XII. Konfession.

[110] Wichtiger als die Tatsache, daß ich die Kaserne nicht kennenlernen sollte, waren für mich die beiden Umstände, die mein Schülerdasein von dem irgendeines andern deutschen Jungen unterschieden: ich war Jude und ich lebte als deutscher Knabe in einem slawischen Lande. Ich muß wirklich auf beide Umstände ein wenig eingehen.

Ich war von Abstammung Jude, Jude aus einem nordöstlichen Winkel Böhmens, und habe doch jüdische Religion und jüdische Sitten eigentlich niemals kennengelernt; höchstens häufiger als ein deutsches Kind die jüdische Sprechweise und Mauschelausdrücke gehört. Mein Elternhaus stand dem jüdischen Wesen fremd gegenüber. Ich war in der seltenen und fast einzigen Lage, daß schon meine beiden Großväter in einer Zeit, da die Juden kaum dem Ghetto zu entwachsen anfingen, sich vom Judentum so gut wie losgelöst hatten, der eine durch sein Leben praktisch, der andere als junger Mann auch offiziell. Der Vater meines Vaters hatte gegen die Gesetze seiner Zeit und durch besondere kaiserliche Erlaubnis so etwas wie ein Rittergut mit einem Schlosse erworben, nicht gar weit von Königgrätz an der Elbe; dort imitierte er mit seiner viel jüngern Frau das Leben eines vornehmen Landjunkers, verkehrte mit Juden nur geschäftlich und hauste so adelig, daß nach[110] seinem Tode das Gut versteigert werden mußte und seine beiden Söhne als arme Teufel zurückblieben. So viel ich auch zurückdenke, ich kann mich nicht erinnern, meinen Onkel oder meinen Vater auf der Übung eines jüdischen Gebrauchs ertappt zu haben. Nach jüdischer Anschauung ist Zugehörigkeit zum Judentum ohne Kenntnis der hebräischen Sprache nicht denkbar; mein Vater aber kannte keinen hebräischen Buchstaben. An hohen jüdischen Feiertagen pflegte er mit einem gewissen Selbstvorwurfe zu sagen: »Ihr wachst ja auf wie die Heiden«; darin bestand die ganze religiöse Erziehung, die er uns zuteil werden ließ. Als ich einmal die alten Zeremonien des jüdischen Osterfestes kennenlernen wollte, mußte ich mich ja für den Vorabend des Passahfestes von einem alten Verwandten, einem Schwager meiner Mutter, dazu einladen lassen; ich habe so einen der hübschesten und ältesten jüdischen Bräuche nur das eine Mal kennengelernt und ganz so neugierig wie ein Außenstehender. Wie ein »Goj« (Christ) hätte ich dabeigesessen, sagte dieser Onkel nachher.

Der Vater meiner Mutter gar, der steinalte Mann, der wohl einer Lebensbeschreibung wert wäre, war schon als Jüngling, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, der Sekte der Frankisten beigetreten, die ihre Anhänger aus kabbalistischen oder abtrünnigen Juden rekrutierte und irgendeinen neuen Messias erwartete oder glaubte, einen Vollender von Jesus Christus. Mein Großvater soll in dieser militärisch organisierten Sekte (auf dem Schlosse Franks in Offenbach am Rhein) Offizier gewesen sein und nach dem Ende der Bewegung die Dokumente und auch das Bild der »Königin« in Verwahrung gehabt haben. Die Sekte wurde dann öfters hart verfolgt, in Rußland wie in Österreich; mein Großvater[111] kehrte in seine Heimat zurück und lebte von da ab als Religionsspötter, wenn er es auch für schicklich hielt, an hohen Festtagen die Synagoge zu besuchen. In der kleinen Judengemeinde von Horzitz galt er für einen Gelehrten, für einen Freigeist, für einen Ketzer. Als er im Patriarchenalter 1876 starb, folgten seiner Leiche ein Rabbiner, aber auch ein katholischer und ein protestantischer GeistlicherIII.

Mein Elternhaus war eigentlich konfessionslos. Ich bin erst als Mann offiziell aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten, ohne mich zu einer andern Religion zu bekennen. Es war mir lästig geworden, daß nach jeder Volkszählung irgendein Schutzmann Anstoß daran nahm, wenn ich die Rubrik Religion nicht ausfüllte. Auch diesen Schritt fand meine alte Mutter einfach selbstverständlich. Sie war einigermaßen stolz darauf, daß schon ihr Vater kein gläubiger Jude gewesen war.

Man wird jetzt besser verstehen, was ich vorhin mit einer Klage, die mein Empfinden nur ungenügend ausdrücken konnte, vorgetragen habe: daß mir zum Dichter, der ich mich doch fühlte, außer einer deutschen Mundart, der wahren Muttersprache, auch noch der Untergrund eines Jugendglaubens fehlte, eine Mutterreligion. Mein Vater war, um es kurz und schroff auszudrücken, areligiös, meine Mutter antireligiös. Der Vater war buchstäblich ohne Kenntnis irgendeines Katechismus aufgewachsen; er wird das Dasein irgendeines Gottes, über dessen Namen er sich sicherlich nicht klar war, etwa so angenommen haben, wie er überzeugt war, daß die Kinder ihren Teller nicht zum zweiten Male gefüllt bekamen, wenn sie nicht vorher »Bitte[112] noch« gesagt hatten. (Ich lernte diese Bitte um das tägliche Brot nachsprechen, bevor ich die Worte verstand; ich hielt sie lange für den tschechischen Namen einer Speise; ich brachte sie etymologisch mit Kutzmoch, Schusterknödel, in Zusammenhang.) Der Vater hatte solche Überzeugungen von dem, was sich schickte; Glaube an irgendeinen Gott war ihm Wohlanständigkeit wie etwa den Engländern. Da der Vater aber niemals ein Wort oder einen Begriff der jüdischen Religion über die Lippen brachte, möchte ich fast glauben, daß sein Gottesbegriff irgendwie (nicht auf Grund von Lektüre) dem höchsten Wesen eines christlichen Deismus entsprochen habe. Die Mutter dagegen wußte viel vom Judentum zu erzählen, von den Zeremonialgeboten und von dem Scharfsinn, der Schlauheit und dem Geschäftsgeiste der Rabbiner; sie erzählte solche Geschichten als wie Legenden aus einer vergangenen Zeit; ohne Spott und selbst Blasphemien ging es nicht ab; Heine wurde zitiert und – wenn es hoch kam – die Toleranz von Lessings Nathan. Ich darf wohl annehmen, daß wir Kinder von ihr die Ketzereien zu hören bekamen, die der Großvater ihr als seinen Religionsunterricht überliefert hatte. Das Judentum war die einzige Religion, die sie kannte, und der brachte sie keine Achtung entgegen.

In solchen Traditionen aufgewachsen, wußte ich bis zu meinem achten Lebensjahre kaum, was das bedeutete, daß wir Juden waren. Ich kann nicht sagen, ob es ein Wunsch meines Vaters war; jedenfalls gehörte Religion und Bibellesen nicht zu dem Lehrplane unseres Hofmeisters. Der Staat aber schützt die Religion in jeder Gestalt, schützt auch die Judenschule, und so hatte ich auch »jüdische Religion« nachzuholen, als[113] ich auf die Klippschule kam, wo mir die drei Jahre gestohlen wurden. Unter »jüdischer Religion« verstand man aber nach altasiatischer Vorstellung nicht irgendwelchen Religionsunterricht, sondern einzig und allein Kenntnis des Hebräischen und Lesen der Bibel. Als ich diese Schule betrat, hatte ich keine Ahnung von einem hebräischen Buchstaben; ein Jahr später konnte ich im Hebräischen ebenso vorgeritten werden wie beim Aufsagen der tschechischen Bürgschaftübersetzung. Bei den außerordentlichen Schwierigkeiten der hebräischen Sprache und bei dem völlig unwissenschaftlichen Betriebe des Unterrichts konnte es sich gar nicht um ein Eindringen in den Geist der Sprache handeln, sondern nur um Gedächtniskram.

Die wissenschaftliche Erforschung der hebräischen Sprache ist erst nichtjüdischen Gelehrten gelungen; jüdische Gelehrte, die etwas leisten wollten, hatten die jüdische Tradition verlassen müssen. Ich bedaure sehr, daß ich diese allzu rasch erworbenen Kenntnisse ebenso rasch wieder eingebüßt habe; was ich vom Baue der semitischen Sprachen später für meine Arbeiten brauchte, habe ich ganz neu lernen müssen.

Schlimmer war es, daß mir auch religiöse Kämpfe nicht erspart wurden, als diese jüdischen Kenntnisse so plötzlich auf mich niederdroschen. Ich machte die Entdeckung, daß ich ein Jude war, und meine leidenschaftliche Seele verführte mich, die fünfhundert oder siebenhundert Gebote und Verbote, die der Rabbinismus aus der Bibel gezogen hat, ernst zu nehmen. Ich wollte ein frommer Jude werden, um die Seelen meines Vaters und meiner Mutter zu retten. Ich habe diese kindischen Kämpfe einmal darzustellen gesucht, in dem Tagebuche des Helden, das man in meinem Romane[114] »Der neue Ahasver« nachlesen kann, wenn man mag. Das Tagebuch habe ich erst für diesen Roman niedergeschrieben, und so ist es, wenn man will, erfunden; aber meine religiösen Kämpfe sind darin (wie zu meiner Freude schon Wilhelm Scherer bemerkt hat) eigentlich ganz getreu und realistisch erzähltIV. Ich will nicht wiederholen, wie ich viele Monate lang in unserem völlig religionslosen Hause die jüdischen Zeremonialgesetze (deren Sinnlosigkeit mir doch wieder nicht entging) heimlich zu beobachten suchte, wie ich dann durch den Umgang mit meinen katholischen Mitschülern dazu kam, Jehova mit Jesus zu vertauschen, wie ich in allen katholischen Kirchen herumkniete, inbrünstig die Heiligen aller Kapellen um ein Wunder bat, wie ein Lehrer, der meinen Zustand erkannt hatte, mich in die glänzenden Predigten des Jesuiten Klinkowström schickte, wie mich dieser Pater dazu brachte, zuerst einige Kirchenväter und dann Kirchengeschichte zu studieren, wie ich nach einem eifrigen aber sehr dilettantischen Katholizismus von zwei Jahren, nach einer flüchtigen und nicht ganz religiösen Begeisterung für Luther endlich in meinem fünfzehnten Jahre als wütender Atheist kirchenfeindlich wurde. Diese Gesinnung hat dann etwas länger vorgehalten; ich bin alt geworden, bevor ich einsehen lernte, daß unsere Zeit zu ruhig gottlos ist, um noch so recht kirchenfeindlich sein zu dürfen.

Ich kann sagen, daß ich als ein auf eigene Faust gläubiger Jude, als ein auf eigene Faust wundersüchtiger Katholik und dann als jugendlicher Freigeist in gleicher Weise empört war über die Art, in welcher uns auf dem Gymnasium jüdischer Religionsunterricht erteilt[115] wurde. So etwas wie Religionsunterricht für die jüdischen Schüler gab es nämlich, das verlangte der Staat, der Schützer der Judenschule. Der Unterricht wurde sämtlichen jüdischen Schülern der drei Gymnasien und der Realschule klassenweise gemeinsam erteilt, von einem einzigen Lehrer; ganz ähnlich und mit ganz ähnlichen Mißbräuchen war der Religionsunterricht für die Protestanten eingerichtet. Nur die katholische Religion gehörte zum Organismus des Gymnasiums.

Der jüdische Religionsunterricht war durchaus grotesk. Der Lehrer war ohne Zweifel ein geduldiger und freundlicher Herr, der auf jüdische Art Hebräisch verstand. Aber er war in allen Dingen, welche nach unserer jungen Gymnasiastenweisheit die Bildung ausmachten, von einer so blühenden Unwissenheit, daß er in unserer Achtung noch tief unter die schlimmsten Piaristen hinabsank. Der Hauptgrund unserer Verachtung war, daß er als Philologe an einem Gymnasium nicht Latein verstand, während wir doch schon mensa deklinieren konnten. In den höheren Klassen erfuhren wir dann, daß es ihm wirklich an jeder höheren Kultur fehlte. Die andern Lehrer betrachteten ihn nicht als ihren Kollegen, redeten ihn »Herr Adler« an und blickten mit doppeltem Hochmut auf ihn hinab; und wir jüdischen Schüler ahmten das Beispiel nach und waren sehr schlecht gegen ihn. Am liebsten quälten wir ihn mit dem Namen Jesu Christi. Es ging ihm gegen sein Gewissen oder gegen seinen Glauben, diesen Namen auszusprechen; und anstatt »nach Christi Geburt« zu rechnen, sagte er jedesmal: vor oder nach »der jetzt üblichen Zeitrechnung«. Wir ließen es uns nicht nehmen, ebenso regelmäßig zu sagen: vor oder nach Christi[116] Geburt. Dann zeigte sich auf seinem guten runden Gesichte immer ein schmerzliches Lächeln, als ob er gezwickt worden wäre; aber er wagte es nicht, uns das Aussprechen des Namens zu verbieten.

Der jüdische Unterricht sollte doppelt gegeben werden: in Religion und in hebräischer Sprache. Was wir als eigentlichen Religionsunterricht genossen, das war eine Affenschande. Was ein begabtes Kind binnen Monatsfrist aufnehmen kann, ungefähr den Lehrstoff von Luthers kleinem Katechismus, das hatten wir acht Jahre lang wiederzukäuen. Es war schamlos, das kleine Lehrbuch noch neunzehnjährigen Burschen in die Hand zu zwingen; selbst die katholische Kirche verlangte von den Schülern kein solches Opfer an Intelligenz, da sie doch dem Primaner recht viel Dogmengeschichte aufbürdete, also immerhin eine Fülle positiver Kenntnisse. Aber dieser ganze theoretische Religionsunterricht war ja auch nicht ernst gemeint; wir lernten so etwas wie eine abgestandene Verdünnung einer natürlichen Religion, der die zehn Gebote zugrunde gelegt waren. Die jüdische Religion hatte in Wirklichkeit nie etwas anderes verlangt als: »Lernen« der hebräischen Bibel.

Um den Unterricht im Hebräischen stand es nun ganz anders als um irgendeinen andern Lehrgegenstand. Unter den jüdischen Schülern waren nämlich ziemlich viele, die orthodoxen Familien angehörten und denen darum seit ihrer frühesten Jugend die hebräische Sprache eingebläut worden war. Das war ganz logisch vom Standpunkte der jüdischen Orthodoxie; der war und ist Kenntnis der Bibel und des Talmud die wahre Wissenschaft. Mit diesen Jungen nun, die übrigens bis auf zwei die schlimmsten Racker der Klasse[117] waren, konnte der Lehrer nach Herzenslust die Bücher des Alten Testamentes lesen, grammatische Schnitzeljagd treiben und sich sogar auf rabbinische Kommentare einlassen. Wir andern, die wir bloß in der Schule und für die Schule Hebräisch gelernt hatten, standen in vergnügter Untätigkeit daneben. Ich für mein Teil konnte noch ungefähr ein Jahr lang folgen, solange ich nämlich meinen heimlichen und närrischen Glauben an Jehova aufrechtzuerhalten vermochte; mit meinem dilettantischen Katholizismus erhob sich aber in mir ein Haß gegen das Alte Testament und gegen die hebräische Sprache; meine allzu rasch eingetrichterten Kenntnisse versickerten und plötzlich war es aus mit ihnen.

So bestand unser jüdischer Religionsunterricht aus zwei unzusammengehörigen Hälften: aus der moralisierenden Religionslehre, die für die Dümmsten unter uns zu dumm war, und aus einem Praktikum der semitischen Philologie, das manchem gelehrten Orientalisten noch Nüsse aufzuknacken gegeben hätte. Die wir uns längst als jüdische Deutsche fühlten oder als deutsche Juden, gewöhnten uns mit den Jahren daran, an diesem Unterrichte so selten wie möglich teilzunehmen; wir erlangten eine Virtuosität darin, die Religionsstunde zu schwänzen und auch die »Exhorte«, eine samstägliche lederne Predigt, die uns den Gottesdienst ersetzen sollte. Ich glaube versichern zu können, daß ich in den letzten zwei Gymnasialjahren den jüdischen Religionslehrer nicht mehr zu Gesicht bekommen habe.

Mein kühner Entschluß, der Religionsstunde fernzubleiben, folgte auf eine drollige Disputation zwischen mir und dem guten Herrn Adler. Dieser hatte den Ehrgeiz, wirklich wie ein Hochschulprofessor mit den älteren[118] Schülern zu verkehren. Er führte eine Art von Kolloquium ein. Besonders wenn er die Beweise für das Dasein Gottes in den höheren Klassen zum letzten Male vortrug, hatte er es gern, daß die Schüler gegen diese alten scholastischen Gebäude ihre kindlichen Einwände vorbrachten. Ihm war es dann ein leichtes, durch die Sophismen, an denen durch Jahrhunderte die scharfsinnigsten Doktoren der katholischen Kirche ihren Witz geübt hatten, die jungen Leute zum Schweigen zu bringen. An jenem Tage nun handelte es sich um den ehrwürdigen ontologischen Beweis. Ich wußte damals noch nichts über seine Geschichte, nichts von seiner Abfertigung durch Kant. Ich meldete mich aber durch Handaufheben und brachte, so gut ich's vermochte, meine Bedenken gegen die Logik dieses Beweises vor. Herr Adler kam mit Gegengründen; ich verwarf die Gegengründe. Herr Adler weinte beinahe, als er erwiderte: »Wer seinen Gott im Herzen trägt, der zweifelt gar nicht an der Kraft dieser schönen alten Beweise. Du glaubst nicht und darum ist der ganze Unterricht wertlos.« Ich ließ mir das nicht zweimal sagen. Ich kam nicht wieder. Zwei meiner jüdischen Mitschüler, als sie erst sahen, daß keine Zwangsmaßregeln gegen mich ausgeübt wurden, folgten meinem Beispiel.

Die Gnade Gottes leuchtete auch über uns Ungerechte. Der Lehrer hielt es wahrscheinlich für unvereinbar mit seinem jüdischen Glauben, einen jüdischen Schüler durch eine Anzeige zu schädigen oder ihn gar durchfallen zu lassen. Er hatte die Gewohnheit angenommen, jedem jüdischen Schüler »aus Religion« die Note ins Zeugnis zu schreiben, die dem Durchschnitte der übrigen Noten entsprach; und er besserte immer[119] nach oben hinauf. Sein Unglück wollte, daß er gerade dann nicht »ungenügend« ins Zeugnis schreiben konnte, wenn der jüdische Schüler schon von den anderen Lehrern verurteilt war; denn der war gewiß einer seiner gelehrten Talmudkenner.

Die schwerste Sorge dieses würdigen Lehrers brachte jedesmal die Maturitätsprüfung, weil der Schulrat, der die Aufsicht führte, ein sehr gelehrter Mann war, ein wenig auch Orientalist; der konnte es sich beifallen lassen, ein Frage an den Schüler zu richten, und dann wäre es mit dem Systeme vorbei gewesen: den jüdischen Schülern prinzipiell bessere Zensuren zu geben als sie verdienten. So hat meine Maturitätsprüfung nicht mich, sondern diesen Lehrer vor Angst schwitzen lassen.

Ich war trotz meiner Schulfaulheit ein so guter Schüler und hatte bei der schriftlichen Prüfung so glänzend abgeschnitten, daß mir hergebrachterweise die mündliche Prüfung »geschenkt« werden mußte. Ich verließ mich darauf und hatte mir überhaupt um das Abiturientenexamen keine Sorgen gemacht. Der Schulrat pflegte auch an solche Schüler besonders kniffliche Fragen zu stellen; aber das tat er immer nur aus Güte, um Gelegenheit zu einer »Auszeichnung« zu geben. Also auch das schien mir nicht gefährlich. Desto größere Sorgen machte sich der jüdische Religionslehrer. Er ahnte, wie es um meine Kenntnisse im Hebräischen stand. Ich hatte es im Laufe von acht Jahren so weit gebracht, ich hatte so viel verlernt, daß ich nicht einmal das Entziffern der hebräischen Lettern leicht und schnell genug ausführen konnte. Die kleinste Frage an mich hätte den Lehrer gräßlich blamiert; denn ich hatte als Vorzugsschüler immer »vorzüglich« aus Religion gehabt, das heißt aus Hebräisch.[120]

Bei meiner Prüfung – es war ein sehr heißer Julitag – war der Schulrat, der mich seit acht Jahren immer freundlich beobachtet hatte, in der besten Laune und neckte mich nur mit allerlei schwierigen Fragen, für deren halbe Lösung ich dann durch gute Zensuren belohnt wurde. Ich wurde kreuzfidel; mich belustigte die Neckerei des Schulrates, der vielleicht erfahren wollte, wie weit über den Lehrstoff hinaus mein Verständnis ging, der vielleicht auch sein vielseitiges Wissen zeigen wollte. Ich hatte ein Lachen zu verbeißen, wenn ich auf unsern unglücklichen Religionslehrer blickte, der wie ein Verbrecher vor der Hinrichtung dasaß. Sein Angstschweiß ward ihm zum Heil. Der Schulrat glaubte, er litte unter der Hitze und schickte ihn nach Hause. Meine beiden Mitprüflinge seien Katholiken und an mich habe er Fragen genug gestellt. Ich mag vielleicht ganz froh gewesen sein; was war aber meine Freude gegen die Glückseligkeit im Antlitz des Herrn Adler, der jetzt mit einem schlauen Blick des Einverständnisses an mir vorüber davonging. Gott der Gerechte verläßt keinen Juden in der Gefahr, so mochte der fromme Mann denken.

Ich habe dieses Erlebnis mit dem Vergnügen vorzutragen versucht, das es mir damals gemacht hatte. Eigentlich war die Sache aber empörend. Man denke sich nur einmal in die Seele unserer katholischen Mitschüler hinein. Diese hatten nicht nur auf dem Piaristengymnasium, sondern auch auf der weltlichen Anstalt einen strengen Religionsunterricht, hatten Gebete auswendig zu lernen, hatten an jedem Sonn- und Feiertage die Messe zu besuchen, hatten – wie gesagt – vor allem in Religionslehre und Kirchengeschichte einen ansehnlichen Lehrstoff zu bewältigen; sie mußten[121] diesen Lehrstoff genauer auswendig lernen als etwa das Lehrbuch der Weltgeschichte, mußten übrigens die Untrüglichkeit dieses Lehrstoffs wie stumme Hunde anerkennen und durften nicht freigeistig mucksen. Die Katholiken fühlten sich mit Recht im Nachteil gegen Protestanten und Juden, und wir hörten von ihnen besonders vor der Maturitätsprüfung bittere Worte über unsere Ausnahmestellung; denn Religion war ihnen neben Weltgeschichte der eigentliche Büffelstoff. Die Katholiken mußten täglich um 5 Uhr früh aufstehen, Protestanten und Juden konnten bis 7 Uhr schlafen.

Ich muß trotzdem anerkennen, daß das Verhältnis zwischen den einzelnen Konfessionen unter den Schülern des Kleinseitner Gymnasiums das allerherzlichste war; Judenfeindschaft, was man jetzt seit mehr als vierzig Jahren Antisemitismus nennt, war natürlich vorhanden, wie denn Bosheit oder Neid sich unausrottbar zu der Mode eines Rassenvorurteils oder zu irgendeiner anderen Ausrede flüchtet, aber dieser Antisemitismus kam eigentlich nur in leidenschaftlichen Gesprächen guter Freunde zu Worte. Auf dem Piaristengymnasium waren die geistlichen Lehrer oft boshaft und heimtückisch gegen die jüdischen Schüler gewesen; aber da darf nicht vergessen werden, daß sich zum Untergymnasium viele Judenjungen drängten, die von Hause aus wirklich keine richtigen Europäer waren, die sich nach und nach entweder assimilieren oder die Gelehrtenschule wieder verlassen mußten.[122]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 110-123.
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