Erkenntnis und Irrtum.

[108] 1. Die Lebewesen haben sich teils durch angeborene (permanente), teils durch erworbene (temporäre) Anpassung mit den Umständen ihrer Umgebung ins Gleichgewicht gesetzt. Die Organisation und die Gewohnheit des Verhaltens aber, welche unter gewissen Umständen biologisch förderlich ist, wird unter veränderten Verhältnissen nachteilig und kann sogar zur Zerstörung des Lebens führen. Der Vogel ist für das Leben in der Luft, der Fisch für das Leben unter Wasser organisiert, nicht aber umgekehrt. Der Frosch schnappt nach den fliegenden Insekten, von welchen er sich nährt, wird aber ein Opfer dieser Gewohnheit, wenn er ein Stück bewegten Tuches erwischt und an der damit verbundenen Angel hängen bleibt. Die Falter, welche im Interesse ihrer Lebenserhaltung dem Lichten und Farbigen zufliegen, geraten vermöge dieses im allgemeinen zweckmäßigen Verhaltens gelegentlich an die gemalten Blüten einer Tapete, die ihnen keine Nahrung bieten, oder in die Flamme, die ihnen den Tod bringt. Jedes in einer Falle gefangene oder von einem andern erbeutete Tier weist uns die Grenzen der Zweckmäßigkeit seiner psycho-physiologischen Organisation. Bei den am einfachsten organisierten Tieren ist Reiz und Reaktion, etwa Angriff oder Flucht, in so regelmäßiger Weise verbunden, daß die beobachteten Tatsachen uns nicht veranlassen würden, zwischen die beiden verbundenen Glieder: Empfindung, Vorstellung, Gefühlsstimmung und Willen eingeschaltet zu denken, wenn nicht die Analogie zu den an uns selbst wahrgenommenen Vorgängen dies so nahe legen würde. Der Reiz wirkt hier unmittelbar aktiv, wie bei einer Reflexbewegung, etwa dem Sehnenreflex, von dem wir erst erfahren, nachdem derselbe stattgefunden hat. Erst wenn der einfache Reiz wegen Komplikation der[108] Lebensbedingungen zu vieldeutig wird, um den zweckmäßigen Anpassungsvorgang zu bestimmen, tritt die Empfindung als selbständiges Element auf, welches mit den Erinnerungen, Vorstellungen, den Zustand des Organismus, die Gefühlsstimmung bedingt, welche endlich die Handlung mit bewußtem Ziel auslöst. Den komplizierteren Lebensbedingungen entspricht eben auch ein komplizierterer diesen angepaßter Organismus mit Wechselwirkung mannigfaltiger aneinander angepaßter Teile. Das Bewußtsein besteht eben in einer besonderen wichtigen Wechselbeziehung der Teile (des Gehirns). Wenn ein Element, ein Teilvorgang des Bewußtseins, eine Empfindung, eine Vorstellung uns nicht direkt aktiv erscheint, so liegt dies an den mannigfaltigen, vielseitigen Beziehungen, die dies Element im entwickelten Individuum erlangt hat, wodurch die einzelne Beziehung im allgemeinen in den Hintergrund gedrängt, und erst bei der geeigneten Kombination von Elementen (Empfindungen, Vorstellungen) zum Hervortreten bestimmt wird. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Vorstellung und Willen etwa. Beide sind Produkte der Organe, erstere vorwiegend einzelner Organe, letzterer des Zusammenhanges der Organe. Die gesamten Lebensvorgänge des Individuums sind Reaktionen im Interesse der Lebenserhaltung, und die Wandlungen im Vorstellungsleben sind nur ein Teil der ersteren. Das Bestehen einer Art von Lebewesen zeigt, daß die Anpassungen hinreichend überwiegend erhaltungsgemäß gelingen, um das Fortbestehen zu sichern. Daß im physischen wie im psychischen Leben auch Reaktionen vorkommen, welche nicht erhaltungsgemäß ausfallen, welche im Sinn der Anpassung als mißlungen zu betrachten sind, zeigt die tägliche Beobachtung. Physische und psychische Reaktionen regeln sich nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit. Ob die Reaktion Nutzen oder Schaden bringt, ob insbesondere biologisch fördernde oder irreleitende Vorstellungen sich einfinden, in beiden Fällen liegen dieselben physischen und psychischen Vorgänge zugrunde.

2. Betrachten wir einige Beispiele. Schon bei unmittelbarer Auslösung einer Reaktion durch den Reiz können sich nachteilige Folgen einstellen. Fliegen werden durch den Aasgeruch mancher Pflanzen verleitet auf denselben ihre Eier abzulegen; die ausschlüpfenden[109] Larven, welche daselbst keine Nahrung finden, gehen natürlich zugrunde. Giften, welche Nahrungsstoffen ähnlich schmecken, fallen Insekten häufig zum Opfer. Auch Rinder und Schafe, besonders auf fremder, exotischer Weide, ereilt zuweilen dasselbe Schicksal. Physikalisch innig zusammenhängende Umstände, welche verschiedene Empfindungen auslösen, kommen häufiger zusammen vor, als andere Umstände, welche nur der Zufall zusammenführt; demnach werden die dem ersten Fall entsprechenden Empfindungen und Vorstellungen stärker associiert sein, als im zweiten Fall. Die angeborene und erworbene Aufmerksamkeitsstimmung (Apperzeption) ist überdies auf das biologisch Wichtige gerichtet. Trotzdem ist das Spiel ungünstiger Zufälle und folglich der Fall irreführender Associationen nicht auszuschließen. Wenn Darwins Ansicht richtig ist, werden schlecht schmeckende oder stechende giftige Insekten mit lebhaften auffallenden Farben gemieden, ebenso bleiben aber harmlose Insekten verschont, welche den ersteren ähnlich gefärbt sind (Mimicry). Wenn das optische Bild eines bekannten Körpers auf unsere Netzhaut fällt, so stellt sich associativ auch die Vorstellung des Tasteindrucks und der übrigen Eigenschaften ein. Berühren wir im Dunkeln einen Körper, so steht wieder dessen optisches Bild vor uns. Es ist biologisch wichtig, daß diese Associationen so rasch und lebhaft erfolgen, daß sie fast Illusionen gleich zu achten sind; in selteneren Fällen werden wir aber durch dieselben Prozesse doch auch irregeführt. Die Stimmung oder Gedankenrichtung hat hier wesentlichen mitbestimmenden Einfluß. Ein Jüngling ist damit beschäftigt, die Prärie mit einem Ochsengespann in Ackerland zu verwandeln und wird öfter durch Klapperschlangen gestört, die er tötet. Als er die entfallene Peitschenschnur aufheben will, ergreift er zufällig einen Stock, den er für eine Schlange hält, deren Klappern er zugleich zu hören glaubt.138 Umgekehrt kann man unter Umständen, einen Stock suchend, auch eine Schlange anfassen, die man für einen Stock oder ein anderes harmloses Ding hält. Wie weit diese Geläufigkeit der associativen psychischen Ergänzung beim Menschen, namentlich beim zivilisierten Menschen reichen kann, sieht[110] man am besten an der leichten räumlichen Auffassung von ebenen perspektivischen Linearzeichnungen. Man erkennt die Treppe, eine Maschine, selbst komplizierte Kristallformen ohne Schwierigkeit in ihrer räumlichen Form, obgleich die Linearzeichnung nur ein Minimum davon andeutet. Interessant ist die Mitteilung von Powell,139 daß die Indianer in der Interpretation von derartigen Linearzeichnungen Schwierigkeiten finden, die sie aber bald überwinden. Farbige Malereien verstehen sie nur dann leicht, wenn die Darstellung ihnen bekannte Objekte betrifft. Übrigens ist die Fähigkeit der Menschen in dieser Richtung höchst verschieden und spezialisiert. Ich kannte eine phantasiereiche alte Frau, welche wunderbare Märchen trefflich zu erzählen wußte, für die aber ein Gemälde so unverständlich war, wie für einen Idioten oder ein Tier. Sie wußte kaum, ob sie eine Landschaft oder ein Porträt vor sich habe.140 Die Ungenauigkeit der Association, die Störung einer Association durch eine andere, äußert sich in den rudimentären ersten Zeichenversuchen unserer Kinder. Wessen sie sich erinnern, und was sie an einer Person einmal gesehen haben, bringen sie an deren »Bild« zum Ausdruck, gleichgültig, ob dies auf einmal gesehen werden kann oder nicht. Ebenso verfahren nach K. von den Steinen141 die Indianer und ebenso verfuhren die Begründer der Malerei bei den alten Ägyptern. Ehrwürdiges Altertum und Züge von technisch hoch entwickelter und doch primitiv kindlicher Kunst finden wir zugleich auf den Tempelwänden verkörpert.

3. Stärkere physikalische Abhängigkeiten können vom Zufall nicht leicht ganz verdeckt werden, und das biologische Interesse fördert die Beachtung richtiger und wichtiger Associationen. Letztere werden also, auch ohne besondere psychische Entwicklung, eine Tendenz zeigen, permanent142 zu werden und die Lebensfunktionen schon instinktiv überwiegend erhaltungsgemäß zu leiten. Wo aber irreführende Associationen empfindliche[111] Folgen nach sich ziehen, werden gerade letztere als Korrektiv wirken und zur weiteren psychischen Entwicklung beitragen. Die traumhafte Association wird der aufmerksamen, bewußten, absichtlichen Beachtung der wichtigen Übereinstimmungen und Unterschiede verschiedener Fälle, der klaren Abhebung der richtig leitenden und der irreführenden Merkmale der Fälle und deren scharfer Unterscheidung weichen. Hier stehen wir an dem Beginn der absichtlichen Vorstellungsanpassung, an der Schwelle der Forschung. Diese strebt, um es kurz zu sagen, außer der Permanenz des Vorstellungslebens auch eine für die Mannigfaltigkeit der Erlebnisse zureichende Differenzierung143 an. Der Verlauf der Vorstellungen soll sich möglichst genau den Erlebnissen, seien es nun physische oder psychische, anpassen, er soll denselben sich anschließend folgen und vorauseilen, er soll in verschiedenen Fällen sich möglichst wenig ändern und dennoch der Verschiedenheit der Fälle gerecht werden. Der Vorstellungsverlauf soll ein möglichst getreues Abbild des Naturlaufes selbst sein. Es wurde schon erwähnt, daß erhebliche Fortschritte der Forschung nur zu erzielen sind durch Zusammenwirkung der sozialen Vereinigung der Menschen, durch gegenseitige Mitteilung, durch Sprache und Schrift.

4. Wer es unangenehm empfunden hat, einen Giftschwamm mit einem eßbaren Schwamm verwechselt zu haben, wird genau auf die roten und weißen Flecke des Fliegenschwammes achten, wird dieselben als warnendes Zeichen der Giftigkeit auffassen. Dieselben heben sich dann deutlich von dem Gesamtbilde des Schwammes ab. Ähnlich verhalten wir uns gegenüber giftigen Beeren u.s.w. So lernen wir also die wichtigeren Bestimmungsstücke eines Erlebnisses gesondert beachten, dasselbe in Teile auflösen oder aus Teilen zusammensetzen. Indem wir eine Seite eines Erlebnisses durch eine andere uns auffallende oder wichtig scheinende als näher bestimmt ansehen, und dies sprachlich ausdrücken, fällen wir ein Urteil. Gewiß kann man auch innerlich urteilen, ohne sprachlichen Ausdruck, oder vor demselben. Der geniale Wilde, der seine Kürbisschale durch Tonüberzug zuerst vor dem Verbrennen schützte, befand sich wohl in diesem Falle.[112] Er urteilte: »Die Kürbisschale verbrennt.« »Ton brennt nicht.« »Der mit Ton überzogene Kürbis brennt nicht.« Man kann einfache Beobachtungen, Erfahrungen sammeln, Erfindungen machen, urteilen, ohne zu sprechen. Man kann dies an klugen Hunden und an Kindern, die noch nicht sprechen können, sehr gut beobachten.144 Der sprachliche Ausdruck des Urteils hat aber seine bedeutenden Vorteile. Indem derselbe zwingt, für die Mitteilung jedes Erlebnis in allgemein bekannte und benannte Bestandteile zu zerlegen, gewinnt der Sprechende selbst ungemein an Klarheit.145 Seine Aufmerksamkeit muß einzelnes hervorheben; er muß abstrahieren und nötigt auch andere hierzu. Wenn ich sage »der Stein ist rund«, so trenne ich die Form vom Material. Im Urteil »der Stein dient als Hammer« ist der Gebrauch vom Objekt getrennt. Der Satz »das Blatt ist grün« stellt der Form die Farbe gegenüber. So sehr nun das Gedankenleben einerseits durch den sprachlichen Ausdruck gewinnt, so wird es doch anderseits hierbei in zufällige konventionelle Formen eingeschränkt. Ob ich sage »der Holzklotz schwimmt auf dem Wasser« oder »das Wasser trägt den Holzklotz« macht im Gedanken keinen Unterschied, ist psychologisch dasselbe. Im sprachlichen Ausdruck ist aber die Rolle des Subjekts vom Holz auf das Wasser übergegangen. Ob ich sage »das Tuch ist zerrissen« oder »das Tuch ist nicht ganz« ist psychologisch dasselbe, sprachlich aber habe ich ein bejahendes Urteil in ein verneinendes verwandelt. Die Urteile »alle A sind B« und »einige A sind B« kann ich psychologisch als eine Summe vieler Urteilsakte auffassen. Da die Logik sich der Sprache bedienen muß, hat sie sich mit den historisch hergebrachten grammatischen Formen abzufinden, welche den psychischen Vorgängen durchaus nicht genau parallel gehen.146 Wie weit eine Logik, die sich einer künstlichen selbstgeschaffenen Sprache bedient, sich von diesem Übelstand befreien und genauer an die psychologischen Vorgänge anschließen kann, soll hier nicht erörtert werden.147[113]

5. Nicht jedes Urteil läßt sich auf eine so einfache sinnenfällige Beobachtung oder Anschauung gründen, wie die »intuitiven« Urteile: »Der Stein fällt ohne Unterlage zu Boden«, »Wasser ist flüssig«, »Kochsalz zerfließt im Wasser«, »Holz läßt sich bei Luftzutritt entzünden«. Weitere Erfahrung lehrt z.B., daß im letzteren Falle die Bedingungen der Entzündung des Holzes viel zusammengesetzter sind, als jenes Urteil angibt. Nicht in jeder Luft brennt das Holz; die Luft muß eine genügende Menge Sauerstoff enthalten, und das Holz muß eine gewisse Temperatur erreichen. Der Sauerstoff (und ebenso die Temperatur) lassen sich nicht durch einen einfachen Anblick erkennen; die betreffenden Worte erregen keine einfache anschauliche Vorstellung. Vielmehr müssen wir an das gesamte chemische und physikalische Verhalten des Sauerstoffes denken, an alle die Erfahrungen und Beobachtungen, die wir mit demselben gemacht, an die Urteile, die wir bei dieser Gelegenheit gefällt haben, um die Bedingung: »Gegenwart des Sauerstoffes« in Gedanken richtig darzustellen. »Sauerstoff« ist ein Begriff, der nicht durch eine anschauliche Vorstellung, sondern nur durch dessen Definition, die eine Summe von Erfahrungen konzentriert enthält, erschöpft wird.148 Dasselbe gilt von den Begriffen: »Temperatur, mechanische Arbeit, Wärmemenge, elektrischer Strom, Magnetismus« u.s.w. Durch die eingehende Beschäftigung mit dem Erfahrungs- und Wissensgebiet, dem ein Begriff angehört, erwerben wir uns die Fertigkeit, daß bei Gebrauch des den Begriff bezeichnenden und verkörpernden Wortes alle an denselben geknüpften Erfahrungen leise in uns anklingen, ohne daß wir sie deutlich und explicit vorstellen. Es ist ein potentielles Wissen, wie S. Stricker einmal treffend gesagt hat, welches im Begriff liegt. Durch häufigen Gebrauch eines Begriffswortes erhalten wir ein sicheres und feines Gefühl dafür, in welchem Sinne und innerhalb welcher Grenzen wir dasselbe dem Begriff entsprechend verwenden dürfen. Menschen, welchen ein Begriff weniger geläufig ist, steigt bei Gebrauch des Begriffswortes eine anschauliche Vorstellung auf, welche den Begriff repräsentiert und irgend eine hervorstechende wichtige Seite des Begriffes versinnlicht. So stellt man sich im[114] vulgären Denken bei dem Worte Sauerstoff leicht einen glimmenden und hell aufflammenden Span vor, bei dem Worte Temperatur ein Thermometer, bei dem Worte Arbeit ein gehobenes Gewicht u.s.w. Jerusalem hat solche Vorstellungen treffend als typische149 Vorstellungen bezeichnet.

6. Ein selbstgefälltes oder uns mitgeteiltes Urteil, das wir dem physischen oder psychischen Befund,150 auf welchen es sich bezieht, angemessen, entsprechend finden, nennen wir richtig, und sehen, namentlich wenn es uns neu und wichtig ist, in demselben eine Erkenntnis. Eine Erkenntnis ist stets ein uns unmittelbar oder doch mittelbar biologisch förderndes psychisches Erlebnis. Bewährt sich hingegen das Urteil nicht, so bezeichnen wir es als Irrtum, und in dem schlimmeren Fall einer absichtlichen Irreführung als Lüge.151 Dieselbe psychische Organisation, welche so förderlich ist und bewirkt, daß wir z.B. eine Wespe so rasch wiedererkennen, kann bei anderer Gelegenheit bewirken, daß wir einen wespenähnlichen Bockkäfer irrtümlich für eine Wespe halten (Mimicry). Schon die unmittelbare sinnliche Beobachtung kann zu Erkenntnis und auch zu Irrtum führen, indem wichtige Unterschiede übersehen, oder Übereinstimmungen verkannt, z.B. eine mattgefärbte Wespe trotz der charakteristischen Körperform für eine Fliege gehalten wird. Noch weit leichter unterliegt der Mensch durch ein solches Versehen im begrifflichen Denken[115] dem Irrtum, namentlich der in diesem Gebiete ungeübte, der sich mit typischen Vorstellungen begnügt, ohne nachträgliche genaue Analyse der verwendeten Begriffe. Erkenntnis und Irrtum fließen aus denselben psychischen Quellen; nur der Erfolg vermag beide zu scheiden. Der klar erkannte Irrtum ist als Korrektiv ebenso erkenntnisfördend wie die positive Erkenntnis.

7. Wenn wir uns fragen, aus welcher Quelle die irrtümlichen auf Beobachtung gegründeten Urteile entspringen, die wir hier ins Auge fassen, so müssen wir die unzureichende Beachtung der Umstände der Beobachtung als solche bezeichnen. Jede einzelne Tatsache als solche, sei es nun eine physische oder psychische, oder eine aus beiden gemischte, bleibt bestehen. Der Irrtum ergibt sich erst, wenn wir dieselbe auch unter anderen Umständen als bestehend ansehen, indem wir der Änderung der physischen oder psychischen Umstände, oder beider, keine Rechnung tragen. Vor allem dürfen wir die Grenze U nicht unbeachtet lassen, indem die Abhängigkeiten außerhalb U, innerhalb U und über U hinweg wesentliche Verschiedenheiten darbieten.152 Die Verwechslung einer echten Hallucination mit einer Empfindung gehört hierher, kommt aber im Zustande der Gesundheit nicht leicht vor. Dagegen ist die Verwechslung oder ungenaue Sonderung einer Empfindung von der dadurch associativ erregten Vorstellung etwas Alltägliches. Die Auffassung des Spiegelbildes als Körper ist das einfachste Beispiel. Wir können sie täglich auch an Vögeln und anderen Tieren beobachten. Affen greifen hinter den Spiegel und äußern ihrer höheren psychischen Stufe gemäß Verdruß über die Neckerei.153 Wenn eine stärkere Erwartung bereit ist, die Empfindung associativ zu ergänzen, ergeben sich weniger angenehme Täuschungen, wie die erwähnte mit der Schlange und dem Stock. Solche stellen sich besonders leicht ein, wenn die Empfindungsintensität herabgesetzt, z.B. das Licht schwach und dafür die Phantasie stark erregt ist. Solche Fälle der Überwindung der Empfindung durch eine Illusion können auch bei der wissenschaftlichen Forschung Schaden anrichten.154[116] Welche Rolle im volkstümlichen Denken die Übersetzung der Traumphantasmen ins Physische gespielt haben, ist schon betrachtet worden. Mancher wird sich erinnern, daß er als Kind aus dem Traum erwacht ist, weinend um das schöne Spielzeug, das er eben noch in der Hand hatte und das nun dahin war. Jugendliche Völker verhalten sich nicht viel anders, als ein solches Kind. Daher die Wichtigkeit, welche bei ihnen den Träumen, als das wache Leben bestimmend, beigemessen wird, und die eifrige Pflege der Traumdeutung.

8. Die Grenze zwischen Traum und Wachen gewinnt nur ganz allmählich ihre volle Deutlichkeit, wie ich dies durch kürzlich Erlebtes erläutern will. Ich erwache nachts dadurch, daß ich die Türe öffnen und jemand eintreten höre. Trotz der tiefen Dunkelheit sehe ich eine lange Gestalt der Wand entlang schleichen und vor dem schwach erhellten Fenster stehen bleiben. Mich ruhig verhaltend und beobachtend höre ich nicht mehr das geringste Geräusch, sehe aber die Gestalt allerlei langsame Bewegungen ausführen. Nun wird mir klar, daß vor dem Fenster ein Kleiderständer sich befindet, dessen Umrisse bei der großen Dunkelheit durch mein Wachphantasma, welches von meinem Traumphantasma übriggeblieben war, fortwährend verändert werden.155 Letztere Erscheinung ist mir von dunklen schlaflosen Nächten her geläufig und wohl bekannt. Ich sehe in den dunkelsten Nächten die Fenster meines Schlafzimmers. Da ich aber über den Ort der Fenster, ihre Breite u.s.w. etwas unsicher urteile, so decke ich die Augen mit der Hand, oder schließe sie ganz und sehe die Fenster auch dann noch. Dies ist also ein gutes Mittel, um ein Phantasma bei tiefer Dunkelheit von einer physikalisch bedingten Empfindung zu unterscheiden.

9. Aus dem schon angezogenen Buch von Powell, welches ich nicht gerade in philosophischer Hinsicht empfehlen möchte, welches aber viele gute Einzelheiten enthält, möchte ich als interessantes Beispiel »physikalischen« Denkens die Ansicht eines[117] Indianerhäuptlings anführen.156 Eine Gesellschaft von Weißen und Indianern unterhält sich nach des Tages Arbeit mit dem Versuch, Steine über eine tiefe Schlucht (Cañon) zu werfen, in deren Nähe sie Rast gemacht hat. Keinem der Beteiligten will dies gelingen, alle Steine fallen in die Tiefe, nur der Häuptling Chuar streift eben noch die gegenüberliegende Felswand. Das Gespräch beschäftigt sich mit dieser auffallenden Erscheinung und Chuar meint: Wenn die Schlucht ausgefüllt wäre, würde man sie mit Leichtigkeit überwerfen, so aber zieht der leere Raum den Stein mächtig herab. Dem europäisch-amerikanischen Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung begegnet Chuar mit der Frage: Fühlt ihr denn nicht selbst, wie der Abgrund euch hinabzieht, so daß ihr euch zurücklehnen müßt, um nicht hinabzufallen? Fühlt ihr nicht beim Erklettern eines hohen Baumes, daß es desto schwieriger wird, je höher ihr kommt und je mehr leerer Raum unter euch ist? – Uns modernen Menschen scheint diese »wilde Physik« in mehrfacher Beziehung irrig. Chuar deutet zunächst sein subjektives Schwindelgefühl als eine physikalische Kraft, die alle Körper in den Abgrund zieht. Daß der große Abgrund ober uns nicht ebenso aktiv ist, stört Chuar natürlich nicht, denn das »Unten« ist für ihn eine absolute Richtung. Wir dürfen ja von ihm nicht verlangen, daß er in dieser Richtung klüger sei als die Kirchenväter Lactantius und Augustinus. Daß Chuar dem leeren Raum Kräfte zuschreibt, würde Descartes und seinen Genossen Entsetzen verursacht haben; seit Fresnel, Faraday, Maxwell und Hertz darf uns das nicht mehr in die Verwunderung setzen, die es bei den gebildeten weißen Genossen Chuars erregt hat. – Der moderne Physiker würde vor allem zweifeln, daß hier eine wirkliche physikalische Tatsache vorliegt, die eine Erklärung fordert. Er würde nötigenfalls durch Messung den Nachweis führen, daß man ober der Schlucht nicht weniger weit wirft, sondern wieder physiologisch die Breite der Schlucht unterschätzt. Eine gleichbelastete Wage, deren eine Schale an einem langen Wagebalken ober dem Abgrund sich befände, würde im Gleichgewicht bleiben und wenn sie genug empfindlich wäre, so würde die Schale ober dem Abgrund sogar etwas nach oben[118] ausschlagen. – Unsere subjektiven Empfindungen und Gefühle hypostasieren wir nicht mehr als physikalische Kräfte. Darin sind wir über den Indianerhäuptling hinaus. Um aber nicht zu stolz zu werden, dürfen wir nur bedenken, daß wir dafür noch immer unsere subjektiven Begriffe als physikalische Realitäten betrachten, wie Stallo157 gezeigt hat und wie ich selbst nachgewiesen habe.158 Von der Irreführung der Forschung, welche sich dadurch ergibt, soll anderwärts die Rede sein.

10. Man schützt sich vor dem Irrtum und zieht sogar Nutzen aus demselben, indem man die Motive, welche verführend gewirkt haben, aufdeckt. Diese treten am reinsten und deutlichsten hervor in Fällen der bewußten absichtlichen Irreführung. Über die kunstvollen Trugschlüsse der Sophisten, welche das begriffliche Denken irreleiten, wollen wir hier zunächst nicht sprechen. Es gibt aber nicht nur Sophisten des Wortes, sondern auch Sophisten der Tat, welche durch eine Scheinhandlung die Beobachtung, auf die wir hier unser Augenmerk richten, irreführen. Recht lohnend ist es, das Verfahren der Escamoteure oder Taschenspieler zu analysieren, durch welches diese mit sehr einfachen Mitteln das Publikum täuschen und überraschen. Ein sehr plumpes Mittel besteht darin, den Zuschauer zur Annahme einer Identität zu veranlassen, welche nicht besteht. Eine entlehnte Taschenuhr z.B. wird in einen Mörser gelegt, der verdeckt seitwärts auf einen Tisch gestellt wird, worauf irgend eine gleichgültige Zauberei die Aufmerksamkeit des Publikums ablenkt, damit ein verborgener Gehilfe die eingelegte Uhr unbemerkt herausnehmen und durch eine ähnliche wertlose ersetzen kann. Die falsche Uhr wird nun zertrümmert. Während die Trümmer herumgezeigt werden und wieder eine gleichgültige Scheinhandlung vorgenommen wird, kommt durch den Gehilfen die Originaluhr unversehrt an einem Orte zum Vorschein, wo sie niemand vermutete.159 Ausnahmsweise läßt sich der Escamoteur zur Erhöhung seines Rufes diesen Spaß auch ein schönes Stück Geld kosten. So zertrümmerte Houdin160 in einer Vorstellung vor Papst Pius VII.[119] eine teuer erkaufte Uhr, welche derjenigen eines Kardinals genau nachgebildet war und sogar mit dessen Namenszug versehen wurde. Houdin gibt auch Anleitung Scheinbewegungen auszuführen, die z.B. den Eindruck machen, als hätte man einen Körper irgendwo hingelegt, während es nicht geschehen ist; er zeigt, wie man bei offener Hand und ausgestreckten Fingern kleine Körper unbemerkt halten kann und erläutert dies durch eine Tafel.161 Der Escamoteur benützt feine, für Ungeübte unsichtbare Zeichen, die ihn allein leiten. Houdin,162 aufgefordert die einer Falschspielerbande abgenommenen Karten zu untersuchen, konnte an der ganz weißen und glatten Rückseite der Karten, trotz beharrlichen Suchens, keinerlei Zeichen entdecken. Als er das Spiel endlich geärgert und mutlos hinwarf, bemerkte er auf der glänzenden Rückseite einer Karte ein kleines mattes Fleckchen. Nun zeigte die genauere Untersuchung, daß jede Karte in der Ecke ein solches Fleckchen aufwies, welches sozusagen, in eine Tafel mit doppeltem Eingang, in ein Koordinatensystem eingetragen war. Der Abstand des matten Fleckchens vom oberen horizontalen Rande der Karte bezeichnete die Farbe, der Abstand vom linken vertikalen Rand den Wert der Karte. So erhielt also der Spieler eine vollständige Kenntnis der Karten seines Gegners, ohne daß dieser eine Ahnung davon hatte. – Die Verwendung ungewöhnlicher, wenn auch simpler Mittel, an die niemand denkt, wird fast immer dem Escamoteur zu Erfolg verhelfen.

11. In Europa wird man heute durch Anwendung eines kräftigen Elektromagneten kein Aufsehen erregen, und die Anordnung wird bald durchschaut werden. Als aber Houdin163 bei einer Vorstellung vor den Arabern in Algier ein leichtes Kofferchen (mit eisernem Boden) durch einen Elektromagnet unter dem Teppich »für den stärksten Mann zu schwer« machte, ergriff die Zuschauer natürlich ein unbeschreiblicher Schrecken. Wie auf sehr einfache Weise auch gebildete und erfahrene Leute aus der Fassung gebracht werden können, lehrt folgender von Decremps164 mitgeteilter[120] Fall. Herr van Estin, ein holländischer Kaufmann auf der Insel Bourbon, bat den auf der Reise verweilenden Herrn Hill, indem er ihm ein Blatt Papier und einen Bleistift darbot, eine beliebige Frage niederzuschreiben, das Blatt aber bei sich zu behalten, und keinem Menschen zu zeigen, oder besser dasselbe sogar zu verbrennen. Nachdem dies alles in Abwesenheit des Herrn van Estin geschehen war, kam dieser mit einem zusammengefalteten Blatt und erklärte, daß dieses die Antwort enthalte. Damit Herr Hill aber nicht an ein gewöhnliches Escamotierstückchen glaube, ließ er ihn das gefaltete Papier mit seinem Namenszug versehen und wies ihn an, das so markierte Blatt in der Schreibtischlade eines Pavillons am Ende eines Parkes zu holen, indem er ihm zugleich die Schlüssel des Pavillons und des Schreibtisches übergab. Herr Hill lief eilends nach dem Pavillon und fand an dem bezeichneten Ort in der Tat das von ihm bezeichnete Blatt mit der korrekten Antwort auf seine Frage. Ohne uns mit den mechanischen, optischen und akustischen Teufeleien aufzuhalten, welche Herrn Hill im Pavillon begegneten und die ihn in der Tat irritierten, und seine Aufmerksamkeit nach allen Richtungen hin und her zerrten, betrachten wir gleich die Aufklärung dieses überraschend scheinenden Kunststückes. Wozu muß Hill seine Frage niederschreiben? Warum genügt nicht eine gedachte Frage? Natürlich, weil sie eine Spur zurücklassen muß. Das Blatt, auf welches Hill schrieb, lag auf einer schwarzen Mappe, die Kopierpapier enthielt. Das gefaltete Blatt van Estins, auf welches die Antwort sehr bequem nach der Entfernung Hills geschrieben werden konnte, wurde pneumatisch durch ein Rohr in den fernen Schreibtisch befördert. Der komplizierte Aufputz diente nur zur Verhüllung des einfachen Sachverhaltes. Wenn wir uns fragen, wodurch sich eine taschenspielerische, von einer technischen Erfindung unterscheidet, so ist es dies, daß die erstere durchaus keinen positiven Nutzen zu schaffen vermag.165

12. Ein interessantes von Decremps166 referiertes Stück verdient noch Erwähnung. Ein Mann steht vor den Geschworenen[121] unter der Anklage, ein Kind in den Fluß geworfen und ertränkt zu haben. Nicht weniger als 52 Zeugen sagen belastend gegen ihn aus. Einige sahen ihn das Kind in den Fluß werfen, andere hörten das Kind schreien, wieder andere hatten den Mann im höchsten Zorn auf das Kind losschlagen gesehen u.s.w. Der Mann verteidigt sich, indem er sagt, daß niemand den Verlust eines Kindes zur Anzeige gebracht habe und daß keine Leiche gefunden worden sei. Das Gericht ist natürlich in großer Verlegenheit. Da bittet der Angeklagte, man möchte einem seiner Freunde den Eintritt gestatten, was gewährt wird. Der Freund erscheint mit einem großen Pack, aus welchem sich eine Wiege mit einem Kind entwickelt. Der Angeklagte liebkost zärtlich das Kind, welches sofort zu weinen beginnt. »Nein du armer Wurm, du sollst nicht allein und schutzlos in der Welt zurückbleiben!« ruft der Angeklagte und zieht sofort einen Säbel aus dem Pack, und mit dem Rufe: »Jetzt sollst du deinem Bruder folgen!«, schlägt er, ehe es jemand hindern kann, dem Kinde den Kopf ab. Statt des erwarteten Blutes sieht und hört man einen hölzernen Kopf über den Boden kollern. Nun entpuppt sich der Mann als Escamoteur und Bauchredner, welcher zu diesem Mittel gegriffen hat, um von seiner Kunst zu leben, wozu er sich den nötigen Ruf verschaffen mußte. – Mag nun diese Geschichte wahr oder erfunden sein, jedenfalls ist sie lehrreich. Es kann etwas sehr wahrscheinlich und doch nicht wahr sein. Was sehen nicht alles Zeugen, wenn sie einmal glauben, daß dieser oder jener ein Mörder oder Dieb ist, und was bezeugen nicht befangene Zeugen! Aber was sollen Geschichtchen nützen, wo die jährlich bekannt werdenden tatsächlichen Justizmorde nur lehren, wie leicht man Menschen verurteilt, die man für schuldig hält. Als ob es nicht viel wichtiger wäre, daß kein Unschuldiger verurteilt wird, als daß jeder Schuldige der Strafe verfällt! Die Strafrechtspflege soll dem Schutze der Menschheit dienen; sie verhält sich aber dieser gegenüber zuweilen mehr wie der Bär der Legende, der die Fliege auf der Stirn seines schlafenden Wohltäters mit einem Stein erschlägt.167[122]

13. Wir können aus der Beobachtung der Escamoteure und dem Verhalten des Publikums für unser Verhalten bei wissenschaftlichen Untersuchungen fruchtbringende Lehren ziehen. Die Natur ist zwar keine Gauklerin, die uns hinter das Licht führen will, allein die Naturvorgänge sind doch äußerst zusammengesetzt. Außer den Umständen, deren Zusammenhang wir in einem gegebenen Falle untersuchen wollen, und auf welche unsere Aufmerksamkeit eben gerichtet ist, sind noch eine Menge anderer Umstände für die Vorgänge mitbestimmend, und verdecken den uns interessierenden Zusammenhang, komplizieren und fälschen scheinbar den ins Auge gefaßten Vorgang. Deshalb darf der Forscher keinen ohne seine Absicht mitspielenden Nebenumstand unberücksichtigt lassen, deshalb muß er alle Fehlerquellen in Betracht ziehen. Ein Forscher untersucht z.B. eine neue Wirkung des elektrischen Stromes mit Hilfe des Galvanometers, vergißt aber im Eifer, daß der Ausschlag vielleicht auch teilweise oder ganz von einer übersehenen Stromschleife herrühren kann, und möglicherweise mit dem untersuchten Vorgang gar nichts zu tun hat. Besonders müssen wir uns hüten, Identitäten anzunehmen, ohne uns von dem Bestehen derselben zu überzeugen. Ein Chemiker findet eine neue Reaktion eines[123] Stoffes. Der Stoff wurde aber vielleicht durch ein neues Verfahren dargestellt, ist vielleicht nicht rein, also gar nicht derselbe Stoff, den er zu untersuchen vermeint. Endlich haben wir uns gegenwärtig zu halten, daß die größte Wahrscheinlichkeit noch immer keine ausgemachte Wahrheit ist.

14. Ich möchte diese Ausführungen mit der Erzählung eines kleinen Erlebnisses schließen, das für mich äußerst lehrreich war. Eines Sonntags Nachmittags zeigte der Vater uns Kindern den Versuch, welchen Athanasius Kircher168 als »experimentum mirabile de immaginatione gallinae« beschreibt, nur mit einer ganz geringfügigen Änderung. Ein Huhn wird trotz seines Sträubens auf die Diele niedergedrückt und eine halbe Minute etwa festgehalten. Es hat sich einstweilen beruhigt. Mit Kreide wird nun ein Strich über den Rücken des Huhns und auf dem Boden um das Huhn herum geführt. Läßt man nun das Huhn los, so bleibt es ruhig sitzen. Man bedarf nun recht kräftiger Schreckmittel, um das Huhn zum Aufspringen und Davonlaufen zu bewegen, »denn es bildet sich ein, angebunden zu sein«. Viele Jahre später kam ich mit einem Laboratoriumsgenossen, Prof. J. Kessel, auf die Hypnose zu sprechen, und da erinnerte ich mich wieder einmal des Kircherschen Versuchs. Wir ließen ein Huhn kommen und wiederholten den Versuch mit dem besten Erfolg. Aber auch, als bei nochmaliger Wiederholung das Huhn einfach niedergedrückt, und die Zauberei mit dem Kreidestrich weggelassen wurde, gelang der Versuch ebensogut. Die »imaginatio gallinae«, welche seit der Kinderzeit in meinem Kopfe unangefochten fortbestanden hatte, war hiermit für immer zerstört.

15. Wir lernen aus diesem Fall, daß es nicht ratsam ist, ein einzelnes Experiment oder eine einzelne Beobachtung als beweisend für die Richtigkeit einer Meinung anzusehen, welche dadurch scheinbar bestätigt wird. Vielmehr muß man, ob das Experiment ein eigenes oder fremdes ist, sowohl die Umstände, welche man für maßgebend hält, als auch die scheinbar gleichgültigen, nach Möglichkeit variieren. Newton hat diese Methode in der Optik in ausgiebiger und musterhafter Weise geübt, und[124] hat dadurch zur modernen Experimentalphysik ebenso den Grund gelegt, wie er durch seine Prinzipien der Naturphilosophie zum Schöpfer der mathematischen Physik geworden ist. Beide Werke sind auch als Erziehungsmittel zur Forschung in gleichem Maße unersetzlich und unübertrefflich.

Halten wir uns als Ergebnis unserer Betrachtung gegenwärtig, daß es dieselben psychischen Funktionen, nach denselben Regeln ablaufend, sind, welche einmal zur Erkenntnis, das andere Mal zum Irrtum führen, und daß nur die wiederholte, sorgfältige, allseitige Prüfung uns vor letzterem schützen kann.[125]

138

Powell, Truth and error, S. 309.

139

Powell, a. a. O. S. 340.

140

Selbst klügere Hunde sollen zuweilen das Porträt ihres Herrn erkennen.

141

K. von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin 1897. S. 230-241.

142

Vgl. Analyse d. Empfindungen. 4. Aufl. 1903. S. 248. – Die vorliegende Schrift S. 32 u. f.

143

Analyse S. 248.

144

Preyer, Die Seele des Kindes. Leipzig 1882. S. 222-233.

145

Vgl. Prinzipien d. Wärmelehre, S. 406-414. – Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, 3. Aufl. 1903, S. 265 u. f.

146

A. Stöhr, Algebra der Grammatik. Wien 1898.

147

Boole, An investigation of the laws of thought. London 1854. – E. Schröder, Operationskreis des Logikkalküls. Math. Annal. 1877.

148

Wir denken hier zunächst an empirische Begriffe.

149

Jerusalem, Lehrbuch der Psychologie, 3. Aufl. 1902, S. 97 u. f.

150

Der Befund kann sich auf physische oder psychische Tatsachen beziehen, wobei wir unter letzteren auch die logischen begreifen.

151

Ich kann mich nicht mit der Ansicht befreunden, daß das Glauben ein besonderer psychischer Akt sei, welcher dem Urteil zu Grunde liegt und dessen Wesen ausmacht. Urteile sind keine Glaubensangelegenheiten, sondern naive Befunde. Glauben, Zweifel, Unglauben beruhen vielmehr auf Urteilen über die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von zuweilen recht komplizierten Urteilskomplexen. Die Zurückweisung von Urteilen, welchen wir nicht zustimmen können, ist oft von einer starken Emotion begleitet, welche zu unwillkürlichen Lautäußerungen Anlaß gibt. Aus einer solchen Lautäußerung entsteht nach Jerusalem (Psychologie S. 121) die Verneinungspartikel. Das Bedürfnis für eine Bejahungspartikel ist viel geringer; dieselbe tritt viel später auf. Einer meiner Knaben bediente sich im Alter von 2-3 Jahren der mit Energie ausgesprochenen Abweisungssilbe »meich«, indem er zugleich das zur Unzeit Dargebotene mit einer kräftigen Handbewegung von sich schob. Es war ein gekürztes »meichni« (mag nicht).

152

Vgl. S. 8.

153

Darwin, Kleinere Schriften. Übersetzt von E. Krause. II. S. 141.

154

Vgl. Analyse d. Empfindungen. 4. Aufl. S. 158, 159.

155

Es gibt auf der Netzhaut ruhende Phantasmen, dunkle Flecke, oder auch sich erweiternde und kontrahierende Ringe. Bedenkt man die Unmöglichkeit, im Dunkeln scharf zu fixieren, so können auch die ersteren Phantasmen mit dem objektiv Gesehenen zusammen Bewegungen vortäuschen.

156

Powell, a. a. O. S. 1, 2.

157

Stallo, Die Begriffe und Theorien der modernen Physik. Leipzig 1901.

158

Vgl. Mechanik, 4. Aufl. 1901.

159

Decremps, La magie blanche dévoilée. Paris 1789, I. S. 47.

160

Houdin, Confidences d'un prestidigitateur. Paris 1881, I. S. 129.

161

Houdin, Comment on devient sorcier. Paris 1882. S. 22.

162

Houdin, Confidences ect., I, S. 288-291.

163

Houdin, Confidences, II, S. 218 u. f.

164

Decremps, a. a. O., I, S. 76 u. f.

165

Vgl. »Mechanik«, 4. Aufl., S. 535. – Cardanus, De Subtilitate, 1560, S. 494, sagt, indem er von der Verachtung der Alchimisten und anderer Gaukler spricht: »Causa multiplex est ut opinor: primo, quod circa inutilia versetur.«

166

Decremps, a. a. O., II, S. 158 u. f.

167

In der Übersetzung des Licius von Ernst Faber, die 1877 zu Elberfeld erschien, finden sich einige Stellen, welche die Wirkung der Suggestion und eines falschen Verdachtes wunderbar beleuchten: S. 207 wird die Spielgesellschaft eines Reichen geschildert. Ein Bussard fliegt vorüber und läßt eine tote Maus unter die Leute auf der Straße fallen. »Herr Yu hat lange Zeit reiche und fröhliche Tage gehabt und hegt beständig geringschätzige Gedanken gegen andere Menschen. Wir haben ihm nichts zuleide getan, und er beschimpft uns mit einer toten Maus. Wenn dies nicht vergolten wird, so können wir schwerlich in der Welt bestehen. Es wird also gebeten, alle, die zu uns gehören, mit energischem Willen hinaufzuführen; sein Haus muß vernichtet werden!... Am Abend desselbigen Tages versammelte sich die Menge, nahm die Waffen, griff den Herrn Yu an und richtete eine große Verwüstung in seinem Eigentum an.« – S. 217. »Ein Mann vermißte seine Axt und beargwohnte den Sohn des Nachbars. Er beobachtete ihn nun; aus Schritt und Tritt blickte der Axtdieb; aus dem Ausdruck seiner Augen blickte der Axtdieb; aus seinen Worten und Reden blickte der Axtdieb; aus Bewegung, Gestalt und Benehmen, aus jeglichem Tun – blickte der Axtdieb heraus. – Zufällig grub er in seiner Schlucht nach und fand da die Axt. – Den andern Tag sah er wieder den Sohn seines Nachbars. Bewegung, Handlung, Gestalt und Benehmen waren nicht mehr denen eines Axtdiebes ähnlich.« – Sehr wertvoll und lehrreich für den Juristen scheinen mir W. Sterns »Beiträge zur Psychologie der Aussage«, von welchen 1903 das erste Heft erschienen ist.

168

A. Kircher, Ars magna lucis et umbrae, Amstelodami, 1671, S. 112 bis 113.

Quelle:
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917, S. 108-126.
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