8. Rudolph, »das enthüllte Geheimnis aller Geheimnisse«

[213] Das Wundermittel, womit Rudolph alle seine Erlösungen und Wunderkuren bewirkt, sind nicht seine schönen Worte, sondern sein bares Geld. So sind die Moralisten, sagt Fourier. Man muß ein Millionär sein, um es ihren Helden nachmachen zu können.

Die Moral ist die »Impuissance mise en action.« So oft sie ein Laster bekämpft, unterliegt sie. Und Rudolph erhebt sich nicht mal auf den Standpunkt der selbständigen Moral, welche wenigstens auf dem Bewußtsein der Menschenwürde beruht. Seine Moral beruht dagegen auf dem Bewußtsein der menschlichen Schwäche. Er ist die theologische Moral. Wir haben die Heldentaten, die er mit seinen fixen, christlichen Ideen, an denen er die Welt mißt, mit der »charité«, dem »dévouement«, der »abnégation«, dem »repentir«, den »bons« und den »méchants«, der »récompense« und der »punition«, den »châtiments terribles«, dem »isolement«, dem »salut de l'âme« etc. vollbringt, bis ins Detail verfolgt und als Eulenspiegeleien nachgewiesen. Wir haben es hier nur noch mit dem persönlichen Charakter Rudolphs, dem »enthüllten Geheimnis aller Geheimnisse« oder dem enthüllten Geheimnis der »reinen Kritik« zu tun.

Der Gegensatz des »Guten« und des »Bösen« tritt dem kritischen Herkules schon als Jüngling in zwei Personifikationen gegenüber; Murph und Polidori sind beide Lehrer Rudolphs. Der erste erzieht ihn zum Guten und ist »der Gute.« Der zweite erzieht ihn zum Bösen und ist »der Böse.« Damit diese Auffassung durchaus nichts an Trivialität ähnlichen Auffassungen in andern moralischen Romanen nachgebe, darf »der Gute«, Murph, nicht »savant«, nicht »besonders geistig bevorzugt« sein. Dagegen ist er ehrlich, einfach, einsilbig, weiß mit den Silben schändlich, niederträchtig gegen das Böse sich groß und hat einen horreur vor dem Niedrigen. Er setzt, um mit Hegel zu reden, ehrlicherweise die Melodie des Guten und Wahren in die Gleichheit der Töne, d.h. in eine Eine Note.

Polidori dagegen ist ein Wunder an Klugheit, Kenntnissen und Bildung, dabei von der »gefährlichsten Immoralität«, und namentlich besitzt er, was Eugen Sue als ein Glied der jungen frommen Bourgeoisie Frankreichs nicht vergessen durfte: »le plus effrayant scepticisme«. Eugen Sues und seines[213] Helden Geistesenergie und Bildung mag man aus dem panischen Schrecken vor dem Skeptizismus beurteilen.

»Murph«, sagt Herr Szeliga, »ist zugleich die verewigte Schuld des dreizehnten Januar und die ewige Tilgung dieser Schuld durch unvergleichliche Liebe und Aufopferung für die Person Rudolphs.«

Wie Rudolph der deus ex machina und der Mittler der Welt, so ist Murph wieder der persönliche deus ex machina und der Mittler Rudolphs.

»Rudolph und das Heil der Menschheit, Rudolph und die Verwirklichung der Wesensvollkommenheiten des Menschen ist für Murph eine untrennbare Einheit, eine Einheit, der er sich nicht mit der dummen hündischen Ergebenheit des Sklaven hingibt, sondern wissend und selbständig.«

Murph ist also ein aufgeklärter, wissender und selbständiger Sklave. Er personifiziert, wie jeder Fürstendiener, seinen Herrn mit dem Heil der Menschheit. Graun schmeichelt dem Murph mit der Anrede »intrépide gard du corps.« Rudolph selbst nennt ihn den modèle d'un valet, und er ist wirklich ein musterhafter Bedienter. Er war sehr pünktlich darin, wie Eugen Sue berichtet, den Rudolph im tête-à-tête mit Monseigneur anzureden. Bei andern nennt er ihn des Inkognito wegen mit den Lippen Monsieur, aber mit dem Herzen Monseigneur.

»Murph hebt mit den Schleier von den Geheimnissen, aber nur um Rudolphs willen. Er hilft an der Arbeit, die Macht der Geheimnisse zu zerstören.«

Die Dichtigkeit des Schleiers, der dem Murph die einfachsten Weltzustände verhüllt, mag man aus seiner Unterhaltung mit dem Gesandten Graun beurteilen. Aus der gesetzlichen Befugnis der Selbstverteidigung im Notfall schließt er darauf, daß Rudolph den gefesselten und »wehrlosen« maître d'école als Femrichter habe blenden dürfen. Seine Schilderei, wie Rudolph vor den Assisen seine »edeln« Handlungen erzählen, schönrednerische Phrasen auskramen und sein großes Herz strömen lassen werde, ist eines Gymnasiasten würdig, der soeben Schillers »Räuber« gelesen hat. Das einzige Geheimnis, welches Murph der Welt zu lösen gibt, ist die Frage, ob er mit Kohlenstaub oder mit schwarzer Farbe sein Gesicht eingerußt hat, als er den charbonnier spielte.

[214] »Die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden.« (Matth[äus] 13, 49.) »Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die da Böses tun; Preis aber und Ehre und Frieden all denen, die Gutes tun.« (Paul[us] Röm[er] 2, 9-10.)

Rudolph macht sich selbst zu einem solchen Engel. Er zieht in die Welt aus, die Bösen von den Gerechten zu scheiden, die Bösen zu bestrafen, die Guten zu belohnen. Die Vorstellung des Bösen und Guten hat sich seinem schwachen Gehirn so sehr eingeprägt, daß er an den leibhaften Satan glaubt und den Teufel lebendig einfangen will, wie weiland Prof. Sack zu Bonn. Andrerseits versucht er dagegen, den Gegensatz des Teufels, Gott, im kleinen zu kopieren. Er liebt es »de jouer un peu le rôle de la providence.« Wie in der Wirklichkeit alle Unterschiede immer mehr in den Unterschied von arm und reich zusammenschmelzen, so lösen sich in der Idee alle aristokratischen Unterschiede in den Gegensatz des Guten und des Bösen auf. Diese Unterscheidung ist die letzte Form, welche der Aristokrat seinen Vorurteilen erteilt. Rudolph selbst gilt sich als ein Guter, und die Bösen sind dazu da, ihm den Selbstgenuß seiner eignen Vortrefflichkeit zu gewähren. Betrachten wir »den Guten« etwas näher.

Herr Rudolph übt eine Wohltätigkeit und eine Verschwendung aus, wie etwa der Kalif von Bagdad in Tausend und eine Nacht. Er kann diese Lebensweise unmöglich führen, ohne sein kleines deutsches Ländchen wie ein Vampir bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Nach Herrn Sues eignem Bericht würde er unter die mediatisierten deutschen Fürsten gehören, hätte ihn nicht die Protektion eines französischen Marquis vor der unfreiwilligen Abdankung gerettet. Die Größe seines Landes ist nach dieser Angabe zu taxieren. Wie kritisch Rudolph seine eignen Verhältnisse beurteilt, mag man ferner daraus ersehen, daß er, der kleine deutsche Serenissimus, in Paris ein halbes Inkognito bewahren zu müssen glaubt, um kein Aufsehen zu erregen. Er führt eigens einen Kanzler aus dem kritischen Grunde mit sich, damit er ihm »le côté théatral et puéril du pouvoir souverain« darstelle; als habe ein kleiner Serenissimus außer sich und seinem Spiegel noch einen dritten Repräsentanten der theatralischen und kindischen Seite der souveränen Macht nötig. Rudolph hat seine Leute in dieselbe kritische Selbstverkennung zu versetzen gewußt. So merken der Bediente Murph und der Gesandte Graun nicht, wie der Pariser homme d'affaires, Monsieur Badinot, sie persifliert, wenn er sich den Anschein gibt, als halte er ihre Privataufträge für Staatsangelegenheiten, wenn er sarkastisch plaudert über die

[215] »rapports occultes qui peuvent exister entre les intérêts le plus divers et les destinés des empires.« »Ja«, berichtet der Gesandte Rudolphs, »er hat die Unverschämtheit, mir manchmal zu sagen: ›Wieviel dem Volk unbekannte Komplikationen in der Regierung eines Staates! Wer würde sagen, daß die Noten, die ich Ihnen, Herr Baron, mitteile, zweifelsohne ihren Teil von Einfluß auf den Gang der europäischen Angelegenheiten haben?‹«

Der Gesandte und Murph finden nicht darin die Unverschämtheit, daß man ihnen einen Einfluß auf die europäischen Angelegenheiten zumutet, sondern daß Badinot seinen niedrigen Beruf dergestalt idealisiert.

Rufen wir uns zunächst eine Szene aus Rudolphs häuslichem Leben ins Gedächtnis. Rudolph erzählt dem Murph, »er sei in den Augenblicken seines Stolzes und seiner Glückseligkeit.« Gleich darauf gerät er außer sich, weil Murph ihm auf eine Frage nicht antworten will. »Je vous ordonne de parler.« Murph will sich nicht befehlen lassen. Rudolph sagt ihm: »Je n'aime pas les réticences.« Er vergißt sich bis zu der Gemeinheit, dem Murph anzudeuten, daß er ihm alle seine Dienste bezahle. Der Knabe ist nicht eher zu beruhigen, bis Murph ihn an den dreizehnten Januar erinnert. Nachträglich macht sich die Knechtsnatur Murphs, die sich einen Augenblick vergessen hatte, geltend. Er reißt sich die »Haare« aus, die er glücklicherweise nicht besitzt, er verzweifelt darüber, den hohen Herrn, der ihn »das Muster von einem Bedienten«, der ihn »seinen guten, seinen alten, seinen getreuen Murph« nennt, etwas rauh angelassen zu haben.

Nach diesen Proben des Schlechten in ihm wiederholt Rudolph seine fixen Ideen über das »Gute« und das »Schlechte« und berichtet über die Fortschritte, die er im Guten macht. Er nennt Almosen und Mitleid die keuschen und frommen Trösterinnen seiner verwundeten Seele. Sie an verworfene, unwürdige Wesen prostituieren, das wäre entsetzlich, unfromm, ein Sakrilegium. Versteht sich, Mitleid und Almosen sind Trösterinnen seiner Seele. Sie entweihen wäre daher ein Sakrilegium. Es wäre »Zweifel einflößen an Gott, und der, welcher gibt, muß an ihn glauben machen.« Einem Verworfenen ein Almosen geben – der Gedanke ist nicht auszudenken!

Jede seiner Seelenbewegungen ist für Rudolph von unendlicher Wichtigkeit. Er taxiert und beobachtet sie daher beständig. So tröstet sich der Tor hier gegen Murph, daß Fleur de Marie ihn gerührt habe. »Ich war bewegt bis zu Tränen, und man klagt mich an, blasiert, hart, unbeugsam zu sein!« Nachdem er dergestalt seine eigne Güte bewiesen hat, exaltiert er sich über das [216] »Schlechte«, über die Schlechtigkeit der unbekannten Mutter der Marie, und mit aller möglichen Feierlichkeit wendet er sich zu Murph: »Tu le sais – certaines vengeances me sont bien chères, certaines souffrances bien précieuses.« Dabei schneidet er so diabolische Fratzen, daß der getreuliche Bediente erschrocken ausruft: »Hélas, Monseigneur!« Dieser große Herr ähnelt den Gliedern des Jungen Englands, die auch die Welt reformieren wollen, edle Handlungen begehen und ähnlichen hysterischen Zufällen unterworfen sind.

Den Aufschluß zu den Abenteuern und Situationen, denen sich Rudolph aussetzt, finden wir zunächst in seinem abenteuerlichen Naturell. Er liebt »das Pikante des Romans, Zerstreuung, Abenteuer, Verkleidung«, seine »Neugierde« ist »unersättlich«, er empfindet das »Bedürfnis lebhafter, stechender Gemütsaufregung«, er ist »begierig nach gewaltsamen Nervenerschütterungen.«

Dieses sein Naturell wird unterstützt durch die Sucht, die Vorsehung zu spielen und die Welt nach seinen fixen Einbildungen einzurichten.

Sein Verhältnis zu dritten Personen ist entweder durch eine abstrakte fixe Idee vermittelt oder durch ganz persönliche, zufällige Motive.

So befreit er den Negerarzt David und seine Geliebte nicht aus der unmittelbar menschlichen Teilnahme, welche diese Personen einflößen, nicht um sie selbst zu befreien, sondern um dem Sklaveneigentümer Willis gegenüber die Vorsehung zu spielen und seinen Unglauben an Gott zu züchtigen. So erscheint ihm der maître d'école als ein gefundnes Fressen, um seine längst ausgeheckte Straftheorie anzuwenden. Die Unterhaltung Murphs mit dem Gesandten Graun läßt uns von der andern Seite tiefe Blicke in die rein persönlichen Motive tun, welche Rudolphs edle Handlungen bestimmen.

Das Interesse des Monseigneur an Fleur de Marie rührt, wie Murph sagt, »à part« das Mitleid, welches die Arme einflößt, daher weil die Tochter, deren Verlust er so bitter empfindet, gegenwärtig dasselbe Alter haben würde. Der Anteil Rudolphe an der Marquise von Harville hat, »à part« seine menschenfreundlichen Marotten, den persönlichen Grund, daß ohne den alten Marquis von Harville und dessen Freundschaft mit dem Kaiser Alexander Rudolphs Vater aus der Reihe der deutschen Souveräne eliminiert worden wäre.

Seine Wohltätigkeit gegen Madame George und sein Interesse für Germain, ihren Sohn, hat denselben Grund. Madame George gehört der Familie Harville an.

[217] »C'est non moins à ses malheurs et à ses vertus qu'à cette parenté que la pauvre Madame George a dû les incessantes bontés de son Altesse.«

Der Apologet Murph versucht die Doppelsinnigkeit von Rudolphs Motiven durch Wendungen wie »surtout, à part, non moins que« zu vertuschen.

Rudolphs ganzer Charakter faßt sich endlich zusammen in der »reinen« Heuchelei, womit er die Ausbrüche seiner schlechten Leidenschaften als Ausbrüche gegen die Leidenschaften der Schlechten vor sich selbst und andern darzustellen weiß, in ähnlicher Weise, wie die kritische Kritik ihre eignen Dummheiten als Dummheiten der Masse, ihre gehässigen Rankünen gegen die Entwickelung der Welt außer ihr als Rankünen der Welt außer ihr gegen die Entwickelung, endlich ihren Egoismus, der allen Geist in sich verschluckt zu haben meint, als egoistischen Widerspruch der Masse gegen den Geist darstellt.

Wir werden die »reine« Heuchelei Rudolphs in seinem Verhalten zum maître d'école, zur Gräfin Sarah MacGregor und zum Notar Jacques Ferrand beweisen.

Rudolph hat den maître d'école zu einem Einbruch in seine Wohnung überredet, um ihn in die Falle zu locken und seiner habhaft zu werden. Er hat hierbei ein rein persönliches, kein allgemein menschliches Interesse. Der maître d'école ist nämlich im Besitz des Portefeuilles der Gräfin Mac Gregor, und Rudolph hat ein großes Interesse, sich dieses Portefeuilles zu bemächtigen. Bei Gelegenheit des tête-à-tête mit dem maître d'école heißt es ausdrücklich:

»Rodolphe se trouvait dans une anxiété cruelle; s'il laissait échapper cette occasion de s'emparer du maître d'école, il ne la retrouverait sans doute jamais; ce brigand emporterait les secrets que Rodolphe avait tant d'intérêt à savoir.«

Rudolph bemächtigt sich also im maître d'école des Portefeuilles der Gräfin Mac Gregor; er bemächtigt sich des maître d'école aus persönlichem Interesse; er blendet ihn aus persönlicher Leidenschaft.

Als Chourineur dem Rudolph den Kampf des maître d'école mit Murph erzählt und sein Sträuben damit motiviert, daß er wußte, was ihm bevorstehe, antwortet Rudolph: »Er wußte es nicht«, und er sagt dies »d'un air[218] sombre, les traits contractés par cette expression presque féroce, dont nous avons parlé.« Der Gedanke der Rache fährt ihm durch den Kopf, er antizipiert den wilden Genuß, den ihm die barbarische Bestrafung des maître d'école bereiten wird.

So ruft auch Rudolph beim Eintreten des Negerarztes David, den er zum Werkzeug seiner Rache bestimmt hat:

»›Vengeance!... Vengeance!‹ s'écria Rodolphe avec une fureur froide et concentrée

Eine kalte und konzentrierte Wut arbeitete in ihm. Dann murmelt er seinen Plan dem Arzt leise ins Ohr, und als dieser zurückbebt, weiß er sogleich der persönlichen Rache ein »reines« theoretisches Motiv unterzuschieben. Es handle sich, sagt er, nur um die »Anwendung einer Idee«, die ihm schon oft durch sein erhabenes Gehirn gefahren sei, und er vergißt nicht, salbungsvoll hinzuzusetzen: »Er wird noch den unbegrenzten Horizont der Reue vor sich haben.« Er ahmt die spanische Inquisition nach, welche, nach der Verweisung der zum Feuer Verurteilten an die weltliche Justiz, eine heuchlerische Bitte um Barmherzigkeit für den reuigen Sünder hinzufügte.

Es versteht sich, daß der gnädige Herr, als das Verhör und die Exekution des maître d'école vor sich gehen sollen, in einem höchst komfortablen Kabinett, in einem langen, höchst schwarzen Schlafrock und in einer höchst interessanten Blässe dasitzt, und, um den Gerichtshof getreu zu kopieren, einen langen Tisch mit Überführungsstücken vor sich stehen hat. Er muß nun auch den Ausdruck der Wildheit und Rache, womit er dem Chourineur und dem Arzt den Plan der Blendung mitteilte, verlieren und in der hochkomischen, feierlichen Haltung eines Weltrichters aus eigner Erfindung, »ruhig, traurig, gefaßt« sich präsentieren.

Um gar keinen Zweifel über das »reine« Motiv der Blendung übrigzulassen, gesteht der alberne Murph dem Gesandten Graun:

»Die grausame Bestrafung des maître d'école bezweckte vorzugsweise, mich an dem Meuchelmörder zu rächen

In einem tête-à-tête mit Murph äußert sich Rudolph dahin:

»Ma haine des méchants... est devenue plus vivace, mon aversion pour Sarah augmente en raison sans doute du chagrin que me cause la mort de ma fille.«[219]

Rudolph unterrichtet uns von der größern Lebhaftigkeit, welche sein Haß gegen die Bösen gewonnen hat. Versteht sich, sein Haß ist ein kritischer, reiner, moralischer Haß, der Haß gegen die Bösen, weil sie böse sind. Er betrachtet diesen Haß daher als einen Fortschritt, den er selbst im Guten macht.

Zugleich aber verrät er, daß dieses Wachstum des moralischen Hasses nichts anders ist als eine heuchlerische Sanktion, womit er die Zunahme seiner persönlichen Abneigung gegen Sarah beschönigt. Die unbestimmte moralische Einbildung – die Zunahme des Hasses gegen die Bösen ist nur die Schale der bestimmten unmoralischen Tatsache, der Zunahme der Abneigung gegen Sarah. Diese Abneigung hat einen sehr natürlichen, sehr individuellen Grund, seinen persönlichen Kummer. Dieser Kummer ist das Maß seiner Abneigung. Sans doute!

Eine noch widerlichere Heuchelei zeigt sich in Rudolphs Zusammenkunft mit der sterbenden Gräfin MacGregor.

Nach der Enthüllung des Geheimnisses, daß Fleur de Marie die Tochter Rudolphs und der Gräfin ist, nähert sich ihr Rudolph, »l'air menaçant, impitoyable.« Sie bittet ihn um Gnade. »Pas de grâce«, antwortet er, »malé-diction sur vous... vous... mon mauvais génie et celui de ma race.« Also die »race« will er rächen. Er berichtet der Gräfin nun weiter, wie er, zur Buße für den Mordanfall auf seinen Vater, den Weltgang, worin er die Guten belohnt und die Bösen bestraft, sich auferlegt habe. Rudolph peinigt die Gräfin, er überläßt sich seiner Gereiztheit, er vollzieht aber in seinen eigenen Augen nur die Aufgabe, die er sich nach dem dreizehnten Januar gestellt hat, de »poursuivre le mal.«

Als er fortgeht, ruft Sarah:

»›Pitié je meurs!‹ ›Mourez donc, maudite!‹ dit Rodolphe effrayant de fureur.«

In den letzten Worten »effrayant de fureur« sind die reinen, kritischen und moralischen Motive seiner Handlungsweise verraten. Ebendiese Wut hat ihn das Schwert gegen seinen, wie Herr Szeliga ihn nennt, Hochseligen Vater zücken lassen. Statt dieses Böse in sich selbst zu bekämpfen, bekämpft er es als reiner Kritiker an andern.

Schließlich hebt Rudolph selbst seine katholische Straftheorie auf. Er wollte die Todesstrafe abschaffen, die Strafe in Buße verwandeln, aber nur,[220] solange der Mörder fremde Leute ermordet und die Glieder der Rudolphischen Familie ungeschoren läßt. Rudolph adoptiert die Todesstrafe, sobald der Mord einen der Seinigen trifft, er bedarf einer doppelten Gesetzgebung, eine für seine eigne Person und eine für die profanen Personen.

Durch Sarah erfährt er, daß Jacques Ferrand den Tod der Fleur de Marie herbeigeführt habe. Er sagt zu sich selbst:

»Nein! es ist nicht genug!... welche Glut der Rache!... welcher Durst nach Blut!... welche ruhige und reflektierte Wut!... Solange ich nicht wußte, daß eines der Opfer dieses Ungeheuers mein Kind war, sagte ich mir: der Tod dieses Menschen würde unfruchtbar sein... das Leben ohne Geld, das Leben ohne Sättigung seiner frenetischen Sinnlichkeit wird eine lange und doppelte Tortur sein... Aber es ist meine Tochter!... Ich werde diesen Menschen töten!«

Und er stürzt fort, um ihn zu töten, findet ihn aber in einem Zustand, der die Mordtat überflüssig macht.

Der »gute« Rudolph! Mit der Fieberglut der Rachlust, mit dem Durst nach Blut, mit der ruhigen und reflektierten Wut, mit der Heuchelei, welche jede schlechte Regung kasuistisch beschönigt, besitzt er gerade alle die Leidenschaften des Bösen, um derentwillen er andern die Augen aussticht. Nur Glückszufälle, Geld und Rang retten den »Guten« vor dem Bagno.

»Die Macht der Kritik« macht zum Ersatz für seine sonstige Nichtigkeit diesen Don Quijote zum »bon locataire«, »bon voisin«, »bon ami«, »bon père«, »bon bourgeois«, »bon citoyen«, »bon prince«, und wie diese Tonleiter, die Herr Szeliga absingt, weiter heißt. Das ist mehr als alle Resultate, welche »die Menschheit in ihrer ganzen Geschichte« gewonnen hat. Das reicht hin, damit Rudolph »die Welt« zweimal vor dem »Untergehen« rette![221]

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 213-222.
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