Empfindung, Anschauung, Phantasie.

[144] 1. Aus den Empfindungen und durch deren Zusammenhang entspringen unsere Begriffe und das Ziel der letzteren ist, uns in jedem gegebenem Fall auf den bequemsten und kürzesten Wegen zu sinnlichen Vorstellungen zu leiten, welche mit den Sinnesempfindungen in bester Übereinstimmung sich befinden. So geht alles intellektuelle Leben von den Sinnesempfindungen aus und kehrt wieder zu diesen zurück. Unsere eigentlichen psychischen Arbeiter sind die sinnlichen Vorstellungen, die Begriffe aber die Ordner und Aufseher, welche die Scharen der ersteren auf ihren Platz stellen, und ihnen ihr Geschäft anweisen. Bei einfachen Verrichtungen verkehrt der Intellekt unmittelbar mit den Arbeitern, bei größeren Unternehmungen aber mit den leitenden Ingenieuren, welche ihm jedoch nichts nützen würden, wenn er nicht auch für die Beistellung verläßlicher Arbeiter gesorgt hätte. Schon das Tier ist durch sein Vorstellungsleben davon befreit, den Eindrücken des Augenblicks ganz zu unterliegen. Wenn die Vorsorge des kultivierten Menschen für die Zukunft über jene des Wilden hinausgeht, wenn der erstere für Ziele arbeitet, welche sogar weit über das eigene Leben hinausreichen, so ist er hierzu durch seine Begriffe und den Reichtum derselben angeordneten Vorstellungen befähigt. Wie sehr aber der Verkehr mit Begriffen jenem mit sinnlichen Vorstellungen an Unmittelbarkeit nachsteht, erfahren wir häufig genug. Einem Unglücklichen, mit dem wir persönlich zusammentreffen, verweigern wir nicht leicht die Hilfe, während uns ein gedruckter Aufruf zur Hilfeleistung, den wir lesen, doch sehr besonnen findet. Der platonische Sokrates erklärt gelegentlich die Tugend für ein Wissen. Allein sie muß ein Wissen sein, das nicht immer sehr lebendig ist. Wenige Verbrechen würden ja begangen, wenn deren Folgen[144] immer lebhaft und deutlich vorgestellt würden. Wir würden nicht das Elend mit Luxus zudecken, nicht für die Leidenden tanzen, oder einen Blumenkorso veranstalten, wenn der Unterschied des Begriffs und der sinnlichen Vorstellung nicht bestünde. Der geizige Rentner befiehlt den armen Schnorrer vor die Türe zu setzen, »denn er zerbricht ihm durch seine Klage das Herz«. Mit dem Begriff des Elends weiß er sich besser abzufinden.195 Die Sinnesempfindungen sind eben die eigentlichen ursprünglichen Motoren, während die Begriffe sich auf jene, oft nur durch andere begriffliche Zwischenglieder berufen.

2. Alles, was der Mensch vor der Verwendung von Werkzeugen von der Natur erfahren konnte, haben ihm direkt die Sinne verraten. Dies spricht sich noch deutlich genug aus in der heutigen, historisch hergebrachten, nicht mehr konsequenten und nicht zureichenden Einteilung der Physik. Sobald aber Werkzeuge in Verwendung kommen, kann nach Spencers196[145] Auffassung jeder Beobachtungsapparat als eine künstliche Erweiterung der Sinne, jede Maschine als eine künstliche Ausdehnung der Bewegungsorgane aufgefaßt werden. Dieser natürliche Gedanke scheint sich mehrmals dargeboten zu haben. Viel später als Spencer, wohl unabhängig von demselben, aber leider in recht phantastischer Form, wurde derselbe ausführlich dargelegt von E. Kapp.197 Eine an interessanten und instruktiven Einzelheiten reiche Ausführung verdanken wir O. Wiener.198

3. Ohne der Darstellung von Wiener genau zu folgen, wollen wir hier einige wichtige Gesichtspunkte herausheben. Die Sinnesorgane sind im allgemeinen sehr empfindliche Organe, was darauf beruht, daß dieselben physikalische Reize nicht bloß wie leblose Objekte aufnehmen, sondern daß diese Reize in den Organen aufgespeicherte und bereitliegende Energieen auslösen, wie dies bei physikalischen Apparaten nur ausnahmsweise etwa beim Mikrophon, Telegraphen-Relais u.s.w. vorkommt. Das Auge und das Ohr wird ungefähr durch ein Hundertmillionenteil eines Erg199 in einen merklichen Reizzustand versetzt, welche Arbeit eben auch genügt, um bei den empfindlichsten Wagen einen sichtbaren Ausschlag zu bewirken. Das Auge ist hundertmal so empfindlich als die empfindlichste photographische Platte. Wenn wir ein Gewicht von 100-1000 Gramm auf der Hand liegen haben, so empfinden wir ungefähr eine Verminderung desselben um 30% unmittelbar durch den Drucksinn, und beim Auf- und Abbewegen der Hand kann diese Unterschiedsempfindlichkeit[146] bis zu etwa 10% gesteigert werden. Die empfindlichsten Wagen zeigen aber bei 1 kg Belastung noch 1/200 mg, also 1/2 · 1/108 der Belastung an. Die Töplersche Libellenwage zeigt Druckunterschiede an, die 1/108 einer Atmosphäre betragen. Das Auge kann zwei Striche von 1/40 mm Abstand in 10 cm Entfernung eben noch unterscheiden. Mit dem Mikroskop gelingt aber die Auflösung noch bei 1/7000 mm Abstand. Durch Benützung der Lichtwellenlängen können noch weit kleinere Distanzen geschätzt werden. Wenn durch das bloße Ohr noch ein Zeitunterschied von 1/500 Sekunden zwischen zwei elektrischen Funken bemerkt werden kann, so erlaubt das Wheatstone-Feddersensche Verfahren des rotierenden Spiegels dagegen noch auf optischem Wege Zeitmessungen bis zu 1/108 Sekunde. Unser Wärmesinn empfindet einen Temperaturunterschied von etwa 1/5 Grad Celsius. Nach der bolometrischen Methode von Langley und Paschen gelingt es, Temperaturunterschiede von 1/106 Grad Celsius nachzuweisen. Die Empfindlichkeit der Sinnesorgane kann also durch physikalische Apparate in manchen Beziehungen erreicht, in anderen sehr bedeutend überschritten werden. Der Physiker gelangt hierdurch zur Kenntnis so feiner Abstufungen der Reaktionen, wie sie ihm ohne diese Mittel stets unbekannt bleiben müßten.

4. Die Physik kennt aber auch Mittel, einen Sinn durch den anderen vertreten zu lassen. Durch optische Vorkehrungen können wir Schallvorgänge sichtbar und umgekehrt Lichtprozesse hörbar machen. Man denke an die verschiedenen vibroskopischen Methoden, an die Sichtbarkeit der Luftwellen im Schlierenapparat, an das Photophon u.s.w. Die Wärme verrät sich unmittelbar nur dem Tastsinn,200 mit Hilfe des Thermometers aber auch dem Auge. Selbst Vorgänge, welche unmittelbar sich gar keinem unserer Sinne offenbaren würden, wie sehr schwache elektrische Ströme oder Schwankungen der magnetischen Intensität, die wir weder sehen, noch hören, noch tasten könnten, machen wir durch das Galvanometer und Magnetometer dem Gesichtssinn zugänglich, der überhaupt meist eintritt, wo es sich um sehr feine Reaktionen handelt. Nun dürfen wir freilich[147] nicht vergessen, daß Vorgänge, die sich wirklich streng jedem unserer natürlichen Sinne entziehen würden, ewig unentdeckt und unentdeckbar bleiben müßten. Es handelt sich also bei Anwendung künstlicher Mittel genau genommen immer nur um Auffindung von zahlreicheren, mannigfaltigeren und feiner abgestuften Reaktionen, welche in eines der Gebiete unserer natürlichen Sinne hereinragen.

5. Um diese Betrachtung zu ergänzen, denken wir uns z.B. eine Orange, dann einen Kochsalzwürfel, Platin und Luft. Der erste dieser Körper reagiert ohne irgend welche künstliche Veranstaltungen auf alle Sinne, beim zweiten fehlt die Geruchs-, beim dritten auch die Geschmacksreaktion. Die Luft ist für uns auch unsichtbar; wir fühlen sie höchstens warm oder kalt, und bei starker Bewegung reizt sie den Tastsinn nur noch als Wind. Von ihrer Körperlichkeit überzeugen wir uns erst recht durch künstliche Einschließung derselben in einen Schlauch, welches Verfahren in der Tat zu den ältesten physikalischen Experimenten gehört. Durch künstliche Vorkehrungen können nun bei jedem der genannten Körper noch verschiedene Reaktionen hervorgerufen werden, welche denselben charakterisieren. Die Körper sind also nichts weiter als Bündel gesetzmäßig zusammenhängender Reaktionen. Dasselbe gilt von Vorgängen jeder Art, die wir unserem Übersichtsbedürfnis entsprechend klassifizieren und benennen. Ob es sich um Wasserwellen handelt, die wir mit dem Auge und mit dem Tastsinn verfolgen, oder um Schallwellen in der Luft, die wir nur hören und nur künstlich sichtbar machen können, oder um einen elektrischen Strom, der überhaupt fast nur in künstlich herbeigeführten Reaktionen zu verfolgen ist, immer ist der gesetzmäßige Zusammenhang der Reaktionen, und dieser allein, das Beständige. Dies ist der kritisch geläuterte Substanzbegriff, welcher wissenschaftlich an die Stelle des vulgären zu treten hat. Der vulgäre Substanzbegriff, welcher im gewöhnlichen Hausgebrauch nicht nur ganz unschädlich, sondern sogar bei Handgriffen sehr nützlich ist – er wäre ja sonst nicht instinktiv entstanden – spielt in der wissenschaftlichen Physik dieselbe trügerische Rolle wie das »Ding an sich« in der Philosophie.

6. Im Verlauf des obzitierten Vertrages gelangt Wiener zur[148] Fiktion von intelligenten Wesen mit von den unsrigen verschiedenen Sinnen. Nervenorgane, von hinreichend intensiven magnetischen Körpern umgeben, würden z.B. einen magnetischen Sinn vorstellen, wie ein solcher künstlich gelegentlich bei Krebsen von Kreidl wirklich dargestellt worden ist.201 Das Auge könnte z.B., statt für die kurzwelligen, für die ultraroten Strahlen empfindlich sein. Dann könnten Fernrohre mit Hartgummilinsen zur Verwendung kommen u.s.w. u.s.w. Durch solche ansprechende, auch mir sympathische Betrachtungen, denkt Wiener von der besonderen Natur unserer Sinne sich unabhängig machen zu können, und eine Aussicht auf eine einheitliche physikalische Theorie zu gewinnen. Meine Meinung über diesen Punkt ist folgende. Ich denke mir alle organischen Wesen, wenigstens auf der Erde, sehr nahe verwandt, demnach die Sinne des einen als bloße Variationen der Sinne des anderen. Die Empfindungen unserer gegenwärtigen natürlichen Sinne werden wohl immer die Grundelemente unserer psychischen und physischen Welt bleiben. Das hindert aber nicht, daß unsere physikalischen Theorien von der besondern Qualität unserer Sinnesempfindungen unabhängig werden. Wir treiben Physik, indem wir Variationen des beobachtenden Subjekts ausschließen, durch Korrektionen entfernen, oder in irgend einer Weise von denselben abstrahieren. Wir vergleichen die physikalischen Körper oder Vorgänge untereinander, so daß es nur auf Gleichheit und Ungleichheit einer Empfindungsreaktion ankommt, die Besonderheit der Empfindung aber für die gefundene Beziehung, die in Gleichungen ihren Ausdruck findet, nicht mehr von Belang ist. Hierdurch gewinnt das Ergebnis der physikalischen Forschung Gültigkeit nicht nur für alle Menschen, sondern selbst für Wesen mit anderen Sinnen, sobald sie unsere Empfindungen als Anzeigen einer Art physikalischer Apparate betrachten.202 Dieselben würden nur für diese Wesen keine direkte Anschaulichkeit haben, sondern müßten hierzu in ihre Sinnesempfindungen übersetzt werden, etwa so, wie wir uns Unanschauliches durch graphische Darstellung veranschaulichen.[149]

7. In den vorstehenden Ausführungen haben wir unser Augenmerk hauptsächlich auf die einzelnen Empfindungen und deren Bedeutung gerichtet. Das ganze System der räumlich und zeitlich geordneten Empfindungen, welche uns der Gesichtssinn vorführt, der uns z.B. die ganze Anordnung der Körper oder deren Bewegung gegeneinander in einem Blick erkennen läßt, nennen wir vorzugsweise Anschauung. Der Name trägt deutlich sein Ursprungszeugnis an sich. Für den Sehenden ist ja die Gesichtsanschauung die wichtigste, durch die er am meisten und vieles auf einmal erfährt. Hoch intelligente Blinde, z.B. der Geometer Saunderson, belehren uns jedoch darüber, daß man auch durch den Tastsinn rasch eine geordnete Übersicht gewinnen kann, für welche der Name Tastanschauung passend wäre. Gewandten Musikern wird man eine Art anschaulicher Übersicht der zeitlichrhythmischen Bewegungen, der Verteilung und des Fortschreitens der Stimmen im Tongebiet oder im Tonraum nicht absprechen können. Von den beiden hervorragenden Künstlern im Kopfrechnen Inaudi und Diamandi gehörte der erstere dem auditiven, der letztere dem visuellen Typus203 an. Der erstere hatte seine Kunstübungen begonnen, als er noch nicht lesen konnte, er stellte sich die Zahlen durch das Gehör vor. Der andere hatte bei Beginn seiner Übungen schon die Schule besucht und Schreiben gelernt. Ordnete man Zahlen in horizontale Zeilen, die man so untereinander setzte, daß deren Ziffern auch vertikale Kolumnen bildeten, und las man dieselben zeilenweise vor, so wußte Diamandi sofort auch die Ziffern aus dem Gedächtnis anzugeben, welche eine Kolumne bildeten, denn er sah die Zahlen in Ziffern räumlich angeordnet vor sich. Inaudi hingegen brachte dies nur mit einiger Mühe zu stande, denn er hörte im Geiste die Zahlen nacheinander nennen, und mußte diese zeitliche Reihe sozusagen erst in Stücke teilen, die er untereinander setzte. Diamandi hatte eine visuelle räumliche, Inaudi eine auditive zeitliche Anschauung. Wir lassen es dahingestellt, ob etwa auch in anderen Sinnesgebieten, z.B. bei hoch entwickeltem Geruchssinn (Hunde, Ameisen,) wie Forel meint, etwas Analoges möglich sei.

8. Darüber ist kein Zweifel, daß nach der einzelnen Empfindung[150] zunächst die Anschauung die Vorstellungen und die Handlungen in Bewegung gesetzt hat, als noch das begriffliche Denken sehr im Rückstand war. Die Anschauung ist organisch älter und stärker fundiert, als das begriffliche Denken. Wir übersehen mit einem Blick die Plastik eines Terrains, bewegen uns ohne weiteres dem entsprechend, weichen einem rollenden Stein aus, reichen einem fallenden Gefährten die Hand, ergreifen einen uns interessierenden Gegenstand, ohne daß wir nötig haben, dies alles zu überlegen. An dem Anschaulichen entwickeln sich die ersten klaren Vorstellungen, die ersten Begriffe, das erste Denken. Wo es also immer möglich ist, das begriffliche Denken durch die Anschauung zu stärken, da wird dies mit Vorteil geschehen. Man stützt hierbei die individuellen neuen Erwerbungen auf die alten erprobten Erwerbungen der Art.

9. Die graphischen Künste, insbesondere die Photographie und Stereoskopie ermöglichen heute einen Reichtum von Anschauungen zu gewinnen, welcher vor einem halben Jahrhundert nur mit dem größten Aufwand zu erlangen war. Ferne Länder, deren Völkertypen und Architekturen, Scenen des tropischen Urwaldes und der eisigen Polargegenden treten mit gleicher Lebendigkeit vor unsere Augen. Die Farbenphotographie, der Kinematograph werden die Natürlichkeit noch steigern und der Phonograph wird auf akustischem Gebiete mit seinen optischen Vorbildern wetteifern. Die Wissenschaft hat auch die Mittel gefunden, Objekte, welche der natürlichen Anschauung unzugänglich sind, dennoch in das Gebiet derselben zu ziehen. Die Momentphotographie fixiert jede Phase einer für die direkte Beobachtung zu raschen Bewegung, sie annulliert die Geschwindigkeit, läßt das Objekt sozusagen erstarren. Marey, Anschütz, Muybridge haben die Phasen der Bewegungen der Tiere fixiert. Sogar die Bilder von Schallwellen, fliegenden Projektilen u.s.w. sind durch feinere Methoden festgehalten worden. Die Methode der Serienbilder, seit langer Zeit in der speziellen Form der stroboskopischen Methode zur Beobachtung rascher periodischer Bewegungen angewandt, läßt eine dreifache Verwertung zu. Es gibt Bewegungen, deren Geschwindigkeit im Bereich unserer natürlichen Anschauung liegt. Der Kinematograph reproduziert sie mit der ihr eigentümlichen Geschwindigkeit. Bewegungen, die zu rasch vorgehen,[151] um gesehen zu werden, wie die Flugbewegungen der Insekten, die Schallschwingungen u.s.w. können mit Hilfe der Serienbilder beliebig verlangsamt werden. Veränderungen hingegen, welche zu langsam vorgehen, um direkt gesehen zu werden, wie das Wachstum einer Pflanze, eines Embryo, einer Stadt u.s.w. kann man mit Hilfe der Serienbilder kinematographisch in beliebiger Geschwindigkeit ablaufen sehen. Man denke sich die Änderungen einer wachsenden Pflanze mit allen ihren geotropischen und heliotropischen Bewegungen in gesteigerter Geschwindigkeit, die Bewegungen eines Tieres in entsprechender Langsamkeit vorgeführt, so muß der Eindruck des Tierischen und Pflanzlichen geradezu sich vertauschen. Die kinematographische Vorführung eines Kindes, welches heranwächst, aufblüht, reift und als Greis verfällt, könnte in ihrer Wirkung durch keine noch so ergreifende Bußpredigt übertroffen werden.

10. Der Gegensatz zwischen zeitlicher Verlängerung und Verkürzung ist analog jenem zwischen räumlicher Vergrößerung und Verkleinerung. Dem hochgeschätzten Mikroskop gegenüber steht die wenig beachtete aber ebenso wichtige bildliche Verkleinerung für unser Gesichtsfeld zu großer Objekte, wie wir sie z.B. in der geographischen Kartendarstellung üben. Auch in diesem letzeren Falle bringen wir schwerfällig begrifflich erkannte Objekte in den Bereich der bequemen geläufigen Anschauung. Die Stärkung des abstrakten Denkens durch Kurven zeichnende Registrierapparate verwenden wir schon beim Experimentieren, und ebenso bei Darstellung bereits gewonnener Ergebnisse durch Kurven, geometrische Konstruktionen u.s.w.204 Ein einziges Beispiel genügt, um den Wert der Eroberung eines Gebietes für die Anschauung fühlbar zu machen. Man weiß, welche Mühe Kepler aufwenden mußte, um aus einzelnen begrifflichen Daten die elliptischen Planetenbahnen zu konstruieren. Kaum mehr als ein Blick hätte genügt, das Richtige zu erraten, wenn diese Bewegungen anschaulich in verkleinertem Raum- und Zeitmaßstab gegeben gewesen wären.

11. Aus der Anschauung schöpft die Erinnerung. Wenn bei einem zufälligen Anlaß mir das Bild des kleinen glattrasierten[152] graugelockten Herrn auftaucht, der nach allen Seiten freundlich grüßend zur Table d'hôte hereinkommt, wenn ich von verschiedenen Seiten flüstern höre: Ein deutscher Professor! Voila un professeur allemand! Aoh! a German professor! wenn alles in der Vorstellung, wesentlich in der Verbindung auftritt, in der ich es erlebt habe, so nenne ich dies eine Erinnerung. Haben sich aber durch viele verschiedene Erlebnisse mannigfaltige associative Verbindungen unter den Elementen der Anschauung hergestellt, und dadurch die einzelnen gelockert, so können sich durch Nebeneinflüsse verschiedene dieser Verbindungen kombinieren, welche in den sinnlichen Erlebnissen sich noch nie zusammen gefunden hatten, und jetzt in der Vorstellung zum erstenmal beisammen sind. Solche Vorstellungen nennen wir Phantasievorstellungen. Wenn ich nur einen Hund in meinem Leben gesehen hätte, und mir jetzt einen Hund vorstelle, so würde derselbe wahrscheinlich alle Merkmale an sich tragen, welche bei der Beobachtung dieses Hundes meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen sind. Ich habe aber unzählige verschiedene Hunde und auch hundeähnliche andere Tiere gesehen. Infolgedessen ist wohl der Hund, den ich mir vorstelle, von jedem Hund verschieden, den ich je gesehen habe. Ein Wirt wählt das Schild »Zum blauen Hund«. Sein Schild ist ein Hund von Holz. Nun soll er Farbe bekommen. Der Wirt hat aber beim Anstreicher viele Töpfe mit verschiedenen Farben nebeneinander gesehen, und will etwas Auffallendes haben. So entsteht also seine »Phantasieschöpfung« durch Kombination von Associationen, welche verschiedenen Erlebnissen angehören. Diese einfachen Betrachtungen lehren, daß eine absolut scharfe Grenze zwischen Erinnerung und Phantasie nicht zu ziehen ist. Kein Erlebnis steht so allein, daß andere Erlebnisse die Erinnerung an ersteres nicht beeinflussen könnten. Jede Erinnerung ist »Dichtung und Wahrheit«. Anderseits werden die Erinnerungselemente in den Phantasievorstellungen meist nachzuweisen sein.

12. Ein Kind erblickt einen Hinkenden. »Der arme Mann ist auf einem großen Pferd gesessen, herabgefallen und hat sein Bein an einem Stein verletzt.« Diese Phantasiegeschichte eines 3 1/2 Jahre alten Kindes kombiniert sich leicht aus dessen Erinnerungen. Ein anderes 3jähriges Kind wünscht wie ein Fisch im Wasser oder[153] wie ein Stern am Himmel zu leben, und ist eben so phantasiereich wie jenes, das eine Bohrung in einem zufällig gefundenen Stein von Feen bewohnt sein läßt. Ob es als Phantasieschöpfung anzusehen ist, wenn ein Kind einen Flaschenstöpsel eine »Türe«, eine kleine Münze ein »Dollarkind« nennt, bei Anblick betauten Grases ausruft: »Der Rasen weint«, ist mir nach Erfahrungen an meinen eigenen Kindern recht fraglich.205 Das Kind im Stadium der Sprachentwicklung hat wenig Worte, und spricht wie der Wilde poetisch aus Not, indem es durch jede Ähnlichkeit zur Übertragung von Wortbedeutungen veranlaßt wird. Ganz ähnlich wie die kindliche Phantasie setzt der Wilde seine Kosmogonien aus den ihm aus der Erinnerung vertrauten Elementen zusammen. Riesige Frösche, Kröten, Spinnen und Heuschrecken spielen darin eine Rolle. Bei Stämmen, welche an der See oder an großen Flüssen leben, beteiligen sich kolossale aus der Tiefe auftauchende Fische oder Schildkröten an der Herstellung der gegenwärtigen Weltordnung. Wenn ein kleines Mädchen, als Tochter eines Ökonomen mit dem Hühnerhof vertraut, die Frage hören läßt: »ob die Sterne die Eier seien, welche der Mond gelegt hat?«, so ist dies ein schönes Beispiel für die Art der Bildung naiver Kosmogonien.206 So sehen wir, daß bei den Ägyptern, einem Volke, welches die Töpferei sehr früh auf eine hohe Stufe gebracht hat, Gott Ptah auf der Töpferscheibe das Ei bildet, aus welchem sich die Welt entwickelt.207 Man braucht sich nur der eigenen Jugend zu erinnern, um es zu begreifen, daß bei dem gänzlichen Fehlen einer soliden Erfahrungsgrundlage für das Weltverständnis, notwendig die Phantasie gut oder übel die Lücke ausfüllen und das Bedürfnis decken muß.

13. Wer die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft kennt, oder wer an der Forschung teilgenommen hat, wird nicht bezweifeln, daß die wissenschaftliche Forscherarbeit eine recht starke Phantasie erfordert. Die Art der Phantasie ist allerdings etwas verschieden von jener des Künstlers, auf welche wir nachher noch zu sprechen kommen. Betrachten wir zunächst die Tätigkeit des forschenden[154] Experimentators in einigen Beispielen. Jedem Zeitgenossen Galileis war es bekannt, daß der Schall sich langsamer fortpflanzt als das Licht, da man das Aufschlagen des Hammers eines in der Entfernung arbeitenden Zimmermanns zuerst sieht und erst später hört. Hier dient das unvergleichlich schnellere Licht als Zeitmarke des Abganges des Schalles. Um die Lichtgeschwindigkeit zu bestimmen, ist dies Verfahren nicht anwendbar. Wie soll man die Zeit des Lichtabganges markieren? Galilei denkt sich das Licht von einem Beobachter A, bei plötzlich abgedeckter Laterne, einem fernen Beobachter B, und von diesem durch Abdeckung seiner Laterne wieder zum Beobachter A zurückgesendet, so daß A selbst sowohl die Abgangs- als Ankunftszeit bei Durchlaufen der Strecke 2 AB markieren kann. Diese geniale Anordnung entstand durch die kombinierende, allen Bedingungen Rechnung tragende Phantasie. Vielleicht hat die Erinnerung an das Echo hierbei mitgewirkt. Obgleich Galilei selbst den Versuch wegen der großen Lichtgeschwindigkeit als unausführbar erkannte, so konnte doch Fizeau, mehr als 200 Jahre später, seine Phantasiearbeit fortsetzen. Er dachte sich statt des Beobachters B einen nach A zurückreflektierenden Spiegel, in A ein regelmäßig rotierendes Zahnrad, welches den Lichtabgang und die Lichtrückkehr in A gleich exakt markiert, in A und B Fernrohre zur Verminderung der Lichtverluste. Das lebhafte Interesse für das Ziel hält die Associationen in Bewegung, und die Vergegenwärtigung der zu erfüllenden Bedingungen bewirkt die Auslese der für den Zweck brauchbaren Associationen, aus deren Kombination das Phantasieprodukt hervorgeht.208 – Blitz und Knall des elektrischen Funkens erregen Franklin die Vermutung, daß Blitz und Donner elektrischer Natur seien. Es entsteht der lebhafte Wunsch, dieser vermuteten Elektrizität habhaft zu werden. Aber wie das anfangen? Eine leitende Stange reicht nicht; einen babylonischen Turm kann er nicht bauen. Da fällt ihm ein, daß es Papierdrachen gibt, welche im Winde steigen. Er versieht einen solchen Drachen mit einer metallenen Spitze, mit einer Hanfschnur mit einem Schlüssel am unteren Ende, und läßt den Drachen bei Herannahen eines Gewitters steigen, indem er[155] zwischen die Hanfschnur und seine Hand ein Stück einer seidenen Schnur einschaltet. In der Tat wird die Hanfschnur durch den Regen leitend. Franklin kann aus dem Schlüssel Funken ziehen, mit denselben Flaschen laden, das »elektrische Feuer« auf Flaschen füllen. Ein Fesselballon könnte heute den Drachen vertreten. – Von solchen durch die Phantasie herbeigeschafften Hilfsmitteln des Experimentes mögen noch erwähnt werden Newtons Kombination von Konvexlinse und Planglas, welche alle Farben dünner Plättchen zugleich darbietet und die jeder Farbe entsprechende Dicke leicht zu bestimmen gestattet, Sauveurs Reiter zum Nachweis der Schwingungsknoten, Wheatstones rotierender Spiegel, Königs akustische Flammenzeiger u.s.w.

14. Schon in den zuvor erwähnten Fällen der Lösung experimenteller Aufgaben, haben wir nicht bloß mit sinnlichen Vorstellungen zu tun, sondern auch mit Begriffen. Hat man sich einmal geläufige Begriffe erworben, welche durch Worte, Zeichen, Formeln, Definitionen fixiert sind, so stellen diese Begriffe eben auch Objekte des Gedächtnisses, der Erinnerung, der Phantasie vor. Man kann auch in Begriffen phantasieren, das Gebiet derselben an dem Faden der Association durchwühlen, und den Bedingungen der Aufgabe gemäß eine kombinierende Auslese treffen. Dies geschieht besonders bei Lösung einer der Theorie angehörigen Aufgabe, wenn man das Begriffsgebilde erschaut, welches alles durchleuchtet, den Schlüssel zur Lösung gibt. Bei seinen hydrostatischen Untersuchungen bemerkt Stevin, daß die Erstarrung eines beliebigen Teiles der im Gleichgewicht befindlichen Flüssigkeit dieses Gleichgewicht nicht stört, dagegen eine Reihe hydrostatischer Aufgaben auf bereits gelöste Aufgaben der Statik starrer Körper zurückführt. – Die Keplerschen Gesetze sind gefunden, und Newton geht daran, das Rätsel derselben zu lösen. Die krumme Bahn der Planeten (Gesetz 1) weist ihn auf eine von einem Punkte innerhalb der Bahn ausgehende Anziehungskraft hin. Das für die Sonne gültige 2. Sektorengesetz bestimmt genauer die Sonne als diesen Punkt. Das 3. Gesetz r3/t2 = konst., wobei r die Entfernung, t die Umlaufszeit des Planeten bedeutet, stimmt mit dem Huygensschen Ausdruck für die Zentralbeschleunigung φ = 4r π2/t2 nur, wenn φ = k/r2. Eine dem Quadrat der Entfernung verkehrt proportionale Zentralkraft[156] löst also das ganze von Kepler aufgegebene Rätsel.209 – Die Gesetze der Reflexion und Brechung des Lichtes klären sich für Huygens durch die Vorstellung des Zusammenwirkens von Elementarwellen, deren Geschwindigkeit durch das Medium bestimmt ist. – Die Malusschen quantitativen Gesetze der Lichtpolarisation, die Analogie der Farben doppeltbrechender Kristallplatten mit den Farben dünner Plättchen, die Biotschen Formeln für erstere, werden sämtlich aufgeklärt und in Zusammenhang gebracht durch die Young-Fresnelsche Konzeption der Transversalschwingungen des Lichtes in Verbindung mit dem Begriff der Kohärenz.

15. Das Gesetz der Association hat sich ausreichend gezeigt, die hier betrachtete Tätigkeit der wissenschaftlichen Phantasie zu durchleuchten. Die künstlerische Phantasie weist aber in ihren Äußerungen gewisse Eigentümlichkeiten auf, zu deren Darstellung wir etwas weiter ausholen müssen. Die Association beschränkt sich nicht auf die Vorgänge des Bewußtseins, auf die Vorstellungen. Überhaupt alle Vorgänge des Organismus, welche öfter miteinander aufgetreten sind, zeigen eine Tendenz sich dauernd zu verbinden. So associieren sich Bewegungen durch Übung miteinander, es treten auch associativ Sekretionen auf u.s.w. Die Association ist die temporär erworbene Verbindung verschiedener organischer Funktionen miteinander, die temporär erworbene Erregung einer organischen Tätigkeit durch eine andere, die zeitliche Anpassung der Teile des Organismus aneinander im Dienste des Ganzen und durch die Umstände des individuellen Lebens. Allein die Verbindung der Organe, welche eine solche Wechselwirkung ermöglicht, entsteht nicht erst durch das individuelle Leben, sondern sie ist dem Organismus schon als ererbter Besitz wenigstens großenteils auf den Lebensweg mitgegeben. Hiermit ist schon ein Bestand von Wechselwirkung gegeben (z.B. die Reflexbewegungen), welcher Bestand im Laufe der organischen Entwicklung (Pubertät) noch weiter sich vermehrt, und der durch die temporären Erwerbungen des individuellen Lebens nur modifiziert werden kann. Mit den temporär erworbenen Associationen allein kann also die Psychologie nicht für alle Fälle[157] auskommen.210 Das Leben auf Grund bloßer Associationen im gewöhnlichen Sinn wäre gar nicht möglich. Wir haben ferner zu bedenken, daß die Organe zwar für einander da sind und einander dienen, daß aber jedes doch auch sein besonderes selbständiges Leben führt. Dieses Leben äußert sich in dessen spezifischen Energieen,211 die zwar durch die Erregung von außen oder durch andere Organe modifiziert werden können, im ganzen aber einen bestimmten Charakter haben, und die sich gelegentlich auch selbständig bemerklich machen. So kann das Gesichts- oder Gehörsorgan, oder jedes andere Sinnesorgan die Empfindungen, welche es gewöhnlich unter dem Einfluß physikalischer Reize entwickelt, unter eigentümlichen noch näher zu erforschenden Lebensbedingungen selbständig als Hallucinationen produzieren, so kann die Hirnrinde fixe Ideen produzieren, so kann ein Muskel auch ohne willkürliche Innervation sich kontrahieren, eine Drüse ohne den gewöhnlichen Anlaß secernieren. Die Hallucinationen sind es ja, die uns recht eigentlich die Empfindungen als Zustände des eigenen Leibes kennen lehren. Die einseitige Überschätzung dieser Erkenntnis dient dann ebenso einseitigen philosophischen (solipsistischen) Systemen zur Grundlage.

16. Die Gesichtshallucinationen, in welchen sich die selbständigen spontanen Lebensäußerungen des Gesichtssinns aussprechen, hat Johannes Müller212 eingehend studiert und anschaulich beschrieben. Lebhaft gefärbte Gestalten, z.B. von Pflanzen, Tieren, Menschen, treten im Gesichtsfelde auf und ändern sich ohne unser Zutun durch allmähliche Umbildung. Diese Gestalten sind Neubildungen, keine Erinnerungsbilder vorhergesehener Objekte, und nicht durch Gedanken an diese hervorgerufen. Der Wille hat keinen nachweisbaren Einfluß auf dieselben. Müller benützt den Anlaß, um die Wertlosigkeit der Associationsgesetze zu betonen. Das ist aber entschieden zu weit gegangen. Gewiß[158] kann, was spontan hervortritt, sich auch spontan ändern. Die Phantasmen widersprechen aber nicht den Associationsgesetzen, wenn deren Bildung auch nicht nach denselben allein verständlich ist; sie gehören eben einer andern Klasse von Erscheinungen an. Dafür sind uns die Associationsgesetze in vielen Gebieten wertvolle Führer. Es gibt übrigens eine Art von Phantasmen, die sich an unmittelbar zuvor Gesehenes genauer anschließen; es sind die besonders von Fechner213 beschriebenen Erscheinungen des Sinnengedächtnisses. Wenn wir uns mit einer Art von Gesichtsobjekten andauernd beschäftigt haben, so treten uns die Bilder derselben, namentlich im Halbdunkel, blitzartig, aber ohne Änderung und mit voller Objektivität entgegen. Diese sind den zuvor gesehenen Objekten sehr ähnlich, wenn auch vielleicht nicht mit denselben identisch.214 Wenn wir Objekte bei schwacher Beleuchtung durch Illusion modifiziert sehen, so deutet dies darauf, daß die extremen Prozesse: spontane Phantasmen und durch physikalische Reize bestimmte Bilder in allen Verhältnissen kombiniert vorkommen können. Ebenso scheinen alle Zwischenstufen zwischen Empfindung und Vorstellung zu bestehen. Halten wir nun fest, daß eine Vorstellung gewöhnlich durch die andere erregt wird, unter besonderen Umständen aber auch spontan hervortreten kann, so wird dies mit den bisher bekannten Tatsachen in gutem Einklang stehen.215

17. Sogenannte frei steigende Vorstellungen, plötzliche lebhafte Erinnerungen an einmal Gesehenes, an irgendwann gehörte Melodieen u.s.w., ohne daß man den associativen Anknüpfungspunkt in den vorausgehenden Gedanken oder in der augenblicklichen[159] Situation aufzufinden vermag, hat wohl jeder schon beobachtet. Herbart kannte die Erscheinung und suchte sie in seiner Weise zu erklären. Dieselbe scheint den Hallucinationen verwandt zu sein. Wenn man aber die Association in einem weiteren Sinne nimmt, wenn man sich vorstellt, daß eine Associationsreihe auch mit unbewußten Vorgängen beginnen oder endigen kann, so hat man nicht nötig, jede scheinbar frei steigende Vorstellung als die Associationsgesetze wirklich durchbrechend anzusehen. Mit denselben körperlichen bewußten oder unbewußten Zuständen können auch dieselben Vorstellungen sich einstellen. Diese Auffassung scheint mir die interessanten Beobachtungen von Swoboda216 von einer neuen Seite zu beleuchten und mit den Ansichten von R. Semon217 gut zu stimmen.

18. Als Merkmal der künstlerisch produzierenden Phantasie wird gewöhnlich die spontane mühelose Neubildung ihrer Schöpfungen angesehen, welche die einfache Nachahmung des Erlebten ausschließt. Hierzu kommt die Plötzlichkeit, mit der wenigstens die Grundzüge der Schöpfung sich entweder geradezu als Hallucination oder in nahe verwandter Form dem Künstler darbieten. In den Schriften über Phantasie, namentlich in dem oben zitierten originellen und ansprechenden Buch von Oelzelt-Newin, werden zahlreiche Beispiele dieser Art angeführt. Um aber nicht als Regel anzusehen, was zuweilen eintreten mag, und um nicht Übertreibungen an Stelle nüchterner wissenschaftlicher Auffassung zu setzen, frage man sich, ob man es für möglich hält, daß ein Beethoven oder Raphael unter Wilden aufgetreten wäre? Da wird man sofort fühlen, daß der ganze Charakter der Schöpfungen solcher Künstler gar sehr von der vorausgehenden Kunst, also von deren Erlebnissen mit bestimmt ist.218 Die hallucinatorische Form ihrer Inspirationen zugegeben, müssen wir auch diese als abhängig von dem Erlebten betrachten. Nun kommt[160] noch die Detailarbeit hinzu, welche von der wissenschaftlichen Detailarbeit sich kaum durch anderes unterscheiden wird, als durch den mehr sinnlichen, weniger abstrakten Charakter. Wer sich eine Schumannsche Symphonie oder ein Heinesches Gedicht genau zu Gemüte führt, erkennt darin die Spuren der älteren Kunst. Ja man wird zugeben, daß ein guter Teil des Reizes dieser Werke in der überraschenden Variation alter Wendungen besteht, welche uns angenehm enttäuschen. Ohne das ältere Trivialere konnten sie weder entstehen, noch verstanden werden.219

19. Kann nun eine wissenschaftliche Entdeckung mit einem hallucinatorischen Blick beginnen? Vielleicht ist Goethes Metamorphose der Pflanzen so eingeleitet worden. Seltene Ausnahmen kann man nicht ausschließen; im allgemeinen wird aber hier das gelten, was über die Traumphantasmen (S. 38) gesagt wurde. Ich bin mit Hallucinationen und Traumphantasmen aus eigener Erfahrung wohl vertraut, und mir ist manches optische und musikalische Phantasma vorgekommen, das einer künstlerischen Verwendung wohl fähig gewesen wäre. Dagegen kenne ich keinen Fall einer hallucinatorischen wissenschaftlichen Entdeckung, weder unter den großen klassischen historischen Beispielen, noch aus der eigenen Erfahrung.220 Die Fälle sind ja nicht selten, daß sich plötzlich eine Perspektive eröffnet, wie ein Problem zu lösen ist, und ich habe selbst solche erlebt. Sieht man aber genau nach, so findet man, daß hier immer eine lange mühsame Arbeit, ein Durchwühlen des Gebietes vorausgegangen ist, oder daß man mühelos spielend, aber von einem bestimmt gerichteten[161] Interesse beherrscht, Daten gesammelt hat, die sich mit einem letzten Fund zu einem Ganzen schließen. Warum verhält sich nun Kunst und Wissenschaft in diesem Punkt so verschieden? Ich glaube der Grund ist leicht anzugeben. Die Kunst bleibt überwiegend sinnlich und wendet sich hauptsächlich an einen Sinn. Jeder Sinn kann für sich hallucinieren. Die Wissenschaft aber bedarf der Begriffe. Gibt es Begriffshallucinationen? Wie könnten sie zu stände kommen? Welchen Sinn könnte es haben, die letzte menschliche intellektuelle Erwerbung, den wissenschaftlichen Begriff, welcher seiner Natur nach durch bewußte absichtliche Arbeit entstanden ist, als Geschenk von dem unbewußten Organischen zu erwarten?

20. Betrachten wir zum Schluß noch einmal das Verhältnis des Begriffes zur Anschauung und Empfindung. Der Vorteil geläufiger, selbst erworbener, nicht bloß durch Worte oder Lektüre übertragener Begriffe besteht in der leichten Erweckbarkeit der in denselben potentiell enthaltenen Anschauungen und Empfindungen, welche letzteren man ebenso leicht wieder in Begriffen aufzuspeichern vermag. Ein triviales Beispiel soll dies erläutern. Wir denken an die etwa 3600 Jahre zurückliegende Zeit der Pharaonen, aus welcher wir noch historische Nachrichten haben. Diese 3600 Jahre sind fast nur »flatus vocis«, solange wir sie nicht in Anschaulicheres umsetzen. Denken wir uns aber einen alten Ägypter von 60 Jahren, der einen Sohn erzeugt; dieser tut desgleichen im gleichen Alter u.s.f., so gehört der sechzigste Nachkomme dieser Reihe, die wir leicht an der Wand eines mäßigen Zimmers aufgestellt denken können, schon der Gegenwart an. Die Pharaonenzeit rückt uns hiermit bedenklich nahe, und wir wundern uns nicht mehr, daß noch so viel Barbarei auf uns lastet. Wer an seine braven Vorfahren denkt oder sich gern die schöne Zukunft seiner Nachkommen ausmalt, der setze seine anschaulichen Vorstellungen umgekehrt in Begriffe um. Jeder hat 2 Eltern, 4 Großeltern, 8 Urgroßeltern, und kommt so fortrechnend in wenigen Jahrhunderten zu einer Volkszahl, welche kein Land zu fassen vermag. Da nun um so weniger jeder seine besonderen eigenen braven Vorfahren haben kann, so muß er sich damit zufrieden geben unter den gemeinsamen Vorfahren eine Unmasse von Dieben, Mördern u.s.w. zu seiner Verwandtschaft[162] zu rechnen, mit deren psychischen Erbschaften er sich abfinden muß. Wer bescheiden 3 Kinder hinterläßt, die desgleichen tun u.s.f., dessen Nachkommen würden in wenigen Jahrhunderten die Erde füllen. Es folgt, daß die meisten derselben im Kampf ums Dasein, der gewiß nicht immer mit den edelsten Mitteln geführt werden wird, umkommen müssen. Vielleicht wird dieses einfache Beispiel der Umsetzung der Begriffe in Anschauungen und umgekehrt den Gedanken nahe legen, daß die exzessive rücksichtslose egoistische Sorge für die eigenen Nachkommen auf einer Illusion beruht und besser durch die Sorge für die Menschheit ersetzt werden sollte.

21. Der Besitzer eines reich gegliederten, seinen Interessen Rechnung tragenden Begriffsystems, das er durch Sprache, Erziehung und Unterricht sich zu eigen gemacht hat, erfreut sich großer Vorteile gegenüber dem auf bloße Wahrnehmungen Angewiesenen. Wem aber die Fähigkeit fehlen würde, sinnliche Vorstellungen rasch und geläufig in Begriffe umzusetzen und umgekehrt, der könnte gelegentlich auch durch seine Begriffe irregeführt werden; dieselben könnten dann für ihn zu einer bloßen Belastung mit Vorurteilen werden.[163]

195

Wie sehr die Begriffe an Unmittelbarkeit den Empfindungen und sinnlichen Vorstellungen nachstehen, lehrt folgender Vorfall. In einer Universitätsstadt, in welcher zwei Nationalitäten A und B auf gespanntem Fuße lebten, wohnte ein der Nationalität A angehöriger Professor im zweiten Stockwerk des Institutes für pathologische Anatomie und gab gelegentlich einen Hausball. Sofort erschien in einem die Interessen des Volksstamms B vertretenden Journal ein Artikel »ein Ball ober Leichen«, welcher einen pöbelhaften Straßenexzeß gegen den Professor provozierte. Die tatenlustige Menge mochte wohl glauben, daß ein Professor, der täglich mit Leichen verkehrt, keine vergnügte Stunde mehr haben dürfe, wenn er nicht ein ganz roher und herzloser Mensch sei, und jene Journalisten gaben wenigstens vor dies zu glauben. Wer läßt sich aber durch den Gedanken, daß jeden Augenblick ein Mensch sein Leben aushaucht, oder daß seine Angehörigen auf dem Friedhof liegen, in seinem Vergnügen stören?

196

Spencer, The Principles of Psychologe, London 1870, I, § 164, S. 365. – »We may properly say that in the higher forms, the correspondence between the organism and its environment is effected by means of supplementary senses and supplementary limbs. All observing instruments, all weights, measures, scales, micrometers, verniers, microscopes, thermometers, etc., are artificial extensions of the senses; and all levers, screws, hammers, wedges, lathes, etc., are artificial extensions of the limbs. The magnifying glass adds but another lens to the lenses existing in the eye. The crowbar is but one more lever attached to the series of levers forming the arm and hand. And the relationship which is so obvious in these first steps, holds throughout.«

197

E. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Braunschweig 1877. – Alle Instrumente, Werkzeuge und Maschinen werden als unbewußte Projektionen der Organe des Leibes angesehen. Hiermit scheint mir der Gedanke von Spencer recht vernebelt, und ich glaube, daß wir auf diesem Wege nur zu einer traumhaften »Philosophie der Technik« kommen können. Man frage sich doch, welches Organ in der Schraube, dem Rade, der Dynamomaschine, dem Interferenzrefraktometer u.s.w. projiziert ist. Richtig ist nur, daß wir durch das Studium der Technik auch zum Verständnis einiger Organe unseres Leibes gelangt sind.

198

O. Wiener, Die Erweiterung der Sinne. Antrittsvorlesung. Leipzig 1900.

199

Ich habe gelegentlich selbst eine solche Empfindlichkeitsschätzung eines Sinnesorgans versucht. Vgl. Bewegungsempfindungen. Leipzig 1875. S. 119 u. f.

200

Eigentlich dem mit dem Tastsinn räumlich vereinigten Wärmesinn.

201

Populäre Vorlesungen. 3. Aufl. Leipzig 1903. S. 398.

202

Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. 1903. S. 209.

203

Revue générale des sciences. 1892.

204

Populäre Vorlesungen, S. 124-134.

205

Ribot, Essai sur l'imagination créatrice. Paris 1900. S. 89-97. – Vgl. Analyse der Empfindungen. S. 250.

206

Beobachtung meiner Schwester.

207

Erman, Ägypten II, S. 352, 605 u. f.

208

Das Motiv des periodischen Ab- und Zudeckens einer Laterne findet sich übrigens auch bei Roemer.

209

Mechanik, 5. Aufl. 1904. S. 88, 195.

210

Analyse u.s.w. S. 185.

211

Hier ist die von Johannes Müller aufgestellte, von Hering weiter entwickelte Theorie gemeint.

212

J. Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz 1826. – F. P. Gruithuisen, Beiträge zur Physiognosie und Eautognosie. München 1812, S. 202-296.

213

Fechner, Elemente der Psychophysik. Leipzig 1860. II. S. 498. – Vgl. ferner Analyse der Empfindungen S. 157.

214

Oelzelt-Newin, Über Phantasie-Vorstellungen, Graz 1889, S. 12 berichtet, daß er, nachdem er von Schlangen belästigt, viele getötet hatte, in der folgenden schlaflosen Nacht fortwährend von deren objektiv erscheinenden Bildern und Bewegungen verfolgt war. Ähnliches widerfuhr mir, als ich mehrere Tage mit Spinnen experimentierte. Ich sah sie im Traume mich umkriechen. Als ich einen jungen Sperling mit Heuschrecken auffütterte, kam einmal im Traum eine Heuschrecke von Menschengröße wie drohend auf mich zugekrochen, als wollte sie sagen: Raum für alle hat die Erde, was verfolgst du meine Herde?

215

Analyse. S. 159.

216

Swoboda, Die Perioden des menschlichen Organismus. Wien 1904. – Eine genaue Periodicität konnte ich an mir nicht beobachten, wiewohl mir die Erscheinung der frei steigenden Vorstellungen häufig vorkommt. Vielleicht zeigt sich die scharfe Periodicität nur bei sehr sensiblen Individuen.

217

Semon, Mneme. Leipzig 1904.

218

Sehr gesunde und nüchterne Ansichten hierüber bei R. Wallaschek, Anfänge der Tonkunst. Leipzig 1903, insbesondere S. 291 u. f.

219

Vgl. die reizende kleine Schrift von E. Kulke, Über die Umbildung der Melodie. Prag 1884. – Analoge Betrachtungen lassen sich über die Umbildung der Harmonie anstellen. Um nur ein Beispiel zu nennen, sei auf den Gang im Fliegenden Holländer, Balladenszene und Ouvertüre hingewiesen, in welchem die Dreiklänge: F-Dur, Es-Dur, D-Moll, noch dazu mit auffallender Mißachtung des Quintenverbotes sich folgen. Es liegt hier eine geringe Modifikation des trivialen Ganges vor: F-Dur-Dreiklang, Dominant-Septimenakkord, F-Dur-Dreiklang, und gerade darin besteht der Reiz.

220

Es wird erzählt, daß Kekulé seinen Benzolring als Hallucination im Londoner Nebel erschaut hätte, allein sein eigener schlichter Bericht über seine spekulative Beschäftigung in London und Gent spricht durchaus nicht für diese Auffassung. (Berichte d. Deutschen chem. Gesellschaft, 23. Jahrg., 1890, S. 1306 u. f.)

Quelle:
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917, S. 144-164.
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