a) Die »verstockte Masse« und die »unbefriedigte Masse«

[157] Die Herzenshärte, die Verstocktheit und blinde Ungläubigkeit »der Masse« hat einen ziemlich entschiedenen Repräsentanten. Dieser Repräsentant spricht von der nur »hegelsphilosophischen Ausbildung der Berliner Couleur.«

»Der wahre Fortschritt«, sagt er, »den wir machen können, liegt nur allein in der Erkenntnis der Wirklichkeit. Von Ihnen aber erfahren wir nur, daß unser Erkennen nicht von der Wirklichkeit, sondern von etwas Unwirklichem war.«

Er bezeichnet die »Naturwissenschaft« als die Grundlage der Philosophie.

»Ein guter Naturforscher verhält sich zum Philosophen wie dieser zum Theologen.«

Er bemerkt ferner von der »Berliner Couleur«:

»Ich glaube nicht zuviel gesagt zu haben, wenn ich den Zustand dieser Leute daraus zu erklären suche, daß sie zwar den Prozeß des geistigen Mauserns durchgemacht haben, aber den Mausernstoff noch nicht losgeworden sind, um die Elemente der Neubildung und Verjüngung in sich aufnehmen zu können.« »Diese« (die naturwissenschaftlichen und industriellen) »Kenntnisse müssen wir uns noch aneignen.« »Die Welt- und Menschenkenntnis, die uns vor allem nötig ist, kann auch nicht allein durch die Schärfe des Denkens gewonnen werden, sondern alle Sinne müssen mitwirken und alle Anlagen des Menschen als nötiges und unentbehrliches Werkzeug dazu verwandt werden, sonst muß die Anschauung und das Erkennen stets mangelhaft bleiben... und den moralischen Tod herbeiführen.«

Dieser Korrespondent vergoldet indes die Pille, die er der kritischen Kritik reicht. Er »läßt Bauers Worte die richtige Anwendung finden«, hat »Bauers Gedanken verfolgt«, er läßt »Bauer richtig gesagt haben«, er polemisiert endlich scheinbar nicht gegen die Kritik selbst, sondern gegen eine von ihr unterschiedene »Berliner Couleur.«[157]

Die kritische Kritik, welche sich getroffen fühlt und überdem in allen Glaubensangelegenheiten empfindlich wie eine alte Jungfer ist, läßt sich durch diese Distinktionen und halbe Huldigungen nicht täuschen.

»Sie haben sich getäuscht«, antwortet sie, »wenn Sie in der Partei, die Sie im Eingang ihres Briefes schildern. Ihren Gegner zu sehen meinten; gestehen Sie es sich vielmehr« – und nun folgt die niederschmetternde Bannformel – »Sie sind ein Gegner der Kritik selbst!«

Der Unglückliche! Der Massenhafte! Ein Gegner der Kritik selbst! Was aber den Inhalt jener massenhaften Polemik betrifft, so erklärt die kritische Kritik den Respekt für ihr kritisches Verhältnis zur Naturforschung und zur Industrie.

»Allen Respekt vor der Naturforschung! Allen Respekt vor James Watt und« – wahrhaft erhabene Wendung! – »gar keinen Respekt vor den Millionen, die er seinen Vettern und Basen verschafft hat.«

Allen Respekt vor dem Respekt der kritischen Kritik! In demselben Briefe, worin die kritische Kritik der eben erwähnten Berliner Couleur vorwirft, daß sie über gediegene und tüchtige Arbeiten mit leichter Mühe hinaus sind, ohne sie zu studieren, daß sie mit einem Werke fertig sind, indem sie darüber die Bemerkung machen, es sei epochemachend etc., in demselben Briefe wird sie selbst durch eine einfache Respektserklärung mit der gesamten Naturforschung und Industrie fertig. Die Klausel, welche die kritische Kritik ihrer Respektserklärung vor der Naturforschung anhängt, erinnert an des seligen Ritters Krug erste Donnerkeile gegen die Naturphilosophie.

»Die Natur ist nicht die einzige Wirklichkeit, weil wir sie in ihren einzelnen Produkten essen und trinken

Die kritische Kritik weiß von den einzelnen Produkten der Natur soviel, »daß wir sie essen und trinken.« Allen Respekt vor der Naturwissenschaft der kritischen Kritik!

Konsequenterweise stellt sie der unbequem zudringlichen Zumutung, »Natur« und »Industrie« zu studieren, folgende unstreitig geistreiche, rhetorische Ausrufung gegenüber:

»Oder (!) meinen Sie, mit der Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit sei es schon zu Ende? Oder (!) wissen Sie eine einzige Periode der Geschichte, die in der Tat schon erkannt ist?«

Oder glaubt die kritische Kritik, in der Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit auch nur zum Anfang gekommen zu sein, solange sie das theoretische[158] und praktische Verhalten des Menschen zur Natur, die Naturwissenschaft und die Industrie, aus der geschichtlichen Bewegung ausschließt? Oder meint sie irgendeine Periode in der Tat schon erkannt zu haben, ohne z.B. die Industrie dieser Periode, die unmittelbare Produktionsweise des Lebens selbst, erkannt zu haben? Allerdings die spiritualistische, die theologische kritische Kritik kennt nur – kennt wenigstens in ihrer Einbildung – die politischen, literarischen und theologischen Haupt- und Staatsaktionen der Geschichte. Wie sie das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe, sich selbst von der Welt trennt, so trennt sie die Geschichte von der Naturwissenschaft und Industrie, so sieht sie nicht in der grob-materiellen Produktion auf der Erde, sondern in der dunstigen Wolkenbildung am Himmel die Geburtsstätte der Geschichte.

Der Repräsentant der »verstockten« und »herzensharten« Masse, mit seinen treffenden Rügen und Zureden, wird als massenhafter Materialist abgefertigt. Nicht besser geht es einem andern, minder böswilligen, minder massenhaften Korrespondenten, der zwar Erwartungen in die kritische Kritik setzt, ohne sie aber befriedigt zu finden. Der Repräsentant der »unbefriedigten« Masse schreibt:

»Doch muß ich gestehen, daß das erste Heft Ihrer Zeitung noch gar nicht befriedigt hat. Wir hätten doch etwas anderes erwartet.«

Der kritische Patriarch antwortet in eigner Person:

»Daß es die Erwartungen nicht befriedigen würde, wußte ich im voraus, weil ich diese Erwartungen mir ziemlich leicht vorstellen konnte. Man ist so ermattet, daß man alles auf einmal haben will. Alles? Nein! Womöglich alles und nichts zugleich. Ein Alles, das keine Mühe macht, ein Alles, das man aufnehmen kann, ohne eine Entwickelung durchzumachen – ein Alles, das in einem Worte da ist.«

In seiner Verstimmung über die ungebührlichen Anforderungen der »Masse«, die von der aus Grundsatz und Naturanlage »nichts gebenden« Kritik etwas, ja alles verlangt, erzählt der kritische Patriarch in der Weise alter Herren eine Anekdote. Neulich habe ein Berliner Bekannter über die Weitschweifigkeit und breite Umständlichkeit seiner Schriften – bekanntlich schlägt Herr Bruno aus dem Minimum eines noch so kleinen angeblichen Gedankens ein vielbogiges Werk – sich bitter beklagt. Er vertröstete ihn mit dem Versprechen, ihm zur leichteren Aneignung die für den Abdruck des Buchs nötige Druckerschwärze, in eine kleine Kugel geformt, zu schicken. Der Patriarch erklärt sich die Breite seiner »Werke« aus der schlechten Verteilung der Druckerschwärze, wie er das Nichts seiner »Literatur-Zeitung«[159] aus der Leere der »profanen Masse« erklärt, die, um sich zu füllen, alles und nichts auf einmal verschlucken möchte.

Sowenig man die Wichtigkeit der bisherigen Mittellungen verkennt, sowenig kann man einen welthistorischen Gegensatz dann erblicken, daß ein massenhafter Bekannter der kritischen Kritik sie für hohl, sie ihn dagegen für unkritisch erklärt, daß ein zweiter Bekannter seine Erwartungen in der »Literatur-Zeitung« nicht befriedigt und daß ein dritter Bekannter und Hausfreund ihre Werke zu breit findet. Indessen der Bekannte Nr. 2, der Erwartungen hegt, und der Hausfreund Nr. 3, der die Geheimnisse der kritischen Kritik wenigstens kennenzulernen wünscht, bilden den Übergang zu einem inhaltsvolleren und gespannteren Verhältnis der Kritik und der »unkritischen Masse.« So grausam die Kritik gegen die Masse von »verstocktem Herzen« und »gemeinem Menschenverstand« ist, so herablassend werden wir sie gegen die nach Erlösung aus dem Gegensatz wimmernde Masse finden. Die Masse, welche sich zerschlagenen Herzens, bußfertigen Sinnes und demütigen Geistes der Kritik nähert, wird manch gewiegtes, prophetisches, biderbes Wort zum Lohn ihres wackern Strebens empfangen.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 157-160.
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