Siebzehntes Kapitel

[87] Freundschaft und Schwärmerei.


Ich hatte in meinem Wohnort einen Busenfreund mit Namen Moses Lapidoth. Wir waren beide von gleichem Alter, gleichen Studien und beinahe in gleichen äußern Umständen, außer daß ich schon frühzeitig eine Neigung zu Wissenschaften äußerte, Lapidoth hingegen zwar Neigung zum Spekulieren, auch viel Scharfsinn und Beurteilungskraft hatte, aber hierin nicht weitergehen wollte, als er mit dem bloßen gesunden Verstande reichen konnte. Mit diesem Freund pflegte ich mich oft über unsre gemeinschaftlichen Herzensangelegenheiten, besonders über die Gegenstände der Religion und Moral zu unterhalten.

Wir waren die einzigen in dem Orte, die es wagten, nicht bloß nachzuahmen, sondern über alles selbst zu denken. Es war also natürlich, daß, indem wir uns in unsern Meinungen und Handlungen von allen übrigen aus der Gemeinde unterschieden, wir uns nach und nach von ihnen trennten, wodurch unser Zustand (da wir doch von der Gemeinde leben mußten) sich immer mehr verschlimmerte. Wir merkten dieses zwar, wollten aber dennoch unsern Lieblingsneigungen keinem Interesse in der Welt aufopfern. Wir trösteten uns daher über diesen Verlust so gut wir konnten, sprachen beständig von der Eitelkeit der Dinge, von den religiösen und moralischen Irrtümern des gemeinen Haufens, auf den wir mit einer Art von edlem Stolz und Verachtung herabsahen.

Besonders pflegten wir uns oft über die Falschheit der menschlichen Tugend à la Mandeville auszulassen. Zum Beispiel es hatten die Blattern in diesem Orte grassiert, wodurch viele Kinder hingerafft worden waren. Die Ältesten der Gemeinde versammelten sich, um die geheimen Sünden ausfindig zu machen, um derentwillen sie diese Strafe (wofür sie es ansahen) litten. Nach angestellter Untersuchung[88] fand es sich, daß eine junge Witwe aus der jüdischen Nation mit einigen Hof bedienten einen zu freien Umgang pflege. Man schickte nach ihr, konnte aber durch alles Inquirieren von ihr nichts mehr herausbringen, als daß sie zwar diese Leute, die bei ihr Met tranken, wie billig, mit einem gefälligen zuvorkommenden Wesen aufnehme, übrigens sich dabei keiner Sünde bewußt sei. Man wollte, da man keine Indizien hatte, sie schon loslassen, als eine ältliche Matrone, Madame F., wie eine Furie geflogen kam und schrie: peitscht sie! peitscht sie, so lange, bis sie ihr Verbrechen gestanden haben wird! tut ihr es nicht, so treffe euch die Schuld des Todes von so viel unschuldigen Seelen. Lapidoth, der mit mir dieser Szene beiwohnte, sagte darauf: Freund! meinst du, daß Madame F. bloß von einem heiligen Eifer und Gefühle fürs allgemeine Beste ergriffen, diese Frau so scharf anklagt? o nein! Sie ist bloß auf sie böse, daß diese noch gefällt, indem sie selbst darauf keinen Anspruch mehr machen darf; und ich versicherte ihm, daß er ganz nach meinem Sinn die Sache beurteile.

Lapidoth hatte arme Schwiegereltern. Sein Schwiegervater war jüdischer Küster und konnte mit seinem geringen Gehalte nur sehr kümmerlich eine Familie ernähren. Alle Freitage mußte daher dieser arme Mann von seiner Frau allerhand Schelt- und Schimpfwörter hören, weil er ihr nicht einmal das zum heiligen Sabbat Unentbehrliche verschaffen konnte. Lapidoth erzählte mir dieses mit dem Zusatze: Meine Schwiegermutter will mich glauben machen, als eifere sie bloß für die Ehre des heiligen Sabbat. Nein, wahrhaftig, sie eifert bloß für die Ehre ihres heiligen Wanstes, den sie nicht nach Belieben füllen kann: der heilige Sabbat dient ihr bloß zum Vorwande.

Da wir einst auf dem Walle um die Stadt spazierengingen und uns über die aus dergleichen Äußerungen offenbare Neigung des Menschen, sich selbst und andere zu täuschen, unterhielten, sagte ich zu Lapidoth: Freund! laß uns billig sein und uns selbst, so wie die andern, unsre Zensur[89] passieren. Sollte nicht die, unsern Umständen nicht angemessene kontemplative Lebensart, die wir führten, eine Folge unsrer Trägheit und Neigung zum Müßiggange sein, die wir durch Reflexionen über die Eitelkeit aller Dinge zu unterstützen suchen? Wir sind mit unsern jetzigen Umständen zufrieden, warum? weil wir sie nicht ändern können, ohne vorher unsre Neigung zum Müßiggange zu bekämpfen; wir können, bei aller vorgegebenen Verachtung gegen alle Dinge außer uns, uns dennoch des heimlichen Wunsches nicht erwehren, besser zu essen und uns besser als jetzt kleiden zu können. Wir schelten unsre Freunde J.N.H. usw. als eitle, den sinnlichen Begierden ergebene Menschen, weil sie unsre Lebensart verlassen und sich den ihren Kräften angemessenen Geschäften unterzogen haben, worin besteht aber unser Vorzug vor ihnen, da wir unserer Neigung zum Müßiggang, so wie sie der ihrigen folgen? Laß uns diesen Vorzug bloß darin zu erlangen suchen, daß wir uns zum wenigsten diese Wahrheit gestehn, indem jene nicht die Befriedigung ihrer besondern Begierden, sondern den Trieb zur Gemeinnützigkeit als den Grund ihrer Handlungen angeben. Lapidoth, bei dem meine Rede einen starken Eindruck machte, antwortete hierauf mit einiger Wärme: Freund, du hast vollkommen recht! Wenn wir schon jetzt unsre Fehler nicht verbessern können, so wollen wir doch hierin uns selbst nicht täuschen, und zum wenigsten den Weg zur Besserung offenhalten.

In dergleichen Unterhaltungen brachten wir Zyniker unsre angenehmsten Stunden zu, indem wir uns zuweilen über uns selbst lustig machten. Lapidoth z.B., dessen altes, schmutziges Kleid ganz in Lumpen zerfallen, und wovon ein Ärmel vom übrigen Kleide ganz abgetrennt war, indem er nicht einmal imstande war, es ausbessern zu lassen, pflegte diesen abgefallenen Ärmel mit einer Stecknadel auf den Rücken zu heften und mich zu fragen: sehe ich nicht aus wie ein Schlachziz? (polnischer Edelmann). Ich konnte[90] meine zerrissenen Schuhe, die vorne ganz aufgegangen waren, wieder nicht genug rühmen, indem ich sagte: sie drücken gar nicht.

Die Übereinstimmung unsrer Neigung und Lebensart, mit einiger Verschiedenheit in Ansehung unsrer Talente, machte unsre Unterhaltung desto angenehmer. Ich hatte mehr Talente zu Wissenschaften, bewarb mich mehr um Gründlichkeit und Richtigkeit meiner Kenntnisse als Lapidoth. Dieser hingegen hatte den Vorzug einer lebhaften Einbildungskraft und folglich mehr Talente zur Beredsamkeit und Dichtkunst als ich. Wenn ich einen neuen Gedanken vorgebracht hatte, so wußte mein Freund denselben durch eine Menge Beispiele zu erläutern und gleichsam zu versinnlichen.

Unsere Neigung zueinander ging so weit, daß wir, wenn es nur anging, Tag und Nacht miteinander zubrachten, uns zuerst besuchten, wenn wir von dem Ort, wo wir Hofmeister waren, nach unserm gemeinschaftlichen Wohnort zurückkehrten, ohne unsere Familie vorher zu sehen; ja zuletzt fingen wir sogar an, die gewöhnlichen Betstunden darüber zu vernachlässigen. Erst übernahm es Lapidoth zu beweisen, daß selbst die Talmudisten nicht immer ihre Gebete in der Synagoge, sondern zuweilen in ihrer Studierstube verrichteten. Hernach bewies er auch, daß nicht alle für notwendig gehaltenen Gebete gleich notwendig wären, sondern daß man einige derselben ganz entbehren könne; selbst die für notwendig erkannten wurden nach und nach immer mehr beschnitten, bis sie zuletzt ganz und gar vernachlässigt wurden.

Einst, da wir während der Gebetszeit auf dem Walle spazierengingen, sagte Lapidoth: »Freund, was wird aus uns werden? Wir beten ja nicht mehr.«

Ich. »Nun, was meinst du dazu?«

L. »Ich verlasse mich auf die Barmherzigkeit Gottes, der gewiß nicht seine Kinder einer kleinen Nachlässigkeit wegen streng bestrafen wird.«

[91] Ich. »Gott ist nicht bloß barmherzig, er ist auch gerecht, folglich kann uns dieser Grund nicht viel helfen.«

L. »Was meinst du denn dazu?«

Ich, der schon aus dem Maimonides richtigere Begriffe von Gott und den Pflichten gegen ihn erlangt hatte, antwortete: »Unsere Bestimmung ist bloß Erlangung der Vollkommenheit durch die Erkenntnis Gottes und Nachahmung seiner Handlungen. Das Beten ist bloß der Ausdruck von der Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheiten, und als Resultat dieser Erkenntnis bloß für den gemeinen Mann, der zu dieser Erkenntnis von selbst nicht gelangen kann, bestimmt, und daher auch nur seiner Fassungsart angemessen. Da wir aber den Zweck des Betens einsehen und zu demselben unmittelbar gelangen können, so können wir das Beten als etwas Überflüssiges gänzlich entbehren.« Dieses Argument schien uns beiden sehr gegründet zu sein. Wir beschlossen nun, um kein Ärgernis zu geben, alle Morgen mit unsern Tallit und Tefillin (jüdische Gebetsinstrumente) aus dem Hause zu gehen, aber nicht nach der Synagoge, sondern nach unserm Lieblingsretrait, dem Walle; dadurch entgingen wir glücklich dem jüdischen Inquisitionsgerichte.

Dieser schwärmerische Umgang mußte aber doch, so wie alles in der Welt, sein Ende nehmen. Da wir beide verheiratet wurden und unsere Ehen ziemlich fruchtbar waren, so mußten wir, um unsere Familien zu ernähren, Hofmeisterstellen annehmen, wodurch wir nicht selten getrennt wurden, und nachher nur wenige Wochen im Jahre beisammen sein konnten.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 87-92.
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