5. »Das Geheimnis ein Spott«

[75] »Jetzt ist das Geheimnis Gemeingut geworden, das Geheimnis aller Welt und jedes Einzelnen. Entweder ist es meine Kunst oder mein Instinkt, oder ich kann es mir als eine käufliche Ware kaufen.«

Welches Geheimnis ist jetzt zum Gemeingut der Welt geworden? Das Geheimnis der Rechtslosigkeit im Staat oder das Geheimnis der gebildeten Gesellschaft oder das Geheimnis der Warenverfälschung oder das Geheimnis, Kölnisches Wasser zu fabrizieren, oder das Geheimnis der »kritischen Kritik«? Dies alles nicht, sondern das Geheimnis in abstracto, die Kategorie des Geheimnisses!

Herr Szeliga beabsichtigt, die Dienstboten und den Portier Pipelet nebst Frau als Inkarnation des absoluten Geheimnisses darzustellen. Er will den Dienstboten und den Portier des »Geheimnisses« konstruieren. Wie stellt er[75] es nun an, um aus der reinen Kategorie bis zum »Bedienten«, der vor der »verschlossenen Tür spioniert«, um aus dem Geheimnis als absolutem Subjekt, das über dem Dach in dem Wolkenhimmel der Abstraktion thront, bis zum Erdgeschoß, wo die Portierloge liegt, herabzustürzen?

Zunächst läßt er die Kategorie des Geheimnisses einen spekulativen Prozeß durchmachen. Nachdem das Geheimnis durch die Mittel, zu abortieren und zu vergiften, Gemeingut der Welt geworden ist, ist es

»also durchaus nicht mehr die Verborgenheit und Unzugänglichkeit selbst, sondern, daß es sich verbirgt, oder noch besser« – immer besser, – »daß ich's verberge, daß ich's unzugänglich mache

Mit dieser Umwandlung des absoluten Geheimnisses aus dem Wesen in den Begriff, aus dem objektiven Stadium, worin es die Verborgenheit selbst ist, in das subjektive Stadium, worin es sich verbirgt, oder noch besser, worin »ich's« verberge, sind wir noch keinen Schritt weitergekommen. Die Schwierigkeit scheint im Gegenteil zu wachsen, da ein Geheimnis im menschlichen Kopf und in der menschlichen Brust unzugänglicher und verborgner ist als auf dem Meeresgrunde. Herr Szeliga greift daher seinem spekulativen Fortschritt unmittelbar durch einen empirischen Fortschritt unter die Arme.

»Die verschloßnen Türen« – hört! hört! – »sind's nunmehr« – nunmehr! – »hinter denen das Geheimnis ausgebrütet, gebrauet, verübt wird.«

Herr Szeliga hat das spekulative Ich des Geheimnisses »nunmehr« in eine sehr empirische, sehr hölzerne Wirklichkeit, in eine Türe verwandelt.

»Damit« – nämlich mit der verschlossenen Türe und nicht mit dem Übergang aus dem verschlossenen Wesen in den Begriff – »ist aber auch die Möglichkeit gegeben, daß ich es belauschen, behorchen, ausspionieren kann.«

Es ist kein von Herrn Szeliga entdecktes »Geheimnis«, daß man vor verschlossenen Türen lauschen kann. Das massenhafte Sprichwort verleiht sogar den Wänden Ohren. Es ist dagegen ein ganz kritisch spekulatives Geheimnis, daß erst »nunmehr«, nach der Höllenfahrt durch die Verbrecherschlupfwinkel, nach der Himmelfahrt in die gebildete Gesellschaft und nach den Wundern Polidoris, Geheimnisse hinter verschlossenen Türen gebrauet und vor geschlossenen Türen belauscht werden können. Es ist ein ebenso großes kritisches Geheimnis, daß verschlossene Türen eine kategorische Notwendigkeit sind, sowohl um Geheimnisse zu brüten, zu brauen und zu verüben – wie viele Geheimnisse werden nicht hinter Gebüschen gebrütet, gebraut und verübt! – als um sie auszuspionieren.[76]

Nach dieser glänzenden dialektischen Waffentat gerät Herr Szeliga natürlich von dem Ausspionieren zu den Gründen des Ausspionierens. Hier teilt er das Geheimnis mit, daß die Schadenfreude der Grund des Ausspionierens sei. Von der Schadenfreude geht er weiter zu dem Grund der Schadenfreude.

»Bessersein will jeder«, sagt er, »als der andre, weil er nicht allein die Triebfedern seiner guten Taten geheimhält, sondern seine schlechten ganz und gar in undurchdringliches Dunkel zu hüllen sucht.«

Der Satz müßte umgekehrt heißen: Jeder hält nicht allein die Triebfedern seiner guten Taten geheim, sondern sucht seine schlechten ganz und gar in undurchdringliches Dunkel zu hüllen, weil er besser sein will als der andre.

Wir wären nun von dem Geheimnis, das sich selbst verbirgt, zu dem Ich, das verbirgt, von dem Ich zur verschlossenen Türe, von der verschlossenen Türe zum Ausspionieren, von dem Ausspionieren zum Grund des Ausspionierens, der Schadenfreude, von der Schadenfreude zum Grund der Schadenfreude, zum Besserseinwollen gelangt. Nun werden wir auch bald die Freude erleben, den Bedienten vor der verschlossenen Türe stehen zu sehen. Das allgemeine Besserseinwollen führt uns nämlich direkt dahin, daß »Jedermann den Hang hat, hinter des andern Geheimnisse zu kommen«, und hieran schließt sich ungezwungen die geistreiche Bemerkung an:

»Am günstigsten in dieser Hinsicht sind die Dienstboten gestellt.«

Wenn Herr Szeliga die Memoiren aus den Archiven der Pariser Polizei, Vidocqs Memoiren, das »Livre noir« und dergleichen gelesen hätte, so wüßte er, daß die Polizei in dieser Hinsicht noch günstiger gestellt ist als die »am günstigsten« gestellten Dienstboten, daß sie die Dienstboten nur zum groben Dienste gebraucht, daß sie nicht vor der Tür noch bei dem Negligé der Herrschaft stehenbleibt, sondern unter die Bettleinwand an ihren nackten Leib in der Gestalt einer femme galante oder selbst einer Ehefrau hinankriecht. In Sues Roman selbst ist der Polizeispion Bras rouge ein Hauptträger der Entwickelung.

Was Herrn Szeliga »nunmehr« an den Dienstboten stört, ist, daß sie nicht »interesselos« genug sind. Dieses kritische Bedenken bahnt ihm den Weg zum Portier Pipelet nebst Frau.

»Die Stellung des Portiers gewährt dagegen die verhältnismäßige Unabhängigkeit, um über die Geheimnisse des Hauses freien, interesselosen, wenn auch derben und verletzenden Spott auszuschütten.«[77]

Zunächst gerät diese spekulative Konstruktion des Portiers dadurch in große Verlegenheit, daß in sehr vielen Häusern von Paris der Dienstbote und der Portier für einen Teil der Mieter zusammenfallen.

Was die kritische Phantasie über die relativ unabhängige interesselose Stellung des Portiers betrifft, so mag man sie aus folgenden Tatsachen beurteilen. Der Pariser Portier ist der Repräsentant und der Spion des Hauseigentümers. Er wird meistens nicht vom Hauseigentümer, sondern von den Mietsleuten besoldet. Dieser prekären Stellung wegen verbindet er häufig das Geschäft des Kommissionärs mit seinem offiziellen Amt. Während des Terrorismus, der Kaiserzeit und der Restauration war der Portier ein Hauptagent der geheimen Polizei. So wurde z.B. der General Foy von seinem Portier überwacht, der die an ihn gerichteten Briefe einem in der Nähe verweilenden Polizeiagenten zum Durchlesen überlieferte. (Siehe Froment, »La police dévoilée.«) »Portier« und »Epicier« sind daher zwei Schimpfnamen, und der Portier selbst will »Concierge« angeredet sein.

Eugen Sue ist so weit davon entfernt, die Madame Pipelet als »interesselos« und harmlos zu schildern, daß sie vielmehr den Rudolph sogleich beim Geldwechseln betrügt, daß sie ihm die betrügerische Pfandleiherin, die in ihrem Hause wohnt, rekommandiert, daß sie ihm die Rigolette als eine Bekanntschaft, die angenehm werden kann, schildert, daß sie den Kommandanten neckt, weil er schlecht zahlt, weil er mit ihr marktet – in ihrem Ärger nennt sie ihn »Commandant de deux liards«, »ça t'apprendra à ne donner que douze francs par mois pour ton ménage« – weil er die »petitesse« besitzt, auf sein Holz ein Augenmerk zu haben etc. Sie selbst teilt den Grund ihres »unabhängigen« Benehmens mit. Der Kommandant zahlt nur zwölf Francs monatlich.

Bei Herrn Szeliga hat die »Anastasia Pipelet gewissermaßen den kleinen Krieg gegen das Geheimnis zu eröffnen.«

Bei Eugen Sue repräsentiert Anastasia Pipelet die Pariser Portière. Er will »die von Herrn Henry Monier meisterhaft gezeichnete Portière dramatisieren.« Herr Szeliga aber muß eine der Eigenschaften der Madame Pipelet, die »médisance«, in ein apartes Wesen und hinterher die Madame Pipelet in die Repräsentantin dieses Wesens verwandeln.

»Der Mann«, fährt Herr Szeliga fort, »der Portier Alfred Pipelet, steht ihr mit wenigerm Glück zur Seite.«[78]

Um ihn für dies Unglück zu trösten, macht ihn Herr Szeliga ebenfalls zu einer Allegorie. Er repräsentiert die »objektive« Seite des Geheimnisses, das »Geheimnis als Spott

»Das Geheimnis, dem er unterliegt, ist ein Spott, ein Streich, der ihm gespielt wird.«

Ja, in ihrem unendlichen Erbarmen macht die göttliche Dialektik den »unglücklichen, alten, kindischen Mann« zu einem »starken Mann« im metaphysischen Sinne, indem er ein sehr würdiges, sehr glückliches und sehr entscheidendes Moment im Lebensprozeß des absoluten Geheimnisses darstellt. Der Sieg über Pipelet ist

»des Geheimnisses entschiedenste Niederlage.« »Ein Gescheuterer, Mutiger wird sich durch die Posse nicht täuschen lassen.«

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 75-79.
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