Siebentes Kapitel

[32] Lange dauert die Freude nicht.


Nach dieser Digression über das Studium des Talmuds komme ich auf meine Geschichte zurück. Ich wurde, wie oben gesagt, nach Iwenez in die Schule gebracht. Mein Vater gab mir einen Brief an den Oberrabbiner dieses Ortes mit, der ein Verwandter von uns war, worin er ihn bat, mich einem tüchtigen Lehrmeister zu übergeben und auf meine Progressen im Studieren achtzuhaben. Er übergab mich aber einem gemeinen Schullehrer und sagte, ich sollte ihn alle Sabbate besuchen, um mich von ihm examinieren zu lassen, welches ich auch pünktlich befolgte. Dieses dauerte aber nicht lange, denn da ich bei einem solchen Examen einstmals gegen meine Lektion zu disputieren und Einwendungen zu machen anfing, fragte mich der Oberrabbiner, ohne etwas darauf zu erwidern, ob ich diese Einwendungen auch meinem Lehrer vorgetragen hätte? »Freilich!« erwiderte ich. »Nun,[32] und was hat der Lehrer dazu gesagt?« »Nichts, was zur Sache gehört,« erwiderte ich, »außer daß er mir Stillschweigen auferlegte und sagte: ›Ein Junge muß nicht naseweis sein; er muß bloß darauf sehen, seine Lektion zu fassen, nicht aber seinen Lehrer mit Fragen überhäufen.‹« »So!« sagte der Oberrabbiner, »ei, dein Lehrer ist gar zu kommode, wir wollen dies ändern. Ich selbst will dir Unterricht geben; bloß aus Freundschaft will ich es tun und hoffe, daß so wenig dein Vater als dein voriger Lehrer dagegen etwas einzuwenden haben werden. Das Lehrgeld, was dein Vater für dich bezahlen wird, soll dein Lehrer ohne Abzug erhalten.«

Auf diese Art bekam ich also den Oberrabbiner zum Lehrer. Dieser schlug mit mir einen ganz eigenen Weg ein. Keine wöchentlichen Lektionen, die so lange repetiert werden, bis sie dem Gedächtnis eingeprägt sind, keine Pensa, die der Schüler für sich machen muß, und wobei er sehr oft eines einzigen Wortes, einer Redensart wegen, die zur Hauptsache wenig beitragen, in dem Laufe seiner Gedanken aufgehalten wird; seine Methode unterschied sich von allem diesem. Er ließ mich in seiner Gegenwart ex tempore etwas aus dem Talmud explizieren, unterhielt sich mit mir darüber, erklärte mir so viel als nötig war, um meinen Geist in Selbsttätigkeit zu setzen, und lenkte durch Fragen und Antworten meine Aufmerksamkeit von allen Nebensachen ab auf die Hauptsache, wodurch ich in kurzer Zeit alle vorerwähnten drei Grade des talmudistischen Studiums erreichte.

Mein Vater, dem der Oberrabbiner von seinem Vorhaben mit mir und von meinen Progressen Nachricht gab, geriet vor Freude ganz außer sich. Er stattete diesem braven Mann seinen wärmsten Dank dafür ab, daß er bei seinen schlechten Gesundheitsumständen (er war hektisch) sich dennoch aus bloßer Freundschaft mit mir so viel Mühe geben wolle. Allein diese Freude dauerte nicht lange; noch ehe ein halbes Jahr zu Ende war, mußte sich der Oberrabbiner[33] zu seinen Vätern begeben, und ich blieb also wie das Schaf ohne Hirten.

Dieses wurde meinem Vater gemeldet. Er kam und holte mich ab nach Hause. Nicht aber nach H., von da ich nach der Schule geschickt worden, sondern nach Mohilna, ungefähr sechs Meilen von H., wohin mein Vater unterdessen gezogen war. Mit dieser neuen Veränderung des Wohnortes hatte es folgende Bewandtnis.

Mohilna ist ein Flecken in dem Gebiete des Fürsten R ..., vier Meilen von N ..., seiner Residenz. Die vortreffliche Lage dieses Ortes, der den Niemenfluß an der einen und eine große Menge des besten Schiffsholzes auf der anderen Seite hat, wodurch er sowohl zum Handel als zum Schiffsbau geschickt ist, ferner die Fruchtbarkeit und Anmut dieser Gegend an sich konnten der Aufmerksamkeit des Fürsten nicht entgehen; und obschon der Pächter oder Arendant dieses Ortes, der seit einigen Generationen im Besitze dieser einträglichen Pachtung war und sich durch Schiffbau, Handel und die mannigfaltigen schönen Produkte der Gegend bereichert hatte, sich alle Mühe gab, diese großen Vorteile andere nicht bemerken zu lassen, damit er sie allein in der Stille genießen könnte, so ereignete es sich doch einst, daß der Fürst durch diesen Ort reiste und von seiner Schönheit so eingenommen wurde, daß er auf der Stelle beschloß, eine Stadt daraus zu machen. Er entwarf den Plan dazu und ließ bekanntmachen, daß dieser Ort eine Slabode sein sollte, d.h. ein jeder sollte sich darin etablieren und alle möglichen Gewerbe treiben können, auch sogar für die ersten sechs Jahre von allen Abgaben befreit sein. Lange blieb aber dieser Plan durch allerhand Ränke des Arendanten unausgeführt, der sogar die fürstlichen Räte durch Bestechungen dahin brachte, daß sie die Aufmerksamkeit des Fürsten davon ablenkten.

Mein Vater, der wohl einsah, daß das elende H. ihn mit seiner Familie nicht ernähren konnte, und der bloß aus Mangel eines besseren Aufenthaltes bisher daselbst bleiben[34] mußte, freute sich sehr über die Bekanntmachung, weil er hoffte, daß Mohilna ihm einen Zufluchtsort gewähren sollte, besonders da der Arendant dieses Ortes meines Onkels Schwager war. Er reiste zu diesem Behuf mit meinem Großvater dahin, besprach sich mit dem Arendanten und eröffnete ihm sein Vorhaben, sich mit seiner Bewilligung in Mohilna zu etablieren. Der Arendant, welcher befürchtet hatte, daß auf die Bekanntmachung des fürstlichen Willens Menschen von allen Seiten hinzuströmen und ihn aus seinem Besitze verdrängen würden, war froh, daß zum wenigsten der erste, der sich da etablierte, kein Fremder, sondern seiner Familie verschwägert war. Er gab daher nicht nur seine Einwilligung dazu, sondern versprach sogar meinem Vater alle mögliche Hilfeleistung. Mein Vater zog also mit seiner ganzen Familie nach Mohilna und ließ sich daselbst ein Häuschen bauen; bis es fertig war, mußte die Familie sich abermals in eine Scheune einquartieren.

Der Arendant, von dem wir anfangs so freundschaftlich aufgenommen worden waren, hatte sich leider unterdessen ganz anders bedacht und gefunden, daß seine Furcht, von Fremden aus seinem Besitz verdrängt zu werden, ganz ohne Grund sei, indem schon eine geraume Zeit seit der Bekanntmachung des fürstlichen Willens verflossen war und sich doch niemand außer meinem Vater gemeldet hatte. Der Fürst war beständig in Warschau als polnischer Hauptmann und Woiwode in Litauen mit Reichsgeschäften zu sehr überhäuft, als daß er an die Ausführung seines Planes denken konnte. Die Hofleute konnten durch Bestechungen dahin gebracht werden, daß sie den ganzen Plan rückgängig machten. Diese Überlegungen zeigten ihm, daß der neue Ankömmling ihm nicht nur entbehrlich, sondern sogar zur Last sei, indem er das, was er vorher allein im Besitz gehabt hatte, nunmehr mit diesem teilen sollte. Er suchte daher meinen Vater so viel als möglich zu beschränken und in seinem Etablissement zu stören.[35]

Zu diesem Behufe ließ er sich ein neues, prächtiges Haus bauen und wußte einen Befehl vom Hofe auszuwirken, nach welchem niemand von den neuen Ankömmlingen eher die Rechte eines Bürgers genießen sollte, als bis er sich ein solches Haus erbaut hätte. Mein Vater sah sich also gezwungen, sein kleines Vermögen, das er notwendig zur neuen Einrichtung brauchte, einzig und allein auf diesen unnützen Bau zu verwenden.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 32-36.
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Salomon Maimons Lebensgeschichte
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