I. Gegenstand der Abhandlung

[266] Der griechischen Philosophie scheint zu begegnen, was einer guten Tragödie nicht begegnen darf, nämlich ein matter SchlußA4. MitA5 Aristoteles, dem mazedonischen Alexander der griechischen Philosophie, scheint die objektive Geschichte der Philosophie in Griechenland aufzuhören und selbst den männlich-starken Stoikern nicht zu gelingenA6, was den Spartanern in ihren Tempeln gelang, die AtheneA7 an den Herakles festzuketten, so daß sie nicht davonfliehen konnte.

Epikureer, Stoiker, Skeptiker werden als ein fast ungehöriger Nachtrag betrachtet, der in keinem Verhältnis stehe zu seinen gewaltigen PrämissenA8. Die epikureische Philosophie sei ein synkretistisches Aggregat aus demokritischer Physik und kyrenaischer Moral, der Stoizismus eine Verbindung heraklitischer Naturspekulation, kynisch-sittlicher Weltanschauung, etwa auch aristotelischer Logik, endlich der Skeptizismus das notwendige Übel, das diesen Dogmatismen entgegengetreten. Man verbindet diese Philosophien so unbewußt mit der alexandrinischen, indem man sie zu einem nur einseitigem und tendenziösem Eklektizismus macht. Die alexandrinische Philosophie endlich wird als gänzliche Schwärmerei und Zerrüttung betrachtet, – eine Verwirrung, in der höchstens die Universalität der Intention anzuerkennen sei.

Nun ist es zwar eine sehr triviale Wahrheit. Entstehen, Blühen und Vergehen sind der eherne Kreis, in den jedes Menschliche gebannt ist, den es durchlaufen muß. So hätte es nichts Auffallendes, wenn die griechische[266] Philosophie, nachdem sie in Aristoteles die höchste Blüte erreicht, dann verwelkt wäre. Allein der Tod der Helden gleicht dem Untergang der Sonne, nicht dem Zerplatzen eines Frosches, der sich aufgeblasen hat.

Und dann: Entstehen, Blühen und Vergehen sind ganz allgemeine, ganz vage Vorstellungen, in die zwar alles einrangiert werden kann, mit denen aber nichts zu begreifen ist. Der Untergang selbst ist im Lebendigen präformiert; seine Gestalt wäre daher ebenso in spezifischer Eigentümlichkeit zu fassen wie die Gestalt des Lebens.

Endlich, wenn wir auf die Historie einen Blick werfen, sind Epikureismus, Stoizismus, Skeptizismus partikulare Erscheinungen? Sind sie nicht die Urtypen des römischen Geistes? Die Gestalt, in der Griechenland nach Rom wandert? Sind sie nicht so charaktervollen, intensiven und ewigen Wesens, daß die moderne Welt selbst ihnen volles geistiges Bürgerrecht einräumen mußte?

Ich hebe dies nur hervor, um die historische Wichtigkeit dieser Systeme ins Gedächtnis zu rufen; hier aber handelt es sich nicht um ihre allgemeine Bedeutung für die Bildung überhaupt, es handelt sich um ihren Zusammenhang mit der altern griechischen Philosophie.

Hätte es nicht in Beziehung auf dies Verhältnis wenigstens zur Nachforschung anreizen müssen, die griechische Philosophie mit zwei verschiedenen Gruppen eklektischer Systeme, deren eine der Zyklus der epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie, die andere unter dem Namen der alexandrinischen Spekulation zusammengefaßt ist, enden zu sehen? Ist es ferner nicht ein merkwürdiges Phänomen, daß nach den platonischen und aristotelischen, zur Totalität sich ausdehnenden Philosophien neue Systeme auftreten, die nicht an diese reichen Geistesgestalten sich anlehnen, sondern, weiter rückblickend, zu den einfachsten Schulen – was die Physik angeht, zu den Naturphilosophen, was die Ethik betrifft, zu der sokratischen Schule – sich hinwenden? Worin ist es ferner begründet, daß die Systeme, die auf Aristoteles folgen, gleichsam ihre Fundamente fertig in der Vergangenheit vorfinden? Daß Demokrit mit den Kyrenaikern, Heraklit mit den Kynikern zusammengebracht wird? Ist es Zufall, daß in den Epikureern, Stoikern und Skeptikern alle Momente des Selbstbewußtseins vollständig, nur jedes Moment als eine besondere Existenz, repräsentiert sind? Daß diese Systeme zusammengenommenA9 die vollständige Konstruktion des Selbstbewußtseins bilden? Endlich der Charakter, mit dem die griechische Philosophie mythisch in den sieben Weisen beginnt, der sich, gleichsam als ihr Mittelpunkt, in Sokrates verkörpert, als ihr Demiurg, ich sage, der Charakter des[267] Weisen – des sophos – wird er zufällig in jenen Systemen als die Wirklichkeit der wahren Wissenschaft behauptet?

Es scheint mir, daß, wenn die frühern Systeme für den Inhalt, die nacharistotelischen, und vorzugsweise der Zyklus der epikureischen, stoischen und skeptischen Schulen, für die subjektive Form, den Charakter der griechischen Philosophie bedeutsamer und interessanter sind. Allein eben die subjektive Form, der geistige Träger der philosophischen Systeme, ist bisher fast gänzlich über ihren metaphysischen Bestimmungen vergessen worden.

Ich behalte es einer ausführlichem Betrachtung vor, die epikureische, stoische und skeptische Philosophie in ihrer Gesamtheit und ihrem totalen Verhältnis zur frühern und spätern griechischen Spekulation darzustellen.

Hier genüge es, an einem Beispiel gleichsam und auch nur nach einer Seite hin, nämlich der Beziehung zur frühern Spekulation, dies Verhältnis zu entwickeln.

Als ein solches Beispiel wähle ich das Verhältnis der epikureischen zur demokritischen Naturphilosophie. Ich glaube nicht, daß es der bequemste Anknüpfungspunkt ist. Denn einerseits ist es ein altes eingebürgertes Vorurteil, demokritische und epikureische Physik zu identifizieren, so daß man in den Veränderungen Epikurs nur willkürliche Einfälle sieht; andrerseits bin ich gezwungen, was das Einzelne betrifft, in scheinbare Mikrologien einzugehen. Allein eben weil jenes Vorurteil so alt ist als die Geschichte der Philosophie, weil die Unterschiede so versteckt sind, daß sie gleichsam nur dem Mikroskope sich entdecken: wird es um so wichtiger sein, wenn eine wesentliche, bis ins kleinste durchgehende Differenz der demokritischen und epikureischen Physik trotz ihres Zusammenhanges sich nachweisen läßt. Was sich im kleinen nachweisen läßt, ist noch leichter zu zeigen, wo die Verhältnisse in größern Dimensionen gefaßt werden, während umgekehrt ganz allgemeine Betrachtungen den Zweifel zurücklassen, ob das Resultat im einzelnen sich bestätigen werde.

A4

Nach »Schluß« von Marx gestrichen: ein inkohärentes Finale

A5

von Marx korrigiert aus: Nach

A6

der Satzteil: »scheint die objektive Geschichte der Philosophie in Griechenland aufzuhören und selbst den männlich-starken Soikern nicht zu gelingen« lautete ursprünglich: scheinen der Eule der Minerva die Fittiche zu sinken, und selbst den männlich-starken Stoikern scheint nicht gelungen zu sein

A7

von Marx korrigiert aus: Minerva

A8

»eine sehr triviale Wahrheit« von Marx korrigiert aus: nicht abzulehnen

A9

nach »zusammengenommen« von Marx gestrichen: gleichsam

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1968, Band 40, S. 266-268.
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