Sechzehntes Kapitel

[83] Jüdische Frömmigkeit und Bußübungen.


Ich war in meiner Jugend ziemlich Religiös, und da ich an den meisten Rabbinern viel Stolz, Zanksucht und andere schlimme Eigenschaften bemerkt hatte, so wurden diese mir dadurch verhaßt. Ich suchte daher[83] bloß diejenigen darunter, die gemeiniglich unter dem Namen Chassidim, d.h. die Frommen, bekannt sind, mir zum Muster aus; das sind solche, die ihr ganzes Leben der strengsten Beobachtung der Gesetze und moralischen Tugenden widmen. Ich hatte aber in der Folge Gelegenheit, zu bemerken, daß diese von ihrer Seite zwar weniger andern, aber desto mehr sich selbst schaden, indem sie, nach dem bekannten Sprichwort, das Kind mit dem Bade ausschütten, und indem sie ihre Begierden und Leidenschaften zu unterdrücken suchen, auch ihre Kräfte unterdrücken und ihre Tätigkeit hemmen, ja sogar sich mehrenteils durch dergleichen Übungen einen frühzeitigen Tod zuziehen.

Ein paar Beispiele hiervon, wovon ich selbst Augenzeuge war, werden hinreichend sein, die Sache genügsam zu bestätigen. Ein wegen seiner Frömmigkeit damals bekannter jüdischer Gelehrter, Simon aus Lubtsch, der schon die Tschuwat hakana (die Buße des Kana) ausgeübt hatte, welche darin besteht, daß er sechs Jahre täglich fastet und alle Abend nichts von allem, was von einem lebendigen Wesen herkommt (Fleisch, Milchspeisen, Honig und dergleichen), genießt, Galut, d.h. eine beständige Wanderung, wo man nicht zwei Tage an einem Orte bleiben darf, gehalten, und einen haarnen Sack auf dem bloßen Leibe getragen hatte, glaubte noch nicht genug zur Befriedigung seines Gewissens getan zu haben, wenn er nicht noch die Tschuwat hamischkal (die Buße des Abwägens), d.h. eine partikuläre, jeder Sünde proportionierte Buße ausüben werde. Da er aber nach Berechnung gefunden hatte, daß die Anzahl seiner Sünden zu groß sei, als daß er sie auf diese Art abbüßen könnte, so ließ er sich einfallen, sich zu Tode zu hungern. Nachdem er schon einige Zeit auf diese Art zugebracht hatte, kam er auf seiner Wanderung an den Ort, wo mein Vater wohnte, und ging, ohne daß jemand im Hause etwas davon wußte, in die Scheune, wo er ganz ohnmächtig auf den Boden fiel. Mein Vater kam zufälligerweise[84] in die Scheune und fand diesen Mann, der ihm schon längst bekannt war, mit einem Sohar in der Hand (das Hauptbuch der Kabbalisten) halbtot auf dem Boden liegen.

Da er schon seinen Mann kannte, ließ er ihm gleich allerhand Erfrischungen darreichen, aber dieser wollte davon auf keinerlei Weise einen Gebrauch machen. Er kam zu verschiedenen Malen und wiederholte sein Anliegen, daß Simon etwas zu sich nehmen sollte, aber es half nichts, und da mein Vater im Hause etwas zu verrichten hatte und Simon sich von seiner Zudringlichkeit losmachen wollte, strengte er alle seine Kräfte an, machte sich auf, ging aus der Scheune und endlich aus dem Dorfe. Als mein Vater abermals in die Scheune kam und den Mann nicht mehr fand, lief er ihm nach und fand ihn nicht weit hinter dem Dorfe tot liegen. Die Sache wurde überall unter der Judenschaft bekannt, und Simon ward ein Heiliger.

Jossel aus Klezk nahm sich nichts Geringeres vor, als die Ankunft des Messias zu beschleunigen. Zu diesem Ende tat er strenge Buße, fastete, wälzte sich im Schnee, unternahm Nachtwachen und dergleichen. Mit jeder Art dieser Operationen glaubte er die Niederlage einer Legion böser Geister, die den Messias bewachten und seine Ankunft verhinderten, bewerkstelligen zu können. (So hat ein gewisser Narr, mit Namen Chosek, die Stadt Lemberg, auf die er böse war, aushungern wollen, zu welchem Behuf er sich hinter die Mauer legte, um mit seinem Körper die Stadt zu blockieren. Der Ausgang dieser Blockade aber war dieser, daß er beinahe Hungers gestorben wäre, die Stadt aber vom Hunger nichts zu sagen wußte.) Dazu kamen noch zuletzt viele kabbalistische Alfanzereien, Räuchereien, Beschwörungen und dergleichen, bis er zuletzt darüber wahnwitzig wurde, wirklich Geister mit offenen Augen zu sehen glaubte, jeden mit Namen nannte, um sich warf, Fenster und Öfen zerschlug, in der Meinung, daß dies seine Feinde, die bösen Geister wären (ungefähr wie sein[85] Vorgänger Don Quixote), bis er zuletzt ganz abgemattet liegenblieb und nachher mit vieler Mühe durch des Fürsten Radziwill Leibarzt wiederhergestellt wurde.

Ich konnte es leider in dergleichen Frömmigkeitsübungen nie weiter bringen, als daß ich eine geraume Zeit nichts, was von einem lebendigen Wesen herkommt, gegessen und in den Zeiten der Bußtage zuweilen drei Tage in einem fort gefastet habe. Ich entschloß mich zwar, die Tschuwat hakana zu unternehmen; dieses Projekt ist aber, so wie andere von der Art, unausgeführt geblieben, nachdem ich mir die Meinungen des Maimonides, der kein Freund von Schwärmerei und Frömmeln war, eigen gemacht hatte. Es ist merkwürdig, daß ich noch zu der Zeit, da ich die rabbinischen Vorschriften aufs strengste beobachtete, dennoch gewisse Zeremonien, die etwas Komisches an sich haben, nicht beobachten wollte.

Von dieser Art war z.B. das Malkot-Schlagen vor dem großen Versöhnungstage, wo jeder Jude sich in der Synagoge auf den Bauch legt, und ein anderer ihm mit einem schmalen Streif Leder neununddreißig Schläge gibt. So auch Hatarat nedarim, oder das Lossagen von den Gelübden am Tage vor dem Neujahrstage, wo sich drei Männer niedersetzen, und ein anderer vor sie hintritt und eine gewisse Formel sagt, deren Inhalt ungefähr dieser: Meine Herren! ich weiß, welch eine schwere Sünde es ist, Gelübde nicht zu vollziehn, und da ich ohne Zweifel in diesem Jahre einige Gelübde getan, die ich noch nicht vollzogen habe, und auf die ich mich nicht mehr besinnen kann, so bitte ich euch, daß ihr mich von denselben lossagen wollet. Ich bereue nicht die guten Entschließungen, wozu ich mich durch dergleichen Gelübde verpflichtet habe, sondern bloß, daß ich nicht bei dergleichen Entschließungen hinzugefügt habe, daß sie nicht die Kraft eines Gelübdes haben sollen usw. Darauf entfernt er sich von dem Sitze dieser Richter, zieht die Schuhe aus und setzt sich auf die bloße Erde (wodurch er sich selbst verbannt,[86] bis seine Gelübde aufgelöst worden). Nachdem er einige Zeit gesessen und für sich ein Gebet verrichtet hat, fangen die Richter an laut zu rufen: Du bist unser Bruder! du bist unser Bruder! du bist unser Bruder! Es gibt keine Gelübde, keinen Schwur, keine Verbannung mehr, nachdem du dich dem Gerichte unterworfen hast! Steh auf von der Erde und komm zu uns! Dieses wiederholen sie dreimal, und damit wird der Mensch auf einmal von allen seinen Gelübden los.

Bei dergleichen tragikomischen Szenen konnte ich mich nur mit äußerster Mühe des Lachens enthalten. Es überfiel mich eine Schamröte, wenn ich dergleichen Operationen vornehmen sollte. Ich suchte daher, wenn ich darum angehalten wurde, mich dadurch von denselben loszumachen, daß ich vorgab, es in einer andern Synagoge schon verrichtet zu haben, oder noch verrichten zu wollen. Eine sehr merkwürdige psychologische Erscheinung! Man sollte denken, daß es unmöglich sei, daß sich jemand solcher Handlungen schämen sollte, die er alle andern ohne die mindeste Schamröte ausüben sieht, und doch war es hier der Fall; welches Phänomen sich nur dadurch erklären läßt, daß ich bei allen meinen Handlungen erst auf die Natur der Handlung an sich (ob sie an sich recht oder unrecht, schicklich oder unschicklich sei), und dann auf ihre Natur, in Beziehung auf irgendeinen Zweck, Rücksicht nahm, und sie nur dann als Mittel billigte, wenn sie an sich nicht zu mißbilligen war; welches Prinzip sich nachher in meinem ganzen Religions- und Moralsystem völlig entwickelt hat; dahingegen die meisten Menschen zum Prinzip haben: der Zweck entschuldigt die Mittel.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 83-87.
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Salomon Maimons Lebensgeschichte
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