Die Voraussetzungen der Forschung.

[275] 1. Der in einer gewissen begrenzten Umgebung aufgewachsene und verkehrende Mensch hat oft und oft Körper von einer gewissen Beständigkeit der räumlichen Größe und Form, der Farbe, des Geruches, Geschmackes, der Schwere u.s.w. vorgefunden. Er hat sich unter dem Einflusse der Umgebung und der Macht der Association gewöhnt dieselben Empfindungen an einem Ort und in einem Augenblick verbunden anzutreffen; er setzt diese Beständigkeit der Verbindung gewohnheitsmäßig und instinktiv voraus, und diese Voraussetzung wird zu einer wichtigen Bedingung seines biologischen Gedeihens. Die auf einen Ort und eine Zeit zusammengedrängten Beständigkeiten der Verbindung, welche wohl der Idee einer absoluten Beständigkeit oder Substanz zur Grundlage gedient haben, sind nicht die einzigen. Der gestoßene Körper gerät in Bewegung, stößt einen anderen und setzt diesen in Bewegung, aus dem geneigten Gefäß fließt der Inhalt, der losgelassene Stein fällt, das Salz zerfließt im Wasser, der brennende Körper entzündet einen anderen, erhitzt Metall, bringt es zum Glühen und Schmelzen, u.s.w. Auch hier treten uns Beständigkeiten der Verbindung entgegen, nur daß sie der Variation des Raumes und der Zeit einen größeren Spielraum lassen.

2. Wir haben die (vorläufigen) letzten gemeinsamen Bestandteile unserer physischen und psychischen Erlebnisse Elemente genannt. Wir beobachten 1. einfache Beständigkeiten einzelner Elemente, 2. Beständigkeiten gleichzeitiger und gleichräumlicher Verbindung dieser Elemente, und 3. allgemeinere Beständigkeiten der Verbindung dieser Elemente. Die wiederholte, sorgfältigere Beobachtung lehrt, daß einzelne Elemente überhaupt nicht beständig[275] sind. Wenn sie beständig zu sein scheinen, wie die Farbe bei gleichbleibender Beleuchtung, die Schwere bei ungeänderter Lage gegen die Erde u. s. w., liegt es nur an der zufälligen Konstanz anderer mit denselben verbundenen Elemente. Auch die gleichzeitige und gleichräumliche Verbindung ist keine absolute Beständigkeit, wie dies schon durch den vorigen Fall beleuchtet wird, und wie namentlich Physik, Chemie und Sinnesphysiologie täglich lehren. Es bleibt also nur die allgemeine Beständigkeit der Verbindung übrig, von welcher die beiden vorausgehenden sehr spezielle Fälle darstellen. Zählen wir Raum- und Zeitempfindungen mit zu den Elementen, so werden alle Beständigkeiten der Verbindung durch Abhängigkeiten der Elemente voneinander erschöpft.340 Natürlich werden unter Leitung des biologischen Bedürfnisses zunächst die einfachsten unmittelbar den Sinnen zugänglichen Abhängigkeiten beobachtet, wie dies durch zahlreiche Beispiele schon erläutert wurde. Erst später gelingt es, kompliziertere und allgemeinere, nur begrifflich darstellbare Abhängigkeiten absichtlich zu ermitteln, in welchen sich die Elemente selbst in den Begriffen verbergen.

3. Ganz so, wie wir reflektorisch und instinktiv unter dem Einfluß unserer Organisation, unseres biologischen Bedürfnisses und unserer Umgebung greifen gelernt haben, und nun diese Fertigkeit mit bewußter Absicht im Dienste des Lebens üben, ebenso lernen wir die Voraussetzungen, die sich aus unserer psychischen Organisation (Association) und dem Einfluß der Umgebung instinktiv ergeben, und als biologisch förderlich erwiesen haben, mit bewußter Absicht und mit Voraussicht des vielfach erfahrenen Erfolges festhalten, sobald es sich in der Forschung um das Begreifen handelt.

4. Die Voraussetzung der Abhängigkeit der Erlebnis-Elemente voneinander braucht durchaus nicht angeboren zu sein; wir können im Gegenteil ihre allmähliche Entwickelung beobachten. Das »weil«, »da«, »folglich« u.s.w. muß sich im Leben und in der Sprachbildung der Völker und des einzelnen lange[276] mit der Bedeutung zeitlicher und räumlicher Koinzidenz begnügen, bevor es bedingende (kausale) Bedeutung erhält.341 Auch dauert es recht lange, bis das Verhältnis der gegenseitigen Abhängigkeit der Elemente voneinander vollständiger und richtiger aufgefaßt wird. Dies ist auch ganz verständlich. Wenn alles ganz regelmäßig verlaufen würde, ohne die geringste Störung, so wie die Nacht auf den Tag folgt, so würden wir uns diesem Gang ganz gedankenlos anpassen.342 Erst ein Wechsel von Regel und Regellosigkeit nötigt uns, in Verfolgung unseres unmittelbaren oder mittelbaren biologischen Interesses, die Frage zu stellen: Warum sind die Ereignisse einmal diese, ein andermal andere? Was hängt unabänderlich zusammen, was begleitet sich nur zufällig? Wir gelangen durch diese Unterscheidung zu den Begriffen Ursache und Wirkung. Ursache nennen wir ein Ereignis, an welches ein anderes (die Wirkung) unabänderlich gebunden ist. Freilich zeigt sich, daß dieses Verhältnis meist sehr oberflächlich und unvollständig aufgefaßt wird. Gewöhnlich werden nur zwei besonders auffallende Bestandteile eines Vorganges als Ursache und Wirkung aufgefaßt. Die genauere Analyse eines solchen Vorganges zeigt aber dann fast immer, daß die sogenannte Ursache nur ein Komplement eines ganzes Komplexes von Umständen ist, welcher die sogenannte Wirkung bestimmt. Deshalb ist auch, je nachdem man diesen oder jenen Bestandteil des Komplexes beachtet oder übersehen hat, das fragliche Komplement sehr verschieden.

5. Hat die Voraussetzung der Beständigkeit der Verbindung der Elemente als instinktive Gewohnheit oder als bewußter methodologischer Zug sich unserem Denken eingeprägt, so suchen wir sofort nach einer Ursache jeder neu eintretenden, unerwarteten Änderung. Woran hängt es, daß das bisher Beobachtete nicht fortbesteht? Hat sich eine unbeachtete, unbemerkte Bedingung geändert? Jede Veränderung erscheint als eine Störung der Stabilität, als eine Auflösung des bisher zusammen Bestehenden. Sie hebt den gewohnten Zusammenhang auf, beunruhigt uns,[277] setzt ein Problem, drängt uns, einen neuen Zusammenhang zu suchen, nach der Ursache zu forschen.343

6. In den höher entwickelten Naturwissenschaften wird der Gebrauch der Begriffe Ursache und Wirkung immer mehr eingeschränkt, immer seltener. Es hat dies seinen guten Grund darin, daß diese Begriffe nur sehr vorläufig und unvollständig einen Sachverhalt bezeichnen, daß ihnen die Schärfe mangelt, wie dies schon angedeutet wurde. Sobald es gelingt die Elemente der Ereignisse durch meßbare Größen zu charakterisieren, was bei Räumlichem und Zeitlichem sich unmittelbar, bei anderen sinnlichen Elementen aber doch auf Umwegen ergibt, läßt sich die Abhängigkeit der Elemente voneinander durch den Funktionsbegriff344 viel vollständiger und präziser darstellen, als durch so wenig bestimmte Begriffe, wie Ursache und Wirkung. Dies gilt nicht nur dann, wenn mehr als zwei Elemente in unmittelbarer Abhängigkeit (das Beispiel vom Gas pv/T = konst. S. 135), sondern noch viel mehr, wenn die betrachteten Elemente nicht in unmittelbarer, sondern in mittelbarer, durch mehrfache Ketten von Elementen vermittelter Abhängigkeit stehen. Die Physik mit ihren Gleichungen macht dieses Verhältnis deutlicher, als es Worte tun können.

7. Bei unmittelbarer Abhängigkeit zweier oder mehrerer Elemente, wobei z.B. sämtliche Elemente durch eine Gleichung verbunden sind, ergibt sich jedes Element als Funktion der anderen. In der alten Ausdruckweise müßten wir sagen: In diesem Falle sind die Begriffe Ursache und Wirkung vertauschbar. Wenn z.B. zwei gravitierende Massen sich allein gegenüberstehen, oder zwei wärmeleitende Körper allein sich berühren, so ist die Geschwindigkeitsänderung des einen die Ursache der Geschwindigkeitsänderung des anderen und umgekehrt, die Temperaturänderung des einen die Ursache der Temperaturänderung des anderen und umgekehrt. Wenn ein heißer Körper A durch Vermittelung anderer Körper B, C... an einen Körper N Wärme überträgt, so ist nicht mehr allein die Zustandsänderung von A maßgebend für die Zustandsänderung von N, sondern alle Mittelkörper[278] und deren Anordnung haben mitzusprechen. Natürlich kann jetzt auch nicht die Zustandsänderung von N allein als bestimmend für die Zustandsänderung von A gelten. Das Verhältnis der Umkehrbarkeit hat aufgehört. Selbst in dem einfachen Falle, daß man alle Körper als Punkte ansehen kann, wird man so viele simultane Differentialgleichungen aufzustellen haben, als Körper vorhanden sind. Jede Gleichung enthält im allgemeinen die Variablen, welche sich auf alle Körper beziehen. Gelingt es eine Gleichung zu gewinnen, die bloß die Variable eines Körpers enthält, so läßt sich diese integrieren. Dies führt auch zu den übrigen Integralen, in welchen die Konstanten durch den Anfangszustand bestimmt werden. Die Durchführung eines solchen einfachsten Beispiels ist genügend, das Unzureichende der vulgären Begriffe Ursache und Wirkung und deren Überflüssigkeit gegenüber dem Funktionsbegriff fühlbar zumachen.345

8. Betrachtet man die physikalischen Vorgänge genau und im einzelnen, so scheint es, daß man alle unmittelbaren Abhängigkeiten als gegenseitige und simultane ansehen kann. Für die vulgären Begriffe Ursache und Wirkung gilt das gerade Gegenteil, weil sie eben in ganz unanalysierten Fällen einer vielfach vermittelten Abhängigkeit Anwendung finden. Die Wirkung »folgt« der Ursache, und das Verhältnis ist »nicht umkehrbar«. Als Beispiel diene die Explosion des Pulvers im Geschütz und das Einschlagen des Projektils, ferner ein leuchtendes Objekt und die Lichtempfindung. In beiden Fällen liegen Ketten von vermittelter Abhängigkeit von einer Unzahl von[279] Gliedern vor. Der getroffene Körper restituiert nicht die Arbeit des Pulvers, die empfindende Netzhaut nicht das Licht; beide sind nur Glieder der Kette der Abhängigkeiten, die sich auf anderen Wegen fortsetzen, als sie eingeführt worden sind. Der Körper liefert etwa fliegende Sprengstücke, der Wahrnehmende greift vielleicht nach dem leuchtenden Objekt. Der ganze Vorgang braucht nicht deshalb momentan und umkehrbar zu sein, weil er sich auf eine vielfache Kette simultaner und umkehrbarer Abhängigkeiten gründet. Wir kommen auf diesen Punkt noch zurück.346

9. Die Auffassung der Kausalität ist also nicht immer dieselbe gewesen, sie hat im Lauf der Geschichte sich geändert, und kann auch noch ferner sich andern. Um so weniger wird man glauben, daß es sich hier um einen angeborenen Verstandsbegriff handelt. Das Hume-Kantsche Problem wurde schon anderwärts besprochen.347 Hier sei nur noch wenig hinzugefügt. Die psychische Individualität entwickelt sich durch Wechselbeziehung des Subjekts und dessen Umgebung. Gewiß bringt der Organismus auch schon Angeborenes mit, vielleicht sogar viel mehr, als Kant angenommen hat. Vor allem ist die Reflexerregbarkeit angeboren. Nicht nur das System der Raum- und Zeitempfindungen ist angeboren, sondern auch die spezifischen Energien aller Sinne mit den inbegriffenen Systemen der möglichen Empfindungen.348 Allerdings hat es sich gezeigt, daß der physiologische Raum und die physiologische Zeit ohne Hilfe der physischen Erfahrung weder eine wissenschaftliche Geometrie, noch eine wissenschaftliche Mathematik begründen könnten.[280] Die Frage: »Wie ist reine Mathematik (a priori) möglich?« enthielt also zweifellos einen der wichtigsten Forschungskeime. Wichtiger aber wäre es noch gewesen, wenn sie nicht die Vorausetzung enthalten hätte, daß die Erkenntnisse der Mathematik a priori gewonnen werden. Denn nicht philosophische Dekrete, sondern nur die positiven psycho-physiologische Forschungen können feststellen, was angeboren ist. Was die Kausalitätsauffassung betrifft, so können höchstens die Grundlagen der Möglichkeit der Association, die organischen Verbindungen angeboren sein, denn die Associationen selbst sind nachweislich individuell erworben (vgl. S. 33). Der Gedanke einer angeborenen Kausalitätsauffassung hat einen so hochstehenden Forscher wie Whewell zu wunderlichen Wendungen verführt, obgleich er eigentlich als ein recht freier Kantianer bezeichnet werden muß. Fries und seine Schule, insbesondere Apelt, welchen wir sehr viel in Begründung einer rationellen naturwissenschaftlichen Methodik verdanken, machen ja gewaltige Anstrengungen sich von den Fesseln Kants zu befreien, ohne daß es ihnen vollständig gelingen würde. (Siehe die Beispiele S. 138-140.) Erst Beneke unter den Deutschen macht wesentliche Fortschritte. Er sagt ausdrücklich: »Wir haben im vorigen den Satz durchgeführt, daß alle Begriffe ohne Ausnahme, auch die Kantschen Kategorien, durch Zusammenfassung von Anschauungen entstehen; und so können wir uns denn so weit Whewells Ansicht nicht zu eigen machen.«349 – – »Die allgemeinste Einteilung der Wissenschaften aus diesem Gesichtspunkte ist die in Wissenschaften, welche sich auf das durch äußere Eindrücke Aufgefaßte, und solche, die sich auf das Innerlich-Prädeterminierte beziehen. Die letzteren enthalten allerdings gewissermaßen Erkenntnisse des a priori der Erfahrung in uns Gegebenen. Aber man hat bei der näheren Bestimmung dieses Verhältnisses bisher darin gefehlt, daß man die in der ausgebildeten Seele hervortretenden Formen als schon vor der Erfahrung, oder bestimmter, der Entwicklung der Seele gegebene (angeborene) voraussetzt. Dies ist falsch: Die Formen, welche für die Erkenntnis[281] zunächst vorliegen, sind erst in der Entwicklung der Seele entstanden, vor derselben nur prädeterminiert in angeborenen Anlagen und Verhältnissen, welche ganz andere Formen an sich tragen.«350 Ich wüßte diesen trefflichen allgemeinen Bemerkungen nichts erhebliches hinzuzufügen.

10. Die natürliche Entwicklung führt also dazu, daß die instinktive Erwartung von Beständigkeiten, die durch die Wechselbeziehung des Subjektes und seiner Umgebung sich herausgebildet hat, schließlich als absichtliche, bewußte, als erfolgreich erprobte und neuen Erfolg versprechende methodologische Voraussetzung, als Postulat an die Forschung herangebracht wird. In der Tat ist die Absicht ein Gebiet zu erforschen nur mit der Annahme der Erforschbarkeit desselben vereinbar.351 Diese setzt aber Beständigkeiten voraus, denn was sonst sollte durch die Forschung ermittelt werden? Solche Beständigkeiten sind aber Abhängigkeiten der Elemente des Gegebenen voneinander, funktionale Beziehungen oder Gleichungen zwischen diesen Elementen. Wenn eine Gleichung erfüllt ist, so liegt hierin eine erweiterte, verallgemeinerte substanzielle Auffassung, aber auch eine weiter entwickelte, verschärfte, geläuterte kausale Auffassung. Es kommt im allgemeinen wenig darauf an, ob wir die Gleichungen der Physik als den Ausdruck von Substanzen, Gesetzen, oder in besonderen Fällen von Kräften ansehen; jedenfalls drücken sie funktionale Abhängigkeiten aus. Als einfaches, sofort verständliches Beispiel sei nur das Energiegesetz angeführt, welches sich differenten Auffassungen sehr wohl fügt, die wir darum auch gar nicht als so grundverschieden betrachten können, als sie oft erscheinen.352

11. Die Richtigkeit der Position des »Determinismus« oder »Indeterminismus« läßt sich nicht beweisen. Nur eine vollendete oder nachweisbar unmögliche Wissenschaft könnte hier entscheiden. Es handelt sich hier eben um Voraussetzungen, die man an die Betrachtung der Dinge heranbringt, je nachdem[282] man den bisherigen Erfolgen oder Mißerfolgen der Forschung ein größeres subjektives Gewicht beimißt. Während der Forschung aber ist jeder Denker notwendig theoretisch Determinist. Dies ist auch dann der Fall, wenn er mit bloßen Wahrscheinlichkeiten zu tun hat. Der Hauptsatz Jacob Bernoullis,353 das »Gesetz der großen Zahlen«, läßt sich nur auf Grund deterministischer Voraussetzungen ableiten. Wenn ein so überzeugter Determinist wie Laplace, der von einer Weltformel träumen konnte, sich gelegentlich zu der Äußerung verleiten läßt, daß aus der Kombination von Zufälligkeiten die wunderbarste Regelmäßigkeit sich ergeben kann,354 so darf dies nicht so verstanden werden, als ob z.B. die statistischen Massenerscheinungen mit dem keinem Gesetz unterliegenden Willen vereinbar wären. Die Sätze der Wahrscheinlichkeitsrechnung gelten nur dann, wenn Zufälligkeiten durch Komplikationen verdeckte Regelmäßigkeiten sind.355 Nur dann können für gewisse Zeiträume gewonnene Mittelzahlen einen vernünftigen Sinn haben.356

12. Die Annahme von Beständigkeiten im allgemeinen schließt aber nicht die Annahme der Unfehlbarkeit einer solchen Annahme im einzelnen ein. Der Forscher muß im Gegenteil stets der Enttäuschung gewärtig sein. Er weiß ja nie, ob er alle für einen Fall in Betracht kommenden Abhängigkeiten schon berücksichtigt hat. Seine Erfahrung ist ja räumlich und zeitlich beschränkt, bietet ihm nur einen kleinen Ausschnitt des Weltgeschehens. Keine Tatsache der Erfahrung wiederholt sich vollkommen genau. Jede neue Entdeckung deckt Mängel unserer Einsicht auf, enthüllt einen bisher unbeachteten Rest von Abhängigkeiten. So muß also auch derjenige, welcher in der Theorie einen extremen Determinismus vertritt, praktisch doch Indeterminist bleiben, namentlich dann, wenn er sich nicht die wichtigsten Entdeckungen wegspekulieren will.

13. Die Wissenschaft besteht tatsächlich. Wissenschaft ist nicht möglich ohne eine gewisse, wenn auch nicht vollkommene[283] Stabilität der Tatsachen und eine dieser entsprechende, durch Anpassung sich ergebende Stabilität der Gedanken. Die letztere Stabilität läßt auf die erstere schließen, setzt die erstere voraus, ist von der ersteren ein Teil. Vielleicht gibt es keine vollkommene Stabilität. Jedenfalls reicht aber die Stabilität so weit, daß sie genügt, ein förderliches Ideal einer Wissenschaft zu begründen.357

14. Ist man so weit gelangt, auf die Abhängigkeit der Elemente voneinander zu achten und absichtlich nach derselben zu suchen, so ergibt sich die Methode, dieselbe zu finden, von selbst. Was voneinander abhängt, ändert sich im allgemeinen miteinander. Die Methode der sich begleitenden Veränderungen ist überall der Führer. Auf derselben beruhen die spärlichen Anweisungen des Aristoteles für den Forscher ebenso, wie die ausführlicheren Aufstellungen des Bacon. Indem J. F. W. Herschel die unauflösliche Verbindung von Ursache und Wirkung, sowie das Folgen der letzteren auf die erstere ins Auge faßt, ferner in Betracht zieht, daß die Verstärkung, das Verschwinden, die Umkehrung der ersteren dieselben Veränderungen der letzteren bedingt, stellt er die leitenden Regeln der Forschung auf.358 Die vielen Vorbehalte, zu welchen er sich gedrängt sieht, lassen deutlich erkennen, das er das Unzureichende der beiden Begriffe als erfahrener Forscher ganz wohl fühlt. Wie sollte auch ein Experimentator nicht wissen, daß der Parallelismus der Variation, der bei einfachen Abhängigkeiten meist359 zutrifft, nicht ohne weiteres auch für kompliziertere und vermittelte Abhängigkeiten vorausgesetzt werden[284] darf. Am ausführlichsten hat Mill360 die Anweisungen zur Forschung in schematischer Form dargestellt. Denkt man sich die Ursache und die Wirkung meßbar und aller Werte fähig, so ergeben sich alle Millschen Methoden als spezielle Fälle der Methode der sich begleitenden Veränderungen. Ist in dem Komplex A B C D das A die Ursache von D, so ist D in allen Komplexen vorhanden, in welchen A vorhanden ist (Methode der Übereinstimmung). Wird A = 0, so tritt statt des Komplexes A B C D der Komplex B C auf, in welchem auch D = 0 ist (Methode der Differenz). Durch andere Spezialisierungen ergeben sich auch die übrigen Methoden. Die leitenden Gedanken, die Schwierigkeiten und Komplikationen sind im wesentlichen dieselben bei Herschel und Mill. Whewell361 hat die Aufstellungen Mills und dessen Beispiele treffend kritisiert. Nutzlos ist die Schematisierung der Denkprozesse des Forschers, welche die Form derselben zum klaren Bewußtsein bringt, gewiß nicht; eine große Erleichterung der Forschung in besonderen Fällen darf man aber von derselben nicht erwarten. Die Schwierigkeit liegt ja vielmehr in der Auffindung der maßgebenden Elemente des Komplexes A B C D, als in der Form des Schlusses. Hat man aber auch, mit oder ohne Hilfe der Millschen Schemata, die Abhängigkeit eines Elementes D von einem andern A überhaupt erkannt, so ist hiermit, wie jeder Naturforscher weiß, nur das Al lervorläufigste erledigt; denn jetzt beginnt erst die wichtigste Arbeit, das Suchen nach der Art der Abhängigkeit. In den meisten Fällen kann man dem Millschen Schema nur dann einen guten Sinn abgewinnen, wenn man sowohl das A wie das D als einen ganzen Komplex von Elementen auffaßt. Der Forscher wird nun mit Rücksicht auf den Zweck und das Ziel der Forschung nach Möglichkeit solche Komplexe A und D in Untersuchung ziehen, die sich gegenseitig eindeutig bestimmen. Denn nur durch die Kenntnis solcher Komplexe ist er im stände, teilweise gegebene Tatsachen in Gedanken zu ergänzen, oder, wenn sich die Ergänzung auf[285] die Zukunft bezieht, zu prophezeien. Hierbei können ihm die Millschen Anweisungen kaum von Nutzen sein.

15. Mit dem Funktionsbegriff und der Methode der Veränderung ausgestattet betritt der Forscher seinen Weg. Was er sonst noch nötig hat, muß ihn die spezielle Kenntnis seines Gebietes lehren. Dafür lassen sich keine allgemeinen Anweisungen geben. Die Methode der Veränderung liegt sowohl der qualitativen als auch der quantitativen Untersuchung zu Grunde, wird in gleicher Weise beim Beobachten und beim Experiment verwendet und leitet nicht minder das Experimentieren in Gedanken, welches zur Theorie führt.[286]

340

Erhaltung der Arbeit Prag 1872. S. 35 u. f. – Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. S. 258.

341

Geiger, Ursprung und Entwickelung der menschlichen Sprache und Vernunft. Stuttgart 1868.

342

J. F. W. Herschel, The study of natural philosophy. London 1831. S. 35.

343

Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. S. 249.

344

A. a. O. S. 74-78. – Erhaltung der Arbeit. S. 35 u. f.

345

Ich habe irgendwo gelesen, daß ich »einen erbitterten Kampf« gegen den Begriff Ursache führe. Dies ist nicht der Fall, denn ich bin kein Religionsstifter. Ich habe diesen Begriff für meine Bedürfnisse und Zwecke durch den Funktionsbegriff ersetzt. Findet jemand, daß hierin keine Verschärfung, keine Befreiung oder Aufklärung liegt, so wird er ruhig bei den alten Begriffen bleiben; ich habe weder die Macht noch auch das Bedürfnis, jeden einzeln zu meiner Meinung zu bekehren. Als jemand verklagt wurde, daß er nicht an die Auferstehung glaube, soll Friedrich II. resolviert haben: »Wenn N. am jüngsten Tage nicht mit auferstehen will, so mag er meinetwegen liegen bleiben.« Diese Kombination von Humor und Toleranz ist im allgemeinen sehr empfehlenswert. Die nach uns kommen, werden sich einmal recht verwundern, worüber wir streiten, und noch mehr, wie wir uns dabei ereifern konnten.

346

Zu der letzteren Ausführung bin ich durch ein für mich lehrreiches kleines psychologisches Erlebnis veranlaßt worden. Ein Mann, ersichtlich kein Naturforscher, aber philosophisch und poetisch hochbegabt, gelangte zu der Ansicht, daß wie das Bild auf der Netzhaut Empfindung, so auch umgekehrt eine lebhafte Gesichtsvorstellung ein Netzhautbild hervorrufen müßte, welches auf irgend eine Art nachgewiesen werden könnte, und verlangte von mir die Ausführung dieses hoffnungslosen Versuchs. Der Funktionsbegriff hätte ihn kaum so irre leiten können, wie es hier der Ursachenbegriff getan hat.

347

Prinzipien der Wärmelehre. 2. Aufl. S. 432 u. f.

348

Vgl. F. J. Schmidt, Grundzüge der konstitutiven Erfahrungsphilosophie. Berlin 1901.

349

Beneke, System der Logik als Kunstlehre des Denkens. Berlin 1842. S. 23.

350

A. a. O. II. S. 282.

351

Vgl. Oelzelt-Newin, Kleinere philosophische Schriften. Wien 1901. (Naturnotwendigkeit und Gleichförmigkeit des Naturgeschehens als Postulate. S. 28-42.) Die Ausführungen des Verfassers stehen meiner Ansicht sehr nahe.

352

Prinzipien der Wärmelehre. S. 423 u. f.

353

Jac. Bernoulli, Ars conjectandi. Basel 1713.

354

Laplace, Essai philosophique sur les probabilités. 6me Ed. Paris 1840.

355

Analyse d. E. 4. Aufl. S. 65.

356

Fries, Kritik der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Braunschweig 1842.

357

Vgl. Erhaltung der Arbeit S. 46. Ferner: Petzoldt, Das Gesetz der Eindeutigkeit. Viertelj, f. wissensch. Philosophie, XIX. S. 146 u. f. – Endlich: Analyse der Empfindungen. S. 274.

358

Preliminary Discourse ect. S. 151 u. f.

359

Verwendet man den Funktions- statt des Ursachenbegriffes, so ist es sofort klar, daß zwei durch eine Funktionalbeziehung verbundene Variable nicht zugleich Null werden müssen, daß nicht einmal allgemein der Änderung der einen eine Änderung der andern entsprechen muß. Man denke etwa an die Temperatur und die elektromotorische Kraft der Berührungsstelle zweier Metalle, welche bei Temperatursteigerung zunimmt, dann abnimmt, Null wird und endlich sogar den Sinn umkehrt.

360

Mill, System der deduktiven und induktiven Logik. Deutsch von Th. Gomperz. Leipzig 1884.

361

Whewell, On the Philosophy of Discovery. London 1860. S. 238 bis 291.

Quelle:
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917, S. 275-287.
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