Einundzwanzigstes Kapitel

[122] Reisen nach Königsberg, Stettin und Berlin zur Beförderung der Menschenkenntnis.


Da meine äusseren Verhältnisse immer schlechter wurden, weil ich mich nicht mehr zu meinen gewöhnlichen Geschäften schicken wollte und mich daher überall außer meiner Sphäre befand; ich auch von der andern Seite meine Lieblingsneigung zum Studium der Wissenschaften in meinem Wohnorte nicht genug befriedigen konnte, so beschloß ich, mich nach Deutschland zu begeben und da Medizin und bei dieser Gelegenheit auch andere Wissenschaften zu studieren.

Nun war die Frage, wie eine solche weite Reise zu machen sei.[122]

Ich wußte zwar, daß einige Kaufleute aus meinem Wohnort bald nach Königsberg in Preußen reisen würden; aber da ich mit ihnen wenig Bekanntschaft hatte, so konnte ich nicht hoffen, daß sie mich umsonst mitnehmen würden. Nach vielem Überlegen geriet ich endlich auf ein gutes Expediens.

Ich hatte einen sehr gelehrten und frommen Mann zum Freunde, der in der Stadt bei der ganzen Judenschaft in großer Achtung stand; diesem entdeckte ich mein Vorhaben und zog ihn hierüber zu Rate.

Ich stellte ihm meine schlechten Umstände vor: zeigte ihm, daß, da ich einmal meine Neigungen auf die Erkenntnis Gottes und seiner Werke gerichtet habe, ich zu allen gewöhnlichen Geschäften nicht mehr tauglich sei; besonders stellte ich ihm vor, daß ich mich jetzt bloß von meiner Gelehrsamkeit als Informator in der Bibel und dem Talmud ernähren müsse, welches nach dem Ausspruche einiger Rabbiner nicht ganz erlaubt sein sollte. Ich wolle daher die Medizin als eine profane Kunst studieren, wodurch ich nicht nur mich selbst, sondern auch der ganzen Judenschaft in dieser Gegend nützen würde, weil hier kein ordentlicher Mediziner sei, und diejenigen, die sich dafür ausgeben, die unwissendsten Bartscherer wären, die die Menschen mit ihren Kuren von der Welt schafften.

Diese Gründe taten auf einen so frommen Mann eine außerordentliche Wirkung. Er ging zu einem Kaufmann von seiner Bekanntschaft, stellte ihm die Wichtigkeit meines Unternehmens vor und beredete ihn, daß er mich auf seiner eigenen Fuhre mit nach Königsberg nehmen möchte. Dieser durfte einem so göttlichen Manne nichts abschlagen und willigte also darein.

Ich reiste also mit diesem jüdischen Kaufmanne nach Königsberg in Preußen. Als ich da ankam, ging ich zu dem dasigen jüdischen Doctor medicinae H ..., eröffnete ihm mein Vorhaben, Medizin zu studieren, und bat ihn um guten Rat und Unterstützung. Dieser, dessen Berufsgeschäfte[123] ihn verhinderten, sich mit mir gehörig zu besprechen und der ohnedem mich nicht gut verstehn konnte, verwies mich an einige Studenten, die in seinem Hause logierten.

Diese jungen Herren brachen, sobald ich mich ihnen zeigte und mein Vorhaben eröffnete, hierüber in ein lautes Gelächter aus, welches ihnen auch gar nicht zu verdenken war. Man stelle sich einen polnisch-litauischen Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren mit einem ziemlich starken Barte, in zerrissener, schmutziger Kleidung vor, dessen Sprache aus der hebräischen, jüdisch-deutschen, polnischen und russischen Sprache mit ihren respektiven grammatikalischen Fehlern zusammengesetzt ist, und der die deutsche Sprache zu verstehen und einige Kenntnisse und Wissenschaften erlangt zu haben vorgibt. Was sollten diese jungen Herren dazu denken?

Sie fingen also an, ihren Spaß mit mir zu treiben, und gaben mir Mendelssohns Phädon, der von ungefähr auf dem Tisch lag, zu lesen. Ich las sehr erbärmlich (sowohl wegen meiner eigenen Art, die deutsche Sprache lesen zu lernen, als wegen meiner schlechten Aussprache), und jene brachen abermals in ein starkes Gelächter aus, sagten aber, ich solle ihnen das Gelesene explizieren. Dies tat ich nach meiner Art. Da sie mich aber nicht verstanden, so verlangten sie, daß ich das Gelesene ins Hebräische übersetzen möchte.

Dieses vollzog ich auf der Stelle. Die Studenten, die das Hebräische wohl verstanden, gerieten in ein nicht geringes Erstaunen, da sie sahen, daß ich nicht nur den Sinn dieses berühmten Verfassers wohl gefaßt hatte, sondern auch denselben in hebräischer Sprache glücklich ausdrückte; sie fingen also an, sich für mich zu interessieren; verschafften mir einige alte Kleidungsstücke und Unterhaltung während meines Aufenthalts in Königsberg und rieten mir zugleich, daß ich nach Berlin reisen möchte, wo ich meinen Zweck am besten erreichen würde.[124]

Um aber diese Reise meinen Umständen gemäß einzurichten, rieten sie mir ferner, ich möchte von Königsberg bis Stettin zu Schiffe reisen, von wo ich nach Frankfurt an der Oder, und von dort nach Berlin leicht Gelegenheit finden würde.

Ich ging also zu Schiffe, und hatte zur Zehrung nichts mehr als geröstetes Brot, einige Heringe und ein Fläschchen Branntwein. Man sagte mir in Königsberg, daß diese Reise ohngefähr zehn und höchstens vierzehn Tage dauern könne. Diese Prophezeiung aber traf nicht ein. Die Reise dauerte, wegen konträrer Winde, fünf Wochen.

In welchen Umständen ich mich hier befand, kann man sich leicht vorstellen. Es waren auf dem Schiffe außer mir keine anderen Passagiere, als eine alte Frau, die beständig geistliche Lieder zu ihrem Troste sang. Ich kannte so wenig die pommerisch-deutsche Sprache der Schiffsleute, als diese meine jüdisch-polnisch-litauische Sprache verstanden: bekam die ganze Zeit nicht Warmes zu genießen und mußte im Raum auf hart beladenen Säcken schlafen. Das Schiff geriet auch einigemal in Gefahr. Ich, natürlich, war den größten Teil der Zeit schiffkrank.

Endlich kam ich nach Stettin. Man sagte mir, daß ich von da bis nach Frankfurt eine Reise zu Fuß ganz spielend machen könnte. Aber wie sollte ein polnischer Jude in den elendesten Umständen, ohne einen Pfennig zum Zehren bei sich zu haben, und sogar ohne die Landessprache zu verstehen, eine Reise, wenn auch nur von wenigen Meilen machen?

Doch es mußte einmal geschehen. Ich ging also von Stettin aus, und indem ich meine elende Lage überdachte, setzte ich mich unter eine Linde und fing an, bitterlich zu weinen.

Bald wurde mir etwas leichter ums Herz; ich faßte einen Mut und ging weiter. Nachdem ich ein paar Meilen gemacht hatte, kam ich gegen Abend ganz ermüdet in ein Wirtshaus. Es war eben der Tag vor dem jüdischen Fasttage,[125] der im August fällt. Meine Lage war die traurigste, die sich denken läßt. Schon heute war ich beinah vor Hunger und Durst verschmachtet, und sollte nun noch morgen den ganzen Tag fasten. Ich hatte keinen Pfennig zu verzehren und auch keine Sachen von Wert, die ich verkaufen konnte.

Nach langem Nachdenken fiel mir endlich ein, daß ich noch einen eisernen Löffel, den ich mit zu Schiffe genommen, in meinem Mantelsack haben müsse; ich holte ihn und bat die Wirtin, daß sie mir dafür ein wenig Brot und Bier geben möchte. Diese weigerte sich zwar anfangs, den Löffel anzunehmen, durch vieles Flehen aber wurde sie doch endlich bewogen, ein Glas sauer Bier dafür zu akkordieren. Ich mußte mich also damit befriedigen, trank mein Glas Bier und ging nach dem Stalle aufs Stroh, um zu schlafen.

Am Morgen setzte ich meine Reise fort, indem ich vorher nach einem Orte fragte, wo Juden wohnten, damit ich in die Synagoge gehen und die Klaglieder über die Zerstörung Jerusalems mit meinen Brüdern singen könnte.

Dieses geschah. Nach Endigung des Betens und Singens (ungefähr gegen Mittagszeit) ging ich zu dem jüdischen Schulmeister dieses Orts und unterredete mich mit ihm; und da dieser merkte, daß ich ein vollkommener Rabbiner war, fing er an, sich für mich zu interessieren, verschaffte mir bei einem Juden ein Abendessen und gab mir auch ein Empfehlungsschreiben an einen andern Schulmeister im nächsten Ort mit, worin er mich als einen Talmudisten und ehrwürdigen Rabbiner rekommandierte.

Ich fand auch hier ziemlich gute Aufnahme, wurde von dem angesehnsten und reichsten Juden dieses Ortes zum Sabbatessen eingeladen und ging in die Synagoge, wo man mir die oberste Stelle anwies und alle einem Rabbiner gewöhnlich zukommende Ehrenbezeigungen erzeigte.

Nach Endigung des Gottesdienstes nahm mich der gedachte reiche Jude mit nach Hause und wies mir am Tische[126] den obersten Platz an, nämlich zwischen sich und seiner Tochter. Diese war ein junges Mädchen von ungefähr zwölf Jahren und aufs schönste ausgeputzt.

Ich fing an, als Rabbiner einen sehr gelehrten und erbaulichen Diskurs zu führen, und je weniger Herr und Madam denselben verstanden, desto göttlicher kam er ihnen vor.

Auf einmal merkte ich aber zu meinem Leidwesen, daß Mamsell eine saure Miene zu machen und das Gesicht zu verziehen anfing. Ich wußte mir anfangs dieses nicht zu erklären! wie ich aber darauf meinen Blick auf mich selbst und auf meine elende schmutzige Lumpenkleidung wandte, wurde mir sogleich dieses ganze Geheimnis enträtselt. Die Beunruhigung der Mamsell hatte ihren guten Grund. Und wie konnte es auch anders sein? Da ich, seitdem ich von Königsberg abgereist war, ungefähr seit sieben Wochen, kein frisches Hemde anzuziehen hatte, in den Wirtshäusern auf dem bloßen Stroh, worauf wer weiß wieviel arme Reisende schon gelegen hatten, liegen mußte, usw.

Nun wurden mir mit einemmal die Augen aufgetan, ich übersah mein ganzes Elend in seiner ungeheuren Größe. Aber was sollte ich machen? Wie sollte ich mir aus dieser mißlichen Lage heraushelfen? Betrübt und traurig nahm ich bald von diesen guten Leuten Abschied und setzte meine Reise nach Berlin unter immerwährendem Kampf mit Mangel und Elend aller Art fort.

Endlich erreichte ich diese Stadt. Hier glaubte ich meinem Elende ein Ende zu machen und alle meine Wünsche zu erreichen, betrog mich aber leider sehr.

Da, wie bekannt, in dieser Residenzstadt kein Betteljude gelitten wird; so hat die jüdische Gemeinde zur Versorgung ihrer Armen ein Haus am Rosenthaler Tore bauen lassen, worin die Armen aufgenommen, von den jüdischen Ältesten über ihr Gesuch in Berlin befragt und nach Befinden entweder, wenn sie krank sind, oder einen Dienst suchen, in der Stadt aufgenommen, oder weiter verschickt[127] werden. Auch ich wurde also in dieses Haus gebracht, das teils mit Kranken, teils aber mit liederlichem Gesindel angefüllet war. Lange Zeit sah ich mich vergebens nach einem Menschen um, mit dem ich mich über meine Angelegenheiten hätte besprechen können.

Endlich bemerkte ich einen Menschen, der nach seinem Anzuge zu urteilen ein Rabbiner sein mußte; ich wandte mich also an diesen, und wie groß war nicht meine Freude, als ich von ihm erfuhr, daß er wirklich ein Rabbiner und in Berlin ziemlich bekannt sei. Ich unterhielt mich mit ihm über allerhand Gegenstände der rabbinischen Gelehrsamkeit, und da ich sehr offenherzig bin, so erzählte ich ihm meinen Lebenslauf in Polen, eröffnete ihm mein Vorhaben, in Berlin Medizin zu studieren, zeigte ihm meinen Kommentar über den More Newochim usw. Dieser merkte sich alles und schien sich für mich sehr zu interessieren. Aber auf einmal verschwand er mir aus dem Gesichte.

Endlich gegen Abend kamen die jüdischen Ältesten. Es wurde ein jeder der Anwesenden vorgerufen und über sein Gesuch befragt. Die Reihe kam auch an mich, und ich sagte ganz offenherzig, ich wünsche in Berlin zu bleiben, um daselbst Medizin zu studieren.

Die Ältesten schlugen mein Gesuch geradezu ab, gaben mir meinen Zehrpfennig und gingen fort. Die Ursache dieses Betragens gegen mich besonders war keine andere als diese.

Der Rabbiner, von dem ich vorher gesprochen habe, war ein eifriger Orthodox. Nachdem er also meine Gesinnungen und Vorhaben ausgeforscht hatte, ging er in die Stadt, benachrichtigte die Ältesten der Gemeinde von meiner ketzerischen Denkungsart, indem ich den More Newochim kommentiert neu herausgeben wolle, und daß mein Vorhaben nicht sowohl sei, Medizin zu studieren und als Profession zu treiben, sondern hauptsächlich mich in Wissenschaften überhaupt zu vertiefen und meine Erkenntnis zu erweitern.[128]

Dies letztere sehen die orthodoxen Juden als etwas, der Religion und den guten Sitten Gefährliches an, besonders glauben sie dieses von den polnischen Rabbinern, die, durch einen glücklichen Zufall aus der Sklaverei des Aberglaubens befreiet, auf einmal das Licht der Vernunft erblicken und sich von jenen Fesseln losmachen.

Dieses ist auch zum Teil wahr. Sie sind mit einem Menschen zu vergleichen, der nach lange ausgestandenem Hunger auf einmal an einen wohlbesetzten Tisch kömmt; der also mit heftiger Begierde zugreifen und sich bis zum Überladen sättigen wird.

Die Verweigerung der Erlaubnis, in Berlin zu bleiben, war für mich ein Donnerschlag. Das letzte Ziel aller meiner Hoffnungen, meiner Wünsche, wurde mir auf einmal, da ich demselben so nahe war, verrückt. Ich befand mich in der Lage des Tantalus und wußte mir nicht zu helfen.

Besonders schmerzte mich das Betragen des Aufsehers dieses Armenhauses, der auf Befehl seiner Obern auf meine schleunige Abreise drang und nicht eher nachließ, als bis er mich vor dem Tore sah.

Hier warf ich mich auf die Erde nieder und fing an bitterlich zu weinen.

Es war ein Sonntag, viele Menschen gingen wie gewöhnlich vor dem Tore spazieren. Die mehrsten kehrten sich an mich winselnden Wurm nicht; einigen mitleidigen Seelen aber fiel dieser Anblick sehr auf; sie fragten mich nach der Ursache meines Wehklagens; ich antwortete ihnen: aber sie konnten mich, teils wegen meiner unverständlichen Sprache, teils auch wegen häufiger Unterbrechung durch Weinen und Schluchzen nicht verstehn.

Ich war so alteriert, daß ich in ein hitziges Fieber geriet. Die Soldaten, die am Tore die Wache hielten, meldeten dieses im Armenhause.

Der Aufseher kam und holte mich herein. Ich blieb den Tag über da und freute mich in der Hoffnung recht krank zu werden und auf diese Art einen längeren Aufenthalt zu[129] erzwingen; während welcher Zeit ich mehrere Bekanntschaften zu machen glaubte, wodurch ich Schutz und Erlaubnis, in Berlin zu bleiben, zu erhalten hoffte.

Aber leider wurde ich in meiner Hoffnung getäuscht. Den folgenden Tag stand ich wieder munter auf, ohne etwas Fieberhaftes zu spüren, ich mußte also fort. Aber wohin? das wußte ich selbst nicht.

Ich nahm also den ersten, den besten Weg und überließ mich dem Schicksal.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 122-130.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Salomon Maimons Lebensgeschichte
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Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben
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