Dreizehntes Kapitel

[60] Streben nach Geistesausbildung im ewigen Kampf mit Elend aller Art.


Durch den von meinem Vater erhaltenen Unterricht, noch mehr aber durch eignen Fleiß hatte ich es so weit gebracht, daß ich schon im elften Jahre einen vollkommenen Rabbiner abgeben konnte. Außerdem besaß ich einige unzusammenhängende Kenntnisse von der Geschichte, Astronomie und andern mathematischen Wissenschaften.

Ich brannte vor Begierde, mir noch mehr Kenntnisse zu erwerben; wie sollte dies aber bei dem Mangel an Anführung,[60] an wissenschaftlichen Büchern und allen übrigen Mitteln dazu angehen? Ich mußte mich also begnügen, ohne allen Plan und Ordnung mir das, was ich zufälligerweise davon erhalten konnte, zunutze zu machen.

Um meiner Begierde nach Wissenschaften ein Genüge zu leisten, war kein anderes Mittel übrig, als fremde Sprachen zu lernen. Aber wie sollte ich es damit anfangen? Die polnische oder lateinische Sprache bei einem Katholiken zu lernen, war mir unmöglich, indem von der einen Seite die Vorurteile meiner eigenen Nation mir alle anderen Sprachen, außer der hebräischen, und alle anderen Kenntnisse und Wissenschaften, außer dem Talmud und der ungeheueren Anzahl seiner Kommentatoren, verwehrten; von der anderen Seite aber auch die Vorurteile der Katholiken es nicht zuließen, einen Juden hierin zu unterweisen.

Außerdem war ich in sehr schlechten zeitlichen Umständen. Ich mußte durch Schulmeisterschaft, Korrektur der Heiligen Schrift und dergleichen eine ganze Familie ernähren und also eine lange Zeit nach der Befriedigung meines natürlichen Triebes vergebens seufzen.

Endlich kam mir hierin ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Ich bemerkte nämlich an einigen hebräischen Büchern, die sehr starkleibig waren, daß sie mehrere Alphabete enthielten und man ihre Bogenanzahl daher nicht bloß mit hebräischen Buchstaben hatte bezeichnen können, sondern im zweiten und dritten Alphabet sich zu diesem Behuf auch anderer Schriftzeichen hatte bedienen müssen, welches gemeiniglich lateinische und deutsche Buchstaben waren.

Nun hatte ich zwar nicht den mindesten Begriff von einer Druckerei. Ich stellte mir gemeiniglich vor, daß Bücher so wie Leinwand gedruckt würden, und daß jede Seite durch eine besondere Form abgedruckt würde.

Ich vermutete aber, daß die nebeneinanderstehenden Schriftzeichen einen und ebendenselben Buchstaben bedeuteten, und da ich schon von der Ordnung des Alphabets in diesen Sprachen etwas gehört hatte, so supponierte[61] ich, daß z.B. a, das neben Aleph steht, gleichfalls ein Alpha sein müsse, und lernte auf diese Art nach und nach die lateinische und deutsche Schrift kennen.

Durch eine Art des Dechiffrierens fing ich an, verschiedene deutsche Buchstaben in Wörter zu kombinieren, blieb aber dabei noch immer zweifelhaft, ob nicht meine ganze Mühe vergebens sein würde, indem die neben den hebräischen Buchstaben befindlichen Schriftzeichen ganz etwas anderes als ebendieselben Buchstaben sein könnten, bis mir zum Glück einige Blätter aus einem alten deutschen Buche in die Hände fielen.

Ich fing an zu lesen. Und wie groß war nicht meine Freude und Verwunderung, da ich aus dem Zusammenhange sah, daß die Worte mit denjenigen, die ich schon gelernt hatte, völlig übereinstimmten. Zwar blieben mir nach meiner jüdischen Sprache eine Menge Worte unverständlich, aber aus dem Zusammenhange konnte ich doch auch mit Weglassung dieser Worte das Ganze ziemlich fassen.

Die Art, durch Dechiffrieren zu lernen, macht noch jetzt meine eigene Manier aus, die Gedanken anderer zu fassen und zu beurteilen, und ich behaupte, daß man noch gar nicht sagen kann, man verstehe ein Buch, solange man sich gezwungen sieht, die Gedanken des Verfassers in ihrer bestimmten Ordnung und Verbindung mit den von ihm gebrauchten Ausdrücken vorzutragen. Dieses ist ein bloßes Werk des Gedächtnisses, und nur alsdann kann man sich rühmen einen Autor verstanden zu haben, wenn man durch seine Gedanken, die man anfangs bloß dunkel wahrnimmt, veranlaßt wird, selbst über diese Materie nachzudenken, und dieselbe, obschon auf Veranlassung eines andern, selbst hervorzubringen. Dieser Unterschied des Verstehens kann einem scharfsichtigen Auge nicht entgehen. – Aus ebendiesem Grunde kann ich auch nur alsdann ein Buch verstehen, wenn die darin enthaltenen Gedanken nach Ausfüllung der Lücken miteinander übereinstimmen.[62]

Ich fühlte noch immer eine Leere in mir, die ich nicht auszufüllen imstande war. Ich konnte meine Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften nicht vollkommen befriedigen. Bis jetzt war noch immer das Studium des Talmuds mein Hauptgeschäft, woran ich aber bloß in Ansehung der Form, indem sie die höheren Seelenkräfte in Tätigkeit setzt, einen Gefallen hatte, keineswegs aber in Ansehung der Materie.

Man findet darin Gelegenheit zur Übung in Herleitung der entferntesten Folgen aus ihren Gründen, zur Entdeckung der verborgensten Widersprüche, zur Ausfindigmachung der feinsten Distinktionen usw. Da aber die Prinzipien selbst bloß eine eingebildete Realität haben, so kann sich eine wißbegierige Seele keineswegs damit befriedigen.

Ich sah mich also nach etwas um, wodurch ich diesen Mangel ersetzen könnte. Nun wußte ich zwar, daß es eine sogenannte Wissenschaft gibt, die bei den jüdischen Gelehrten in dieser Gegend ziemlich im Schwunge ist, nämlich die Kabbala, wodurch man nicht nur seine Wißbegierde befriedigen, sondern auch sich ungemein vervollkommnen und Gott nähern könne.

Ich brannte also, wie natürlich, vor Begierde danach; aber da diese Wissenschaft wegen ihrer Heiligkeit nicht öffentlich gelehrt, sondern insgeheim traktiert werden muß, so wußte ich nicht, wo ich die darin Eingeweihten und ihre Schriften aufsuchen sollte.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 60-63.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben
Salomon Maimons Lebensgeschichte
Salomon Maimons Lebensgeschichte