[Dritter Entwurf]

[401] Liebe Bürgerin!

Um die in Ihrem Brief vom 16. Februar vorgebrachten Fragen gründlich zu behandeln, müßte ich auf Einzelheiten eingehen und dringende Arbeiten unterbrechen, aber ich hoffe, daß die gedrängte Erläuterung, die ich die Ehre habe, Ihnen zu übersenden, genügen wird, um jedes Mißverständnis bezüglich meiner sogenannten Theorie zu zerstreuen.

I. Bei der Analyse der Entstehung der kapitalistischen Produktion sage ich: »Dem kapitalistischen System liegt also die radikale Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln zugrunde... Die Grundlage dieser ganzen Entwicklung ist die Expropriation der Ackerbauern. Sie ist auf radikale Weise erst in England durchgeführt... Aber alle anderen Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung« (»Le Capital«, éd. française, p. 315).

Die »historische Unvermeidlichkeit« dieser Bewegung ist also ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt. Die Begründung dieser Einschränkung wird im folgenden Absatz des Kapitels XXXII gegeben: »Das Privateigentum, das auf persönlicher Arbeit gegründet ist..., wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das auf der Ausbeutung der Arbeit andrer, der Lohnarbeit gegründet ist« (l.c. p. 341).

Bei dieser Bewegung des Westens handelt es sich also um die Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums. Bei den russischen Bauern würde man im Gegenteil ihr Gemeineigentum in Privateigentum umzuwandeln haben. Ob man die Unvermeidlichkeit dieser Umwandlung bejaht oder verneint, die Gründe für und wider haben nichts mit meiner Analyse der Genesis der kapitalistischen Ordnung zu tun. Man könnte höchstens daraus folgern, daß, angesichts der gegenwärtigen Lage der großen Mehrheit der russischen Bauern, der Akt ihrer Umwandlung in Kleinbesitzer nur der Prolog zu ihrer raschen Expropriation sein würde.[401]

II. Das ernsthafteste Argument, das man gegen die russische Dorfgemeinde erhoben hat, läuft auf folgendes hinaus:

Geht zu den Ursprüngen der westlichen Gesellschaften zurück und Ihr werdet überall das Gemeineigentum an Grund und Boden finden; mit dem gesellschaftlichen Fortschritt mußte es überall vor dem Privateigentum weichen; also würde es dem gleichen Schicksal auch in Rußland nicht entrinnen können.

Ich möchte diesem Argument nur insofern Rechnung tragen, als es sich auf die europäischen Erfahrungen stützt. Was zum Beispiel Ostindien anbelangt, so ist es aller Welt, mit Ausnahme von Sir H. Maine und anderen Leuten gleichen Schlags, nicht unbekannt, daß dort die gewaltsame Aufhebung des Gemeineigentums an Grund und Boden nur ein Akt des englischen Vandalismus war, der die Eingeborenen nicht nach vorn, sondern nach rückwärts stieß.

Die Urgemeinschaften sind nicht alle nach dem gleichen Muster zugeschnitten. Ihre Gesamtheit bildet im Gegenteil eine Reihe von gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich sowohl im Typus wie im Alter voneinander unterscheiden und die aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen kennzeichnen. Einer dieser Typen, den man übereingekommen ist, »Ackerbaugemeinde« zu nennen, ist auch der der russischen Gemeinde. Ihr Gegenstück im Westen ist die germanische Gemeinde, die sehr jungen Datums ist. Zur Zeit Julius Cäsars existierte sie noch nicht, und sie existierte nicht mehr, als die germanischen Stämme Italien, Gallien, Spanien etc. eroberten. In der Epoche Julius Cäsars gab es schon eine jährliche Aufteilung des Ackerlands unter Gruppen, den Gentes und den Stämmen, aber noch nicht unter die einzelnen Familien einer Gemeinde; wahrscheinlich erfolgte die Bebauung auch in Gruppen, gemeinschaftlich. Auf germanischem Boden selbst hat sich diese Gemeinschaft von archaischerem Typus durch eine natürliche Entwicklung zur Ackerbaugemeinde umgewandelt, so wie sie Tacitus beschrieben hat. Nach seiner Zeit verlieren wir sie aus den Augen. Sie ging in den unaufhörlichen Kriegen und Wanderungen unbemerkt zugrunde; sie endete vielleicht auf gewaltsame Weise. Aber ihre natürliche Lebensfähigkeit ist durch zwei unbestreitbare Tatsachen erwiesen. Einige verstreute Exemplare dieser Art haben alle Wechselfälle des Mittelalters überlebt und sich bis auf unsere Tage erhalten, z.B. in meiner Heimat, der Gegend von Trier. Aber am wichtigsten ist, wir finden das Gepräge dieser »Ackerbaugemeinde« so gut auf die neue Gemeinde, die daraus hervorging, übertragen, daß Maurer, da er die eine erforscht hatte, die andere rekonstruieren konnte. Die neue Gemeinde, in der das Ackerland den Ackerbauern[402] als Privateigentum gehört, während Wälder, Weiden, Ödland etc. immer noch Gemeineigentum bleiben, wurde von den Germanen in allen eroberten Ländern eingeführt. Dank der ihrem Prototyp entlehnten Wesenszüge wurde sie während des ganzen Mittelalters zum einzigen Hort der Volksfreiheit und des Volkslebens.

Man begegnet der »Dorfgemeinde« auch in Asien, bei den Afghanen etc., aber sie stellt überall den allerjüngsten Typus dar, sozusagen das letzte Wort der archaischen Formation der Gesellschaften. Um diese Tatsache hervorzuheben, bin ich auf einige Einzelheiten hinsichtlich der germanischen Gemeinde eingegangen.

Wir müssen jetzt die charakteristischsten Züge betrachten, welche die »Ackerbaugemeinde« von den archaischeren Gemeinwesen unterscheiden.

1. Alle anderen Gemeinwesen beruhen auf Beziehungen der Blutsverwandtschaft zwischen ihren Mitgliedern. Man gehört zu ihr nur, wenn man blutsverwandt oder adoptiert ist. Ihre Struktur ist die eines Stammbaums. Die »Ackerbaugemeinde« war die erste gesellschaftliche Gruppierung freier Menschen, die nicht durch Blutsbande eingeengt war.

2. In der Ackerbaugemeinde gehören das Haus und was dazu gehört, der Hof, dem Ackerbauern persönlich. Das gemeinsame Haus und die kollektive Wohnung waren dagegen eine ökonomische Basis der primitiveren Gemeinwesen, und das schon lange vor dem Aufkommen von Viehhaltung und Ackerbau. Gewiß findet man Ackerbaugemeinden, wo die Häuser, obwohl sie aufgehört haben, kollektive Wohnplätze zu sein, periodisch die Besitzer wechseln. Die persönliche Nutzung ist also kombiniert mit dem Gemeineigentum. Aber solche Gemeinden tragen noch ihr Geburtsmal – sie befinden sich im Übergangsstadium von einem archaischeren Gemeinwesen zur Ackerbaugemeinde im eigentlichen Sinne des Wortes.

3. Das Ackerland als unveräußerliches und gemeinsames Eigentum wird periodisch zwischen den Mitgliedern der Ackerbaugemeinde derart aufgeteilt, daß jeder die ihm zugewiesenen Felder auf eigene Rechnung bewirtschaftet und sich die Früchte persönlich aneignet. In den primitiveren Gemeinwesen wird die Arbeit gemeinsam verrichtet und das gemeinschaftliche Produkt bis auf den für die Reproduktion reservierten Anteil je nach den Bedürfnissen aufgeteilt.

Man versteht, daß der der Ackerbaugemeinde innewohnende Dualismus sie mit großer Lebenskraft erfüllen kann. Befreit von den starken, aber engen Banden der Blutsverwandtschaft wird ihr durch das Gemeineigentum an Grund und Boden und die sich daraus ergebenden sozialen Beziehungen eine feste Grundlage gesichert, während gleichzeitig das Haus und der dazugehörige[403] Hof, ausschließlicher Bereich der einzelnen Familie, die Parzellenwirtschaft und die private Aneignung ihrer Früchte der Entwicklung der Persönlichkeit einen Auftrieb geben, der mit dem Organismus der primitiveren Gemeinwesen unvereinbar ist.

Aber es ist nicht weniger offensichtlich, daß der gleiche Dualismus sich mit der Zeit zu einem Keim der Zersetzung entwickeln kann. Abgesehen von allen von außen kommenden schädlichen Einflüssen trägt die Gemeinde in ihrem eigenen Innern die sie zerstörenden Elemente. Das Privateigentum an Grund und Boden hat sich bereits dorthin eingeschlichen in Gestalt eines Hauses mit seinem Hof, es kann sich zu einem starken Bollwerk verwandeln, von wo aus der Angriff gegen das gemeinschaftliche Land vorbereitet wird. Dies hat man schon gesehen. Aber das Wesentliche ist die parzellierte Arbeit als Quelle der privaten Aneignung. Sie läßt der Akkumulation beweglicher Güter Raum, z.B. von Vieh, Geld, bisweilen sogar von Sklaven oder Leibeigenen. Dieses bewegliche, von der Gemeinde unkontrollierbare Eigentum, Gegenstand individuellen Tausches, wobei List und Zufall leichtes Spiel haben, wird auf die ganze ländliche Ökonomie einen immer größeren Druck ausüben. Das ist das zersetzende Element der ursprünglichen ökonomischen und sozialen Gleichheit. Es führt heterogene Elemente ein, die im Schoße der Gemeinde Interessenkonflikte und Leidenschaften schüren, die geeignet sind, zunächst das Gemeineigentum an Ackerland, dann das an Wäldern, Weiden, Brachland etc. anzugreifen, die, einmal in Gemeindeanhängsel des Privateigentums umgewandelt, ihm schließlich zufallen werden.

Als letzte Phase der primitiven Gesellschaftsformation ist die Ackerbaugemeinde gleichzeitig eine Übergangsphase zur sekundären Formation, also Übergang von der auf Gemeineigentum begründeten Gesellschaft zu der auf Privateigentum begründeten Gesellschaft. Die sekundäre Formation umfaßt, wohlverstanden, die Reihe der Gesellschaften, die auf Sklaverei, Leibeigenschaft beruhen.

Aber heißt das, daß die historische Laufbahn der Ackerbaugemeinde unvermeidlich zu diesem Ergebnis führen muß? Keineswegs. Der ihr innewohnende Dualismus läßt eine Alternative zu: entweder wird ihr Eigentumselement über das kollektive Element oder dieses über jenes siegen. Alles hängt vom historischen Milieu ab, in dem sie sich befindet.

Sehen wir für einen Augenblick von dem Elend ab, das die russische Gemeinde bedrückt, um allein ihre Entwicklungsmöglichkeiten zu betrachten. Sie nimmt eine einzigartige Stellung ein, die keinen Präzedenzfall in der Geschichte aufweist. Als einzige in Europa ist sie noch die organische,[404] vorherrschende Form im Landleben eines ungeheuren Reiches. Das Gemeineigentum an Grund und Boden bietet ihr die natürliche Basis der kollektiven Aneignung und ihr historisches Milieu, die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion, bietet ihr fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstabe organisierten kollektiven Arbeit. Sie kann sich also die von dem kapitalistischen System hervorgebrachten positiven Errungenschaften aneignen, ohne dessen Kaudinisches Joch durchschreiten zu müssen. Sie kann den parzellierten Ackerbau allmählich durch eine kombinierte und mit Hilfe von Maschinen betriebene Landwirtschaft ersetzen, zu der die physische Beschaffenheit des russischen Bodens geradezu einlädt. Nachdem sie erst einmal in ihrer jetzigen Form in eine normale Lage versetzt worden ist, kann sie der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, und ein neues Leben anfangen, ohne mit ihrem Selbstmord zu beginnen.A7

Die Engländer haben solche Versuche in Ostindien gemacht; es ist ihnen nur gelungen, die einheimische Landwirtschaft zu ruinieren und die Anzahl und Intensität der Hungersnöte zu verdoppeln.

Doch was ist mit dem Fluch, mit dem die russische Dorfgemeinde beladen ist – ihre Isolierung, die fehlende Verbindung zwischen dem Leben der einen Gemeinde mit dem der anderen, dieser lokal gebundene Mikrokosmos, der ihr bisher jede historische Initiative untersagt hat? Er würde inmitten einer allgemeinen Erschütterung der russischen Gesellschaft verschwinden.

Das Vertrautsein des russischen Bauern mit dem Artel würde ihm speziell den Übergang von der Parzellen- zur genossenschaftlichen Wirtschaft erleichtern, die er übrigens schon bis zu einem gewissen Grade bei der Heuernte und bei Gemeindeunternehmungen, wie Entwässerungsarbeiten etc. anwendet. Eine ganz archaische Eigentümlichkeit – der Alpdruck der modernen Agronomen – wirkt ebenfalls in diesem Sinne. Man komme in irgendein Land, wo das Ackerland Spuren einer eigenartigen Zersplitterung verrät, die ihm das Aussehen eines aus kleinen Feldern zusammengesetzten Schachbretts[405] verleiht, dann gibt es keinen Zweifel, vor uns ist die Domäne einer untergegangenen Ackerbaugemeinde! Ihre Mitglieder begriffen, ohne ein Studium der Theorie der Grundrente absolviert zu haben, daß eine gleiche Arbeitsmenge, angewandt auf Felder unterschiedlicher natürlicher Fruchtbarkeit und Lage, auch unterschiedliche Erträge ergeben wird. Um die Erfolgsaussichten der Arbeit auszugleichen, teilten sie das Land in eine bestimmte Anzahl von Abschnitten, bedingt durch die natürlichen und ökonomischen Bodenunterschiede, und teilten diese größeren Abschnitte in ebenso viele Parzellen wie es Landleute gab. Dann erhielt jeder einen Anteil von jedem Abschnitt. Diese bis auf den heutigen Tag in der russischen Gemeinde beibehaltene Ordnung widerspricht selbstverständlich den agronomischen Forderungen. Abgesehen von anderen Unzuträglichkeiten erfordert sie eine Verschwendung von Kraft und Zeit. Nichtsdestoweniger begünstigt sie den Übergang zur kollektiven Bewirtschaftung, der sie auf den ersten Blick so zu widersprechen scheint. Die Parzelle

[Abbruch des Manuskripts][406]


Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 19.
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