[Zweiter Entwurf]

[396] 1. Ich habe im »Capital« gezeigt, daß die Metamorphose der feudalen Produktion in die kapitalistische Produktion die Expropriation des Produzenten zum Ausgangspunkt hatte, und insbesondere, daß die Grundlage dieser ganzen Entwicklung die Expropriation der Ackerbauern ist (p. 315, édit. française). Ich fahre fort: »Sie« (die Expropriation der Ackerbauern) »ist auf radikale Weise erst in England durchgeführt... alle anderen Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung.« (l.c.)

Ich habe also diese »historische Unvermeidlichkeit« ausdrücklich auf die »Länder Westeuropas« beschränkt. Um über meinen Gedanken nicht den geringsten Zweifel zu lassen, sage ich auf p. 341 :

»Privateigentum, als Gegensatz zum gesellschaftlichen, kollektiven Eigentum, besteht nur da, wo... die äußeren Bedingungen der Arbeit Privatleuten gehören. Je nachdem aber diese Privatleute Arbeiter oder Nichtarbeiter sind, hat auch das Privateigentum einen andern Charakter.«

So hat der Prozeß, den ich analysiert habe, eine Form des privaten und zersplitterten Eigentums der Arbeitenden durch das kapitalistische Eigentum einer äußerst geringen Minderheit ersetzt (l.c., p. 342), hat eine Art des Eigentums durch eine andere ersetzt. Wie könnte man das auf Rußland beziehen, wo das Land kein »Privateigentum« des Ackerbauern ist und es niemals gewesen ist? Die einzige Schlußfolgerung also, die sie berechtigt wären, aus dem Gang der Ereignisse im Westen zu ziehen, ist folgende: Um die kapitalistische Produktion in Rußland einzuführen, müßte man damit beginnen, das Gemeineigentum abzuschaffen und die Bauern, d.h., die große Masse des Volkes, zu expropriieren. Das ist übrigens der Wunsch[396] der russischen Liberalen;A5 aber erweist sich ihr Wunsch begründeter als der Wunsch Katharinas II., das westliche Zunftwesen des Mittelalters auf russischen Boden zu verpflanzen?

So diente die Expropriation der Ackerbauern im Westen zur »Verwandlung des privaten und zersplitterten Eigentums der Arbeitenden« in konzentriertes Privateigentum der Kapitalisten. Aber das ist die Ersetzung einer Form des Privateigentums durch eine andere Form des Privateigentums. In Rußland würde es sich im Gegenteil darum handeln, das kapitalistische Eigentum an Stelle des kommunistischen Eigentums zu setzen.

Sicherlich, wenn die kapitalistische Produktion ihre Herrschaft in Rußland aufrichten soll, so muß die große Mehrheit der Bauern, d.h. des russischen Volkes, in Lohnarbeiter verwandelt und folglich durch die vorhergehende Abschaffung ihres Gemeineigentums expropriiert werden. Aber auf alle Fälle würde der westliche Präzedenzfall hier überhaupt nichts beweisen.

2. Die russischen »Marxisten«, von denen Sie sprechen, sind mir völlig unbekannt. Die Russen, mit denen ich in persönlichen Beziehungen stehe, haben, soviel ich weiß, völlig entgegengesetzte Ansichten.

3. Vom historischen Standpunkt aus gesehen ist das einzige ernsthafte Argument zugunsten der unvermeidlichen Auflösung des Gemeineigentums in Rußland folgendes: Das Gemeineigentum hat überall in Westeuropa existiert, es ist mit dem gesellschaftlichen Fortschritt überall verschwunden; wieso würde es dem gleichen Schicksal in Rußland entrinnen können?

Vor allem ist in Westeuropa der Untergang des Gemeineigentums und die Entstehung der kapitalistischen Produktion durch eine riesige Zeitspanne voneinander getrennt, die eine ganze Reihe aufeinanderfolgender ökonomischer Revolutionen und Evolutionen umfaßt, von denen die kapitalistische Produktion nur die jüngste ist. Einerseits hat sie die gesellschaftlichen Produktivkräfte hervorragend entwickelt, andererseits aber hat sie die eigene Unvereinbarkeit mit den von ihr selbst hervorgebrachten Kräften gezeigt. Ihre Geschichte ist nichts weiter als eine Geschichte von Antagonismen, Krisen, Konflikten und Katastrophen. Schließlich hat sie aller Welt, mit Ausnahme derer, die auf Grund ihrer Interessen blind sind, ihren reinen Übergangscharakter offenbart. Die Völker, bei denen sie in Europa und in Amerika den größten Aufschwung genommen hat, streben nur danach, ihre Ketten zu sprengen, indem sie die kapitalistische Produktion durch die genossenschaftliche[397] Produktion und das kapitalistische Eigentum durch eine höhere Form des archaischen Eigentumtyps, d.h. durch das kommunistische Eigentum, ersetzen wollen.

Wenn Rußland in der Welt isoliert wäre, wenn es auf seine eigene Rechnung die ökonomischen Errungenschaften herausbilden müßte, die Westeuropa nur erworben hat, indem es eine lange Reihe von Evolutionen durchgemacht, von der Existenz seiner Urgemeinschaften bis zu seinem heutigen Zustande, dann würde, wenigstens in meinen Augen, kein Zweifel bestehen, daß seine Gemeinden mit der Entwicklung der russischen Gesellschaft unweigerlich zum Untergang verurteilt wären. Aber die Lage der russischen Gemeinde ist vollkommen unterschiedlich von der Lage der Urgemeinschaften des Westens. Rußland ist das einzige Land in Europa, wo sich das Gemeineigentum im großen, nationalen Maßstabe behauptet hat, aber gleichzeitig existiert Rußland in einem modernen historischen Milieu, es ist Zeitgenosse einer höheren Kultur, es ist mit einem Weltmarkt verbunden, auf dem die kapitalistische Produktion vorherrscht.

Indem es sich die positiven Ergebnisse dieser Produktionsweise aneignet, ist es also imstande, die noch archaische Form seiner Dorfgemeinde zu entwickeln und umzuformen, statt sie zu zerstören. (Ich bemerke nebenbei, daß die Form des kommunistischen Eigentums in Rußland die modernste Form des archaischen Typus ist, der wiederum selber eine ganze Reihe von Evolutionen durchgemacht hat.)

Falls die Verehrer des kapitalistischen Systems in Rußland die Möglichkeit einer solchen Kombination leugnen, so mögen sie nachweisen, daß Rußland, um die Maschinen zu benutzen, gezwungen gewesen war, die Inkubationsperiode der Maschinenproduktion durchzumachen. Mögen sie mir erklären, wie sie es sozusagen in einigen Tagen fertiggebracht haben, den Tauschmechanismus (Banken, Kreditgesellschaften etc.) bei sich einzuführen, dessen Herausbildung dem Westen Jahrhunderte gekostet hat!A6

4. Die archaische oder primäre Formation unseres Erdballs enthält ihrerseits eine Reihe von Schichten verschiedenen Alters, von denen die eine über der anderen liegt. Ebenso enthüllt uns die archaische Formation der Gesellschaft eine Reihe verschiedener Typen, die verschiedene, aufeinanderfolgende Epochen kennzeichnen. Die russische Dorfgemeinde gehört zum jüngsten Typus dieser Kette. Der Ackerbauer besitzt hier schon als Privateigentum[398] das Haus, das er bewohnt, und den Garten, der dazu gehört. Da haben wir das erste auflösende Element der archaischen Form, das den älteren Typen unbekannt war. Andererseits beruhen diese alle auf Verhältnissen der Blutsverwandtschaft zwischen den Mitgliedern der Gemeinde, während der Typus, zu dem die russische Dorfgemeinde gehört, von diesen engen Banden befreit und dadurch einer größeren Entwicklung fähig ist. Die Isolierung der Dorfgemeinden, die fehlende Verbindung zwischen dem Leben der einen und dem der anderen, dieser lokalgebundene Mikrokosmos kommt nicht überall als immanenter Charakterzug des letzten der Urtypen vor; aber überall, wo er vorhanden ist, läßt er einen zentralen Despotismus über die Gemeinden aufkommen. Es scheint mir, daß in Rußland diese ursprüngliche Isolierung, die durch die weite Ausdehnung des Territoriums verursacht wurde, leicht zu beseitigen ist, sobald die von der Regierung angelegten Fesseln gesprengt sein werden.

Ich komme jetzt zum Kern der Frage. Man sollte nicht ignorieren, daß der archaische Typus, zu dem die russische Gemeinde gehört, einen inneren Dualismus birgt, der unter gewissen historischen Bedingungen ihren Untergang herbeiführen kann. Das Eigentum am Boden ist gemeinsam, aber jeder Bauer bearbeitet und bewirtschaftet sein Feld auf eigene Rech nung, ähnlich, wie der Kleinbauer im Westen. Gemeineigentum, parzellenweise Bewirtschaftung des Bodens, diese in weiter zurückliegenden Epochen nützliche Kombination wird in unserer Epoche zur Gefahr. Einerseits differenziert die bewegliche Habe, ein Element, das selbst in der Landwirtschaft eine immer bedeutendere Rolle spielt, allmählich das Vermögen der Gemeindemitglieder und ermöglicht dadurch einen Interessenkonflikt, besonders unter dem fiskalischen Druck des Staats; andererseits geht die ökonomische Überlegenheit des Gemeineigentums, als der Basis der genossenschaftlichen und kombinierten Arbeit, verloren. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß die russischen Bauern bei der Nutzung der ungeteilten Wiesen bereits die kollektive Arbeitsweise durchführen, und daß ihr Vertrautsein mit den Artelbeziehungen ihnen den Übergang von der Parzellen- zur kollektiven Bewirtschaftung sehr erleichtern würde, daß die physische Beschaffenheit des russischen Bodens zu einer kombinierten maschinellen Bearbeitung in großem Maßstabe geradezu einlädt, und daß schließlich die russische Gesellschaft, die so lange auf Kosten und zu Lasten der Dorfgemeinde gelebt hat, ihr die ersten notwendigen Vorschüsse für diese Umwandlung schuldet. Selbstverständlich handelt es sich nur um eine allmähliche Umwandlung, die damit beginnen müßte, die Gemeinde auf ihrer gegen wärtigen Basis in eine normale Lage zu versetzen.[399]

5. Jede mehr oder weniger theoretische Frage beiseite lassend, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, daß heute die nackte Existenz der russischen Gemeinde durch eine Verschwörung mächtiger Interessengruppen bedroht Ist. Eine gewisse Art von Kapitalismus, genährt durch Vermittlung des Staats auf Kosten der Bauern, hat sich gegen die Gemeinde erhoben, dieser Kapitalismus hat ein Interesse daran, sie zu zerstören. Es ist auch im Interesse der Gutsbesitzer, die mehr oder minder begüterten Bauern zu einer ländlichen Mittelklasse zu konstituieren und die armen Ackerbauern – d.h. die Masse – in einfache Lohnarbeiter zu verwandeln. Das würde wohlfeile Arbeit bedeuten! Und wie könnte dem eine durch die Geldeintreibungen des Staats ausgesaugte, durch den Handel ausgeplünderte, durch die Gutsbesitzer ausgebeutete und durch den Wucher von innen ausgehöhlte Gemeinde Widerstand leisten?

Was das Leben der russischen Gemeinde bedroht, ist weder eine historische Unvermeidlichkeit, noch eine Theorie; es ist die Unterdrückung seitens des Staats und die Ausbeutung durch kapitalistische Eindringlinge, die durch den gleichen Staat auf Kosten und zu Lasten der Bauern mächtig geworden sind.[400]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 19, S. 396-401.
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