird das Nichtsein kürzer nicht dauern

Als für den, der schon Monde zuvor und Jahre verstorben.[128]

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 128-129.
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