b) Fleur de Marie

[178] Wir finden Marie mitten unter Verbrechern als Freudenmädchen, als Leibeigne der Wirtin der Verbrecherkneipe. Innerhalb dieser Erniedrigung bewahrt sie einen menschlichen Seelenadel, eine menschliche Unbefangenheit und eine menschliche Schönheit, welche ihrer Umgebung imponieren, sie zur poetischen Blume des Verbrecherkreises erheben und ihr den Namen Fleur de Marie erwerben.[178]

Es ist notwendig, Fleur de Marie von ihrem ersten Auftreten an genau zu beobachten, um ihre ursprüngliche Gestalt mit ihrer kritischen Umgestaltung vergleichen zu können.

Bei aller Zartheit gibt Fleur de Marie sogleich Beweise von Lebensmut, Energie, Heiterkeit, Elastizität des Charakters, von Eigenschaften, welche allein ihre menschliche Entfaltung innerhalb ihrer entmenschten Lage erklären können.

Gegen den Chourineur, der sie mißhandelt, verteidigt sie sich mit ihrer Schere. Das ist die erste Situation, worin wir sie finden. Sie erscheint nicht als ein wehrloses, der überlegenen Brutalität sich widerstandslos preisgebendes Lamm, sondern als ein Mädchen, das seine Rechte geltend zu machen, das einen Kampf zu bestehen weiß.

In der Verbrecherkneipe der Rue aux Fèves erzählt sie dem Chourineur und Rudolph ihre Lebensgeschichte. Während ihrer Erzählung lacht sie über Chourineurs Witz. Sie klagt sich an, aus dem Gefängnis kommend, die hier erworbenen 300 Francs verfahren und verputzt zu haben, statt Arbeit zu suchen, »aber ich hatte niemand zum Ratgeber.« Die Erinnerung an die Katastrophe ihres Lebens – die Verschacherung an die Verbrecherwirtin – stimmt sie wehmütig. Seit ihrer Kindheit ist dies das erstemal, daß sie sich aller dieser Begebenheiten erinnert.

»Le fait est, que ça me chagrine de regarder ainsi derrière moi... ça doit être bien bon d'être honnête.«

Auf Chourineurs Spott, sie solle honett werden, ruft sie aus:

»Honnête, mon dieu! et avec quoi donc veux-tu que je sols honnête?«

Sie erklärt ausdrücklich, daß sie keine »weinerlich sich Gebärdende« sei:

»Je ne suis pas pleurnicheuse«;

aber ihre Lebenssituation ist traurig –

»Ça n'est pas gai.«

Endlich spricht sie. Im Gegensatz zur christlichen Reue, über die Vergangenheit den zugleich stoischen und epikureischen, den menschlichen Grundsatz einer Freien und Starken aus:

»Enfin ce qui est fait, est fait[179]

Begleiten wir nun Fleur de Marie auf ihrer ersten Spazierfahrt mit Rudolph.

»Das Bewußtsein deiner fürchterlichen Lage hat dich wohl oft gepeinigt«, sagt Rudolph, den es schon prickelt, eine moralische Konversation einzuleiten.

»Ja«, antwortet sie, »mehr als einmal sah ich über die Schutzwehren hinüber die Seine an, aber dann betrachtete ich die Blumen, die Sonne, dann sagte ich mir: Der Fluß wird immer da sein, ich bin noch nicht siebzehn Jahr alt, wer weiß? Dans ces moments-là il me semblait que mon sort n'était pas mérité, qu'il y avait en moi quelque chose de bon. Je me disais, on m'a bien tourmenté, mais au moins je n'ai jamais fait de mal à personne.«

Fleur de Marie betrachtet die Lage, worin sie sich befindet, nicht als freie Schöpfung, nicht als Ausdruck ihrer selbst, sondern als ein Los, das sie nicht verdient hat. Dies Mißgeschick kann sich ändern. Sie ist noch jung.

Das Gute und das Böse in Mariens Auffassung sind nicht die moralischen Abstraktionen des Guten und des Bösen. Sie ist gut, denn sie hat niemand ein Leid zugefügt, sie war immer menschlich gegen die unmenschliche Umgebung. Sie ist gut, denn Sonne und Blumen offenbaren ihr ihre eigne sonnige und blumige Natur. Sie ist gut, denn sie ist noch jung, hoffend und lebensmutig. Ihre Lage ist nicht gut, weil sie ihr einen unnatürlichen Zwang antut, weil sie nicht die Äußerung ihrer menschlichen Triebe, nicht die Verwirklichung ihrer menschlichen Wünsche, weil sie qualvoll und freudlos ist. An ihrer eigenen Individualität, an ihrem natürlichen Wesen mißt sie ihre Lebenssituation, nicht am Ideal des Guten.

In der Natur, wo die Ketten des bürgerlichen Lebens abfallen, wo sie frei ihre eigene Natur äußern kann, sprudelt Fleur de Marie daher eine Lebenslust aus, einen Reichtum der Empfindung, eine menschliche Freude an der Schönheit der Natur, die beweisen, wie die bürgerliche Situation nur ihre Oberfläche gestreift hat, ein bloßes Mißgeschick ist, und wie sie selbst weder gut noch böse, sondern menschlich ist.

»Monsieur Rodolphe, quel bonheur... de l'herbe, des champs! Si vous vouliez me permettre de descendre, il fait si beau... j'aimerais tant à courir dans ces prairies!«

Aus dem Wagen gestiegen, pflückt sie dem Rudolph Blumen, »kann kaum sprechen vor Freude« etc. etc.[180]

Rudolph entdeckt ihr, daß er sie auf den Pachthof der Madame George führen wird. Dort kann sie Taubenschläge, Stallungen etc. sehen; dort gibt es Milch, Butter, Früchte etc. Das sind die wahren Gnadenmittel für dieses Kind. Sie wird sich belustigen, das ist ihr Hauptgedanke. »C'est à n'y pas croire... comme je veux m'amuser!« Sie erklärt dem Rudolph ihren eigenen Anteil an ihrem Mißgeschick in der unbefangensten Weise. »Tout mon sort est venu de ce que je n'ai pas économisé mon argent.« Sie rät ihm daher, sparsam zu sein und Geld in die Sparkasse zu hinterlegen. Ihre Phantasie ergeht sich in den Luftschlössern, die Rudolph ihr aufbaut. Sie verfällt nur in Trauer, weil sie »die Gegenwart vergessen hatte« und »der Kontrast dieser Gegenwart mit dem Traum einer freudigen und lachenden Existenz ihr die Greuel ihrer Lage ins Gedächtnis ruft.«

Bis hierher sehen wir Fleur de Marie in ihrer ursprünglichen unkritischen Gestalt. Eugen Sue hat sich über den Horizont seiner engen Weltanschauung erhoben. Er hat den Vorurteilen der Bourgeoisie ins Gesicht geschlagen. Er wird Fleur de Marie dem Helden Rudolph überliefert haben, um seine Verwegenheit zu sühnen, um sich den Beifall aller alten Männer und Weiber, der gesamten Pariser Polizei, der gangbaren Religion und der »kritischen Kritik« zu erwerben.

Madame George, welcher Rudolph die Fleur de Marie überliefert, ist eine unglückliche, hypochondrische und religiöse Frau. Sie empfängt das Kind sogleich mit den salbungsvollen Worten, daß »Gott die segnet, die ihn lieben und fürchten, die unglücklich gewesen sind und die bereuen.« Rudolph, der Mann der »reinen Kritik«, läßt den unseligen, im Aberglauben ergrauten Pfaffen Laporte herbeirufen. Er ist bestimmt, die kritische Reform der Fleur de Marie zu vollbringen.

Marie naht heiter und unbefangen dem alten Pfaffen. Eugen Sue in seiner christlichen Brutalität läßt ihr sogleich von einem »bewundrungswürdigen Instinkt« ins Ohr flüstern, daß »die Scham da endet, wo die Reue und Buße anfangen«, nämlich, in der alleinseligmachenden Kirche. Er vergißt die heitre Unbefangenheit auf der Spazierfahrt, eine Heiterkeit, welche die Gnadenmittel der Natur und die freundliche Teilnahme Rudolphs erzeugt hatten, und welche nur durch den Gedanken, zu der Verbrecherwirtin zurückkehren zu müssen, getrübt wurde.

Der Pfaffe Laporte wirft sich sogleich in überirdische Positur. Sein erstes Wort ist:

[181] »Gottes Barmherzigkeit ist unerschöpflich, mein teures Kind! Er hat sie dir bewiesen, indem er dich in sehr schmerzlichen Prüfungen nicht verlassen hat... der großmütige Mann, der dich gerettet, hat dieses Schriftwort« – man merke wohl: das Schriftwort, nicht einen menschlichen Zweck! – »verwirklicht: Der Herr ist nahe denen, die ihn anrufen; er wird die Wünsche derer erfüllen, die ihn anrufen; er wird hören ihr Schreien und er wird sie erretten... der Herr wird sein Werk vollenden.«

Marie versteht noch nicht den bösartigen Sinn des pfäffischen Sermons. Sie antwortet:

»Ich werde beten für die, die sich meiner erbarmt und mich zu Gott zurückgeführt haben.«

Ihr erster Gedanke ist nicht Gott, sondern ihr menschlicher Retter, und für ihn, nicht für ihre eigne Absolution will sie beten. Sie traut ihrem Gebete einen Einfluß auf das Heil andrer zu. Ja, sie ist noch so naiv, zu unterstellen, daß sie schon zu Gott zurückgeführt ist. Der Pfaffe muß diesen heterodoxen Wahn zerstören.

»Bald«, unterbricht er sie, »bald wirst du die Absolution verdienen, die Absolution von deinen großen Fehlern... denn um noch einmal mit dem Propheten zu sprechen: Der Herr hält alle die aufrecht, die nahe am Fallen sind.«

Man übersehe nicht die unmenschliche Wendung des Priesters. Bald wirst du die Absolution verdienen! Noch sind dir deine Sünden nicht vergeben.

Wie Laporte dem Mädchen zum Empfange das Sündenbewußtsein, so präsentiert ihr Rudolph beim Abschied ein goldnes Kreuz, ein Symbol der christlichen Kreuzigung, die ihr bevorsteht.

Marie wohnt schon einige Zeit auf dem Pachthofe der Madame George. Lauschen wir zunächst einem Zwiegespräch des greisen Pfaffen Laporte mit Madame George. Eine »Heirat« hält er für die Marie unmöglich, »weil kein Mann, trotz seiner Bürgschaft, der Vergangenheit, welche ihre Jugend besudelt hat, die Stirne zu bieten den Mut haben wird.« Er setzt hinzu, »sie habe große Fehler zu sühnen, der moralische Sinn hätte sie aufrechterhalten müssen.« Er beweist die Möglichkeit, sich aufrechtzuerhalten, wie der gemeinste Bourgeois: »es seien viele wohltätige Leute in Paris.« Der heuchlerische Priester weiß sehr wohl, daß diese wohltätigen Leute von Paris zu jeder Stunde auf den belebtesten Straßen gleichgültig an den kleinen Mädchen von sieben bis acht Jahren vorübergehen, welche bis um Mitternacht allumettes und dergleichen feilbieten, wie es einst Marie getan, und deren zukünftiges Los fast ohne Ausnahme das der Marie ist.[182]

Der Pfaffe hat es auf die Buße Mariens abgesehen; in seinem Innern ist sie verurteilt. Folgen wir der Fleur de Marie auf einem Abendspaziergang mit Laporte, den sie nach Hause begleitet.

»Siehe, mein Kind«, beginnt er mit salbungsvoller Schönrednerei, »den unermeßlichen Horizont, dessen Grenzen man nicht mehr wahrnimmt« – es ist nämlich Abend – »es scheint mir, daß die Stille und die Unbegrenztheit uns fast eine Idee der Ewigkeit gebe... Ich sage dir das, Marie, weil du empfindsam bist für die Schönheiten der Schöpfung... Ich war oft gerührt von der religiösen Bewundrung, welche sie dir einflößen, dir – die so lange des religiösen Gefühls enterbt war.«

Es ist dem Pfaffen schon gelungen, die unmittelbar naive Freude der Marie an den Naturschönheiten in eine religiöse Bewunderung umzuwandeln. Die Natur ist schon für sie zur devot gewordnen, christianisierten Natur, zur Schöpfung erniedrigt. Das durchsichtige Luftmeer ist zum dunkeln Symbol einer flauen Ewigkeit entweiht. Sie hat schon gelernt, daß alle menschlichen Äußerungen ihres Wesens »profan«, der Religion, der wahren Weihe enterbt, irreligiös, gottlos waren. Der Pfaffe muß sie vor sich selbst beschmutzen, ihre natürlichen und geistigen Kräfte und Gnadenmittel in den Staub ziehen, damit sie empfänglich werde für das übernatürliche Gnadenmittel, das er ihr verspricht – für die Taufe.

Als Marie dem Pfaffen nun ein Geständnis machen will und ihn um Nachsicht bittet, antwortet er:

»Der Herr hat dir bewiesen, daß er barmherzig ist.«

Marie darf in der Nachsicht, die sie erfährt, nicht eine natürliche, sich von selbst verstehende Beziehung eines verwandten menschlichen Wesens zu ihr, dem menschlichen Wesen, erblicken. Sie muß darin eine überschwengliche, übernatürliche, übermenschliche Barmherzigkeit und Herablassung, in der menschlichen Nachsicht eine göttliche Barmherzigkeit erblicken. Sie muß alle menschlichen und natürlichen Verhältnisse in Verhältnisse zu Gott transzendieren. Die Weise, wie Fleur de Marie in ihrer Antwort auf das pfäffische Salbadern von Gottes Barmherzigkeit eingeht, beweist, wie weit die religiöse Doktrin sie schon verderbt hat.

Sobald sie in ihre verbesserte Lage getreten sei, sagt sie, habe sie nur ihr neues Glück empfunden.

»Jeden Augenblick dachte ich an Herrn Rudolph. Oft hob ich die Augen gen Himmel, nicht um Gott, sondern um ihn, Herrn Rudolph, dort zu suchen und ihm zu danken. Ja – ich klage mich dessen an, mein Vater, ich dachte mehr an ihn als an Gott; denn er hatte für mich getan, was Gott allein hätte tun können... Ich war glücklich, glücklich wie jemand, der für immer einer großen Gefahr entronnen ist.«[183]

Fleur de Marie findet es schon unrecht, eine neue glückliche Lebenssituation einfach als das, was sie wirklich ist, als ein neues Glück empfunden, d.h. sich natürlich und nicht übernatürlich zu ihr verhalten zu haben. Sie klagt sich schon an, in dem Menschen, der sie gerettet hat, das, was er wirklich war, ihren Retter, gesehen und nicht an seine Stelle einen imaginären Retter, Gott, untergeschoben zu haben. Schon ist sie ergriffen von der religiösen Heuchelei, welche dem andern Menschen nimmt, was er um mich verdient hat, um es Gott zu geben, welche überhaupt alles Menschliche am Menschen als ihm fremd und alles Unmenschliche an ihm als sein eigentliches Eigentum betrachtet.

Marie erzählt uns, daß die religiöse Transformation ihrer Gedanken, ihrer Empfindungen, ihres Verhaltens zum Leben durch Madame George und Laporte bewirkt worden sei.

»Als Rudolph mich von der Cité wegführte, hatte ich schon unbestimmt das Bewußtsein meiner Erniedrigung, aber die Erziehung, die Ratschläge, die Beispiele, welche ich von Ihnen und Madame George erhalten habe, haben mir begreiflich gemacht... daß ich mehr schuldig als unglücklich gewesen bin... Sie und Madame George haben mir die unendliche Tiefe meiner Verwerfung begreiflich gemacht.«

D.h., dem Priester Laporte und der Madame George verdankt sie es, das menschliche und darum erträgliche Bewußtsein der Erniedrigung mit dem christlichen und darum unerträglichen Bewußtsein einer unendlichen Verworfenheit vertauscht zu haben. Der Pfaffe und die Betschwester haben sie belehrt, sich von christlichem Standpunkt aus zu beurteilen.

Marie empfindet die Größe des geistigen Unglücks, worin man sie gestürzt hat. Sie sagt:

»Weil das Bewußtsein des Guten und Bösen mir so fürchterlich sein sollte, warum überließ man mich nicht meinem unglücklichen Los?... Hätte man mich nicht der Infamie entrissen, das Elend, die Schläge würden mich sehr bald getötet haben; wenigstens wäre ich gestorben in der Unwissenheit über eine Reinheit, die ich immer vergebens wünschen werde.«

Der herzlose Pfaffe antwortet:

»Selbst die edelste Natur, wenn sie auch nur einen Tag in den Schmutz versunken war, woraus man dich gezogen hat, bewahrt davon ein unauslöschliches Brandmal. Das ist die Unabänderlichkeit der göttlichen Justiz

Fleur de Marie, tief von diesem honigglatten Pfaffenfluch verwundet, ruft aus:

»Ihr seht es also, daß ich verzweifeln muß.«[184]

Der ergraute Sklave der Religion erwidert:

»Du mußt daran verzweifeln, aus deinem Leben diese trostlose Seite auszureißen, aber du mußt hoffen in die unendliche Barmherzigkeit Gottes. Hier unten für dich, armes Kind, Tränen, Reue, Buße, aber eines Tage? dort oben, dort oben, Verzeihung, ewige Glückseligkeit!«

Marie ist noch nicht blödsinnig genug, um mit der ewigen Glückseligkeit und der Verzeihung dort oben sich beruhigen zu lassen.

»Mitleid«, ruft sie aus, »Mitleid, mein Gott! Ich bin noch so jung... malheur à moi!«

Und die heuchlerische Sophistik des Priesters erreicht ihre Spitze:

»Im Gegenteil, Glück dir, Marie, Glück dir, welcher der Herr die Gewissensbisse schickt, voll von Bitterkeit, aber wohltätig! Sie beweisen die religiöse Empfänglichkeit deiner Seele... jedes deiner Leiden wird dort oben gezählt werden. Glaube mir, Gott hat dich einen Augenblick auf dem schlechten Wege gelassen, um dir den Ruhm der Reue vorzubehalten und die ewige Belohnung, welche der Buße geschuldet ist.«

Von diesem Augenblick an ist Marie zur Leibeignen des Sündenbewußtseins geworden. Während sie in der unglücklichsten Lebenssituation sich zu einer liebenswürdigen, menschlichen Individualität zu bilden wußte und innerhalb der äußern Erniedrigung sich ihres menschlichen Wesens, als ihres wahren Wesens, bewußt war, wird ihr nun der Schmutz der jetzigen Gesellschaft, der sie äußerlich berührt hat, zu ihrem innersten Wesen und die stete hypochondrische Selbstquälerei mit diesem Schmutz zur Pflicht, zu der von Gott selbst vorgezeichneten Lebensaufgabe, zum Selbstzweck ihres Daseins. Während sie früher sich rühmte: »Je ne suis pas pleurnicheuse«, während sie wußte: »Ce qui est fait, est fait«, wird ihr nun die Selbstzerknirschung zum Guten und die Reue zum Ruhm.

Es zeigt sich später, daß Fleur de Marie Rudolphs Tochter ist. Wir finden sie wieder als Prinzessin von Geroldstein. Wir belauschen sie in einem Zwiegespräch mit ihrem Vater:

»En vain je prie Dieu de me délivrer de ces obsessions, de remplir uniquement mon cœur de son pieux amour, de ses saintes espérances, de me prendre enfin toute entière, puisque je veux me donner toute entière a lui... il n'exauce pas mes vœux – sans doute, parce que mes préoccupations terrestres me rendent indigne d'entrer en commun avec lui.«[185]

Nachdem der Mensch seine Verirrungen als unendliche Verbrechen gegen Gott eingesehen hat, kann er sich nur der Erlösung und Gnade versichern, wenn er sich ganz Gott hingibt, ganz der Welt und der Beschäftigung mit der Welt abstirbt. Nachdem Fleur de Marie eingesehn hat, daß die Befreiung aus ihrer unmenschlichen Lebenslage ein göttliches Wunder ist, muß sie selbst zur Heiligen werden, um solchen Mirakels würdig zu sein. Ihre menschliche Liebe muß sich in die religiöse Liebe, das Streben nach Glück in das Streben nach ewiger Glückseligkeit, die weltliche Befriedigung in die heilige Hoffnung, die Gemeinschaft mit den Menschen in die Gemeinschaft mit Gott verwandeln. Gott soll sie ganz nehmen. Sie spricht selbst das Geheimnis aus, warum er sie nicht ganz nimmt. Sie hat sich ihm noch nicht ganz gegeben, ihr Herz ist noch von irdischen Angelegenheiten befangen und besessen. Es ist dies das letzte Aufflackern ihrer tüchtigen Natur. Sie gibt sich ganz an Gott, indem sie der Welt ganz abstirbt und ins Kloster geht.


Niemand soll ins Kloster gehn,

Als er sei denn wohlversehn

Mit gehörigem Sündenvorrat,

Damit es ihm so früh als spat

Nicht mög' an Vergnügen fehlen,

Sich mit Reue durchzuquälen.

(Goethe.)


Im Kloster wird Fleur de Marie durch die Intrigen Rudolphs zur Äbtissin promoviert. Sie weigert sich im Anfang, diese Stelle anzunehmen, im Gefühl ihrer Unwürdigkeit. Die alte Äbtissin redet ihr zu:

»Je vous dira: plus, ma chère fille, avant d'entrer au bercail, votre existence aurait été aussi égarée, qu'elle à été au contraire pure et louable... que les vertus évangéliques, dont vous avez donné l'exemple depuis votre séjour ici, expieraient et rachèteraient encore aux yeux du Seigneur un passé si coupable qu'il fût.«

Wir sehen aus den Worten der Äbtissin, daß die weltlichen Tugenden der Fleur de Marie in evangelische Tugenden sich verwandelt haben, oder vielmehr ihre wirklichen Tugenden dürfen nur mehr evangelisch karikiert auftreten.

Marie antwortet auf die Worte der Äbtissin:

»Sainte mère – je crois maintenant pouvoir accepter.«[186]

Das Klosterleben entspricht Mariens Individualität nicht – sie stirbt. Das Christentum tröstet sie nur in der Einbildung, oder ihr christlicher Trost ist eben die Vernichtung ihres wirklichen Lebens und Wesens – ihr Tod.

Rudolph hat also die Fleur de Marie erst in eine reuige Sünderin, dann die reuige Sünderin in eine Nonne und endlich die Nonne in eine Leiche verwandelt. Bei ihrem Leichenbegängnis hält außer dem katholischen Priester noch der kritische Priester Szeliga einen Leichensermon.

Ihr »unschuldiges« Dasein nennt er ihr »vergängliches« Dasein und stellt es der »ewigen und unvergeßlichen Schuld« gegenüber. Er rühmt es, daß ihr »letzter Atemzug« die »Bitte um Vergebung und Verzeihung« ist. Wie aber der protestantische Geistliche, nachdem er die Notwendigkeit der Gnade des Herrn, die Teilnahme des Verstorbenen an der allgemeinen Erbsünde und die Stärke seines Sündenbewußtseins dargestellt hat, nun mit einer weltlichen Wendung die Tugenden des Verstorbenen anpreisen muß, so braucht auch Herr Szeliga die Wendung:

»Und doch ist ihr persönlich nichts zu vergeben.«

Er wirft endlich auf Mariens Grab die verwelkteste Blume der Kanzelberedsamkeit:

»Innerlich rein wie selten ein Mensch, entschlummerte sie dieser Welt.«

Amen!

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 178-187.
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