b) Die »weichherzige« und »erlösungsbedürftige« Masse

[160] Der Repräsentant der sentimentalen, herzlichen, erlösungsbedürftigen Masse fleht und wedelt um ein wohlmeinendes Wort der kritischen Kritik mit Herzensergießungen, Bücklingen und Augenverdrehungen, wie folgende:

»Warum ich Ihnen dies schreibe, warum ich mich gegen Sie verantworte? Weil ich Sie achte und deshalb Ihre Achtung wünsche; weil ich Ihnen in Bezug auf meine Entwicklung den größten Dank schuldig bin und Sie deshalb liebe. Mein Herz treibt mich, gegen Sie, der mich... getadelt, mich zu verantworten... Ich bin weit entfernt, mich Ihnen hiermit aufdringen zu wollen, und nach mir urteilend habe ich mir gedacht, daß Ihnen selbst wohl ein Beweis der Teilnahme von seiten eines Ihnen sonst noch wenig bekannten Mannes erfreulich sein könnte. Ich mache keineswegs die Prätension, daß Sie diesen Brief beantworten sollen: ich will weder Ihnen die Zeit rauben, die Sie besser gebrauchen können, noch Ihnen eine Last aufladen, noch auch mich der Kränkung aussetzen, etwas, worauf ich hoffte, unerfüllt zu sehn. Mögen Sie mir das Schreiben für Sentimentalität, Zudringlichkeit oder Eitelkeit (!) auslegen, oder wofür Sie wollen, mögen Sie antworten oder nicht, ich kann dem Triebe nicht widerstehen, es abgehen zu lassen, und wünsche nur, daß Sie den freundlichen Sinn darin erkennen mögen, der es eingegeben hat.«!!

Wie Gott sich von jeher der Kleinmütigen erbarmte, so sieht auch dieser massenhafte, aber demutsvolle und nach der kritischen Erbarmung jammernde Korrespondent seine Wünsche erfüllt. Die kritische Kritik antwortet[160] ihm wohlmeinend. Noch mehr! Sie gibt ihm die tiefsten Aufschlüsse über die Gegenstände seiner Wißbegierde.

»Vor zwei Jahren«, belehrt die kritische Kritik, »war es zeitgemäß, an die Aufklärung der Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts zu erinnern, um in der Schlacht, die damals geschlagen wurde, an einer Stelle auch diese leichten Truppen agieren zu lassen. Jetzt ist es was ganz anderes. Wahrheiten ändern sich jetzt sehr schnell. Was damals an der Stelle war, ist jetzt ein Versehen

Natürlich war es auch damals nur »ein Versehen«, aber ein Versehen »an der Stelle«, wenn die absolute Kritik Allerhöchstselbst, »Anekdota« II, p. 89, diese leichten Truppen »unsere Heiligen«, unsre »Propheten«, »Patriarchen« etc. nannte. Wer wird leichte Truppen eine Truppe von »Patriarchen« nennen? Es war ein Versehen, »an der Stelle«, wenn sie enthusiastisch von der Selbstverleugnung, sittlichen Energie und Begeisterung sprach, womit diese leichten Truppen »zeitlebens für die Wahrheit gedacht, gearbeitet – und studiert hätten.« Es war ein »Versehen«, wenn sie im »Entdeckten Christentum, Vorrede«, erklärte, diese »leichten« Truppen hätten »unüberwindlich geschienen, und jeder Kundige hätte ihnen im voraus das Zeugnis ausgestellt, sie würden die Welt aus den Fugen reißen«, und es habe »unzweifelhaft geschienen, daß es ihnen auch gelingen würde, der Welt eine neue Gestalt zu geben.« Diesen leichten Truppen?

Weiter doziert die kritische Kritik dem wißbegierigen Repräsentanten der »herzlichen Masse«:

»Wenn auch die Franzosen sich ein neues geschichtliches Verdienst durch Ihre Versuche, eine soziale Theorie aufzustellen, erworben haben, so sind sie jetzt doch erschöpft, ihre neue Theorie war noch nicht rein, ihre sozialen Phantasien, ihre friedliche Demokratie sind durchaus noch nicht von den Voraussetzungen des alten Zustandes frei.«

Die Kritik spricht hier – wenn sie anders von irgend etwas spricht – vom Fourierismus, und zwar speziell vom Fourierismus der »Démocratie pacifique.« Dieser aber ist weit davon entfernt, die »soziale Theorie« der Franzosen zu sein. Die Franzosen haben soziale Theorien, aber nicht eine soziale Theorie, der verwässerte Fourierismus nun gar, wie ihn die »Démocratie pacifique« predigt, ist nichts als die soziale Lehre eines Teils der philanthropischen Bourgeoisie, das Volk ist kommunistisch, und zwar in eine Menge verschiedener Fraktionen gespalten; die wahre Bewegung und Verarbeitung dieser verschiedenen sozialen Schattierungen hat sich nicht nur nicht erschöpft, sondern fängt erst recht an. Sie wird aber nicht in der reinen, d.h. abstrakten Theorie, wie es die kritische Kritik haben möchte, sondern in[161] einer ganz praktischen Praxis endigen, die sich um die kategorischen Kategorien der Kritik in keiner Weise bekümmern wird.

»Keine Nation«, plaudert die Kritik weiter, »hat bis jetzt etwas vor der andern voraus. Wenn eine dahin kommen kann, über die anderen ein geistiges Übergewicht... zu bekommen, so wird es die sein, die imstande ist, sich und die andern zu kritisieren und die Ursachen des allgemeinen Verfalls zu erkennen.«

Jede Nation hat bis jetzt etwas vor der andern voraus. Wenn aber die kritische Prophezeiung richtig ist, so wird keine Nation einen Vorzug vor der andern haben, denn alle zivilisierten Völker Europas – Engländer, Deutsche, Franzosen – »kritisieren« jetzt »sich und die andern« und »sind imstande, die Ursachen des allgemeinen Verfalls zu erkennen.« Endlich ist es eine phrasenhafte Tautologie, zu sagen, daß das »Kritisieren«, »Erkennen«, daß geistige Tätigkeit ein geistiges Übergewicht geben, und die Kritik, die sich mit unendlichem Selbstbewußtsein über die Nationen stellt und harrt, bis diese zu ihren Füßen kniend um Erleuchtung flehen, zeigt durch diesen karikierten, christlich-germanischen Idealismus erst recht, daß sie noch bis über die Ohren im Drecke der deutschen Nationalität steckt.

Die Kritik der Franzosen und Engländer ist nicht so eine abstrakte, jenseitige Persönlichkeit, die außer der Menschheit steht, sie ist die wirkliche menschliche Tätigkeit von Individuen, die werktätige Glieder der Gesellschaft sind, die als Menschen leiden, fühlen, denken und handeln. Darum ist ihre Kritik zugleich praktisch. Ihr Kommunismus ein Sozialismus, in dem sie praktische, handgreifliche Maßregeln geben, in dem sie nicht nur denken, sondern noch mehr handeln, ist die lebendige, wirkliche Kritik der bestehenden Gesellschaft, die Erkenntnis der Ursachen »des Verfalls.«

Nach den Aufklärungen der kritischen Kritik an das wißbegierige Glied der Masse kann sie mit Recht von ihrer »Literatur-Zeitung« sagen:

»Hier wird die reine, darstellende, die Sache ergreifende, nichts hinzusetzende Kritik geübt.«

Hier wird »nichts Selbständiges gegeben«, hier wird überhaupt nichts gegeben als die nichtsgebende Kritik, das heißt die Kritik, die sich bis zur äußersten Unkritik vollendet. Die Kritik läßt angestrichene Stellen drucken und erreicht ihre Blüte in Exzerpten. Wolfgang Menzel und Bruno Bauer reichen sich die Bruderhand, und die kritische Kritik steht da, wo die Identitätiphilosophie in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts stand, als Schelling gegen die massenhafte Zumutung protestierte, daß er etwas geben wolle. Irgend etwas als die reine, die ganz philosophische Philosophie.[162]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 160-163.
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