Anhang
I.

Vor einigen Jahren erwies die »Vossische Zeitung« einem dieser alten Scherze die Ehre, ihn nach fast vierzig Jahren wieder abzudrucken; so mag die Übersetzung von Heines »Du hast Diamanten und Perlen« auch hier stehen.


Μ.Α.Υ.Θ.ΝΕ.Ρ. ΕΙΣ ΖΩΙΗΝ

Σοι μεν κειμηλια χρυσα,

Σοι γ᾽εστιν ὁσ᾽ ἀν ἐϑελῃς,

Σοι δ᾽ὀμματα ἐστι καλλιστα –

Ζωη, τι νυν ἐτι χρῃς;


Εἰς ὀμματα σου τα καλλιστα

'Αοιδος ἀειγενετης

Μελων μαλα μυρι᾽ ἐπῃδον –

Ζωη, τι νυν ἐτι χρῃς;


Σελᾳ λιπαρω τοιν ὀσσοιν

Συ δυσποτμον μ᾽ἐτιϑης,

Και μην με διολεσασα –

Ζωη, τι νυν ἐτι χρῃς;


Der Bierulk der rätselhaften Überschrift, damals in einer Einleitung durch die blödsinnigen Worte Μακεδωνιου᾽ Ανακρεοντος᾽ Υπατου Θεου ΝΕανιου᾽ Ραψωδια εις Ζωην[271] (Ein Lied des Makedonios Anakreon, des Sohnes des Hypatos, des göttlichen Jünglings, an Zoe) gedeutet, führte also aus den Buchstaben meines Namens den Nachweis, daß Heine ein Plagiat an dem alten Anakreon begangen hätte. Als diese Verse 1873 von Alfred Klaar in einer »Sammelbüchse für (das abgebrannte) Joachimstal« herausgegeben wurden, machten sie meinem verehrten Lehrer (griechische Archäologie) Otto Benndorf reichlich Spaß; nur mit Reimen in griechischer Sprache wollte er sich durchaus nicht versöhnen.[272]

II.

Daß das Ende der Renaissance hereingebrochen sei, ist eine meiner kleinen Grundüberzeugungen. Ich habe dieses Bekenntnis oft im Laufe von Jahrzehnten ausgesprochen und schon 1892 einige solche Aufsätze unter dem Titel »Tote Symbole« gesammelt. Als ich später, als Theaterkritiker, solche Anschauungen noch rücksichtsloser vortrug, wurde ich deshalb von alten Freunden und von Witzblättern, die just vor Homeros und Sophokles eine beneidenswerte Ehrfurcht bekundeten, heftig angegriffen, verlor darüber – und das schmerzte – das Wohlwollen und mehr von Theodor Mommsen. Einiges füge ich hier ein, mit Hinweglassung der Stellen, die sich etwa auf Theater-Aufführungen bezogen. Im Februar oder März 1897 veröffentlichte ich im »Berliner Tageblatt« folgenden Aufsatz:


»Philhellenismus und Renaissance.


Was ist der Philhellenismus? Wenn man eine Definition nach dem berüchtigten Muster »Opodeldok ist, wenn man Rückenschmerzen hat«, aufstellen dürfte, so wüßten wir sofort, was der Philhellenismus ist. Philhellenismus ist, wenn die Studenten in Paris und Rom mit der Polizei handgemein werden, und wenn in England für die Griechen Geld gesammelt wird. Aber diese[273] Erklärung ist doch wohl nicht ausreichend. Die Studenten machen mitunter Krawall, auch ohne gerade durch griechische Studien dazu aufgereizt worden zu sein; und die Kunst, europäisches Geld an sich zu bringen, verstehen die neuen Griechen so gut, daß sie aus Böckhs »Staatshaushaltung der Athener« gar nichts lernen könnten und den Bettel der freiwilligen Sammlungen verachten dürften.

Der Philhellenismus scheint mir nichts anderes zu sein als die alte Renaissance, von schlauen Staatsmännern oder unklaren Jünglingen ins Politische und ins Sentimentalische übersetzt. Tausend Jahre hatte die Scholastik des christlichen Mittelalters die Geister niedergehalten, als im 15. und 16. Jahrhundert die Renaissance Europa wieder erwachen ließ. Damals war Griechenland eben erst eine türkische Provinz geworden, um deren politische Gegenwart sich kein Mensch kümmerte. Nur die große Vergangenheit wurde die Schule für die humanistische Kultur. An dem Naturalismus der alten Griechen erstarkte ein neues Naturgefühl. Die Nationalkulturen von Italien, Frankreich und Deutschland gingen bei den klassischen Leistungen eines toten Volkes in die Schule. Es war für die Philologen wertvoll, daß noch griechische Gelehrte übriggeblieben waren, die ihnen die klassische Literatur besser als bisher vermitteln konnten. Ein lebendiges Griechenvolk gab es nicht für sie. Man glaubte ehrlich, in der bildenden Kunst, in der Poesie und in der Philosophie die Meister der Perikleischen Zeit nachzuahmen, und nur wenige Genies der Renaissance ahnten, daß diese scheinbare Nachahmung im Grunde nur mit den überlieferten Formen und Gedanken spielte. Gegen vierhundert Jahre hat diese Epoche der Renaissance, diese[274] Wiedergeburt des klassischen Naturalismus, gedauert. Vierhundert Jahre lang hat der moderne Geist sich, zwischen wechselnden Revolutionen und Reaktionen, unter der Herrschaft des griechischen Geistes entwickelt. Und gerade jetzt, wo der Kreislauf der Renaissance endlich vollendet scheint, wo die modernen Kulturvölker die toten Symbole der Antike endlich nicht mehr nötig haben, wird die Renaissance plötzlich praktisch und politisch und verlangt ungestüm die Wiedergeburt des Volkes, dessen tote Symbole bald nur noch historische Bedeutung haben werden. Es ist ein seltsames Schauspiel. Am Ende ihrer Laufbahn hat die unfruchtbar gewordene griechische Philologie noch Kraft gefunden, den Philhellenismus zu erzeugen. Vor siebzig Jahren, in den griechischen Befreiungskriegen und wieder heutzutage ist die philhellenische Bewegung nirgends tiefer (wenn auch weniger lärmend) als in England und in Deutschland, den klassischen Ländern der griechischen Philologie. Damals stand Lord Byron an der Spitze, und Goethe verherrlichte ihn dafür. Heute sehen wir an der Stelle des hinreißenden jungen Byron den alten Gladstone; in Deutschland schweigen die Dichter vorläufig, und kein deutscher König hat für einen Prinzen seines Hauses ein exotisches Thrönchen in Aussicht. (1897.)

Das Ende der Renaissance ist angebrochen. Die Wahrheit dieser Behauptung wird mit wenigen Erinnerungen zu erweisen sein.

In der bildenden Kunst lehrt nichts so deutlich wie die Malerei denvollständigen Bruch mit der Antike. Wenn wir den Wert der griechischen Malerei, von deren Originalen so gut wie nichts erhalten ist, noch so hoch anschlagen, wenn wir die erhaltenen Nachahmungen von Handwerkerhand[275] noch so sehr überschätzen, so müssen wir doch erkennen, daß unsere Naturempfindung den Griechen völlig fremd gewesen ist. Das Originalwerk eines griechischen Meisters wäre uns wahrscheinlich bestenfalls eine Kuriosität wie noch vor wenigen Jahren die Schöpfungen der Japaner. Die Griechen hatten gewiß keine Augen für die Luftperspektive und was drum und dran hängt. In der Malerei hatten schon Rembrandt, der wahrhaft Erzieher, die Wege der Renaissance verlassen. Und vollends die Landschaften und Stimmungsbilder unserer Realisten sind lauter Proteste gegen die alte Kunstanschauung. Es blieb nicht bei den Protesten; wir haben eine neue Kunst, auch wenn wir den Experimenten der Allerneuesten noch nicht vertrauen wollen. Der Kunsthistoriker mag die Meister von zwanzig Jahrhunderten durcheinander bewundern. Wer aber mit einem Millet, mit einem Israels wirklich mitfühlt, der kann nicht ehrlich sein, wenn er daneben vor den zierlichen Formen eines griechischen Vasenbildes in Andacht versinkt.

Auch in der Poesie ist der Kreislauf der Renaissance vollendet. Hier aber ist es uns besonders schwer gemacht, die Bildungsphilister davon zu überzeugen, daß die Ideale der Griechen für uns tote Symbole geworden sind. Da stehen, aus grauer Vorzeit herüberleuchtend, in unvergänglicher Schönheit einzelne Gesänge der Homerischen Gedichte, das Schicksal Hektors und die Schiffermärchen der Odyssee; sie sind so lebendig geblieben, gleich der Sonne Homers herrlich wie am ersten Tag, daß uns nur die Klage bleibt, keinen Dichter zu haben, der uns von unseren Märchen und unseren Helden in unserer Sprache erzählte. Wir brauchen aber nur die höchste Poesie des Kindesalters mit der Mannespoesie[276] (Goethes Faust) zu vergleichen, um selbst zu dem ewigen Homer in ein freieres Verhältnis zu treten. Und dann: Homer ist der Ausnahmefall, der die Regel nur bestätigt. Die Klassiker der griechischen Blütezeit sprechen noch zu unserer Bildung, selten mehr zu unserem Gefühl. Ja wohl wir sind fleißige Gymnasiasten gewesen, wir haben die »Antigone« im Original auswendig gelernt, wir haben Sophokles und Anakreon zu übersetzen gesucht und haben uns in ihren verstaubten Schönheiten zu berauschen geglaubt, wie wir in die bejahrte Tochter unseres Klassenlehrers verliebt zu sein geglaubt haben. Jetzt schreit es in uns auf: es war nicht wahr! Ein kleines Volksliedchen von Möricke bewegt uns mehr als der ganze Anakreon. Anzengruber ergreift uns ganz anders als Sophokles und Aristophanes dazu. Diese waren zu ihrer Zeit beide noch größere Künstler als Anzengruber, aber sie waren; wir wissen von ihrer Künstlerschaft noch, aber wir empfinden sie nicht mehr naiv. Ich bin nicht gerade ängstlich, aber ich habe doch den Klassikern nur verstorbene Dichter entgegenzustellen gewagt; hätte ich gar fröhliche Gesellen genannt, mit denen ich schon bei deutschem Bier geplaudert habe, und deren junge Poesie mir dennoch mehr sagt als die steinernen Formen der seligen Griechen, ich wäre wieder einmal in Bann und Acht getan worden von den konservativen Priestern der Klassizität.

Was uns mit diesen lebenden Gesellen, auch wenn sie kleinere Talente sind, so viel näher verbindet, das ist: wir stehen mit ihnen auf dem gemeinsamen Boden der gleichen Sprache, der gleichen ›Weltanschauung‹. Und das ist der Kernpunkt der ganzen Frage. In Kunst und Poesie ist das Ende der Renaissance gekommen,[277] weil in unserer ›Weltanschauung‹ die Renaissance abgewirtschaftet hat. Wer es nicht glauben will, der mag es bei den beiden deutschen Geschichtschreibern der Logik und des Materialismus nachlesen. Die philosophische Renaissance begann damit, daß sie das tausendjährige Reich des Begriffspedanten Aristoteles stürzte zugunsten des Begriffsromantikers Platon. Dessen Ideenlehre aber wurde dann durch die gewaltige Kritik der Engländer und Kants so gründlich aufgelöst, daß schließlich nur ein moralisches und ein ästhetisches Interesse an ihr übrigblieb. Das naturwissenschaftliche Denken unserer Tage gar hat alle Brücken abgebrochen, die einst zu den Begriffen der griechischen Weisheit hinüberführten.

So stehen wir also wieder einmal vor einer Ironie der Kulturgeschichte. Zwischen unserem Denken, Bilden und Dichten und dem Denken, Bilden und Dichten der alten Griechen besteht nur ein historischer Zusammenhang. Und gerade jetzt, da die Renaissance zu wirken aufhört, will man sie sentimental auf das Volk selbst übertragen und über eine Lücke von zwei Jahrtausenden hinweg die Geschichte Neugriechenlands an die Perserkriege anknüpfen. Die sentimentale Phantasie der Studenten heftet den Prinzen Georg an die Rockschöße oder Chlamyszipfel des Leonidas, als ob nicht inzwischen zweitausend Jahre lang Lateiner und Germanen, Slawen und Türken in Hellas gehaust und Geschichte gemacht hätten. Die Renaissance der Kunst und des Denkens beruhte auf einer Wahrheit, die politische Renaissance beruht auf einer Unwahrheit.

Besäße ich den Ehrgeiz, mit diesen Worten einen politischen Artikel schreiben zu wollen, so müßte ich ausdrücklich unterscheiden zwischen diesem Philhellenismus[278] der Buchgelehrsamkeit und der natürlichen Sympathie, welche wir den Befreiungskämpfen der Griechen entgegenbringen, wie jedem Versuch jedes Volkes, das ein fremdes Joch abschütteln will. Diese Sympathie mag oft unklug und gefährlich sein, aber sie ist ein beinahe instinktives Gefühl, dessen wir uns selbst bei Aufständen barbarischer Völker nicht erwehren können. Nur sollte dieses Gefühl nicht künstlich mit einer Pietät verbunden werden, die eigentlich den Kämpfern von Marathon und den griechischen Klassikern gilt und nun allzukühn auf die Kretenser und die mitunter dichtenden Gesandten Neugriechenlands übertragen wird.

Wie sehr philologisch der Ausgangspunkt des modernen Philhellenentums war, kann uns der Beginn der griechischen Freiheitsbewegung lehren. Denn es ist kein Zufall, daß sie anknüpfte an den Verein der »Philomusen«, welchen Kapo d' Istrias im Jahre 1812 gründete, als Napoleon immer noch die Landkarte Europas umgestaltete und dabei gelegentlich auch die Träume von Ideologen nicht verschmähte. Der Verein der Philomusen sollte die griechischen Altertümer konservieren.

Jeder freiheitliebende Mensch wird es einer griechischen Inselbevölkerung gönnen, wenn sie die despotische Herrschaft des Türken abschütteln und sich selbst regieren kann. Den Philologen insbesondere müßte es freuen, falls durch die Erstarkung von Neugriechenland die altgriechische Mundart soweit als möglich wieder lebendig würde; wenn ein Mensch schon seine Schulden nicht zahlt, so ist es doch hübsch von ihm, seine Gläubiger mit griechischen Ausreden hinzuhalten. Für unser Denken, Bilden und Dichten jedoch scheint es mir nicht wichtig zu sein, ob auf den Abhängen des[279] sagenreichen Olympos mohammedanische oder griechisch-orthodoxe Hammeldiebe wohnen. Nur daß man eine solche Gesinnung wahrscheinlich nicht aussprechen darf.«


*


Kurz darauf erschien im »Zeitgeist« eine Antwort des vortrefflichen Emil Schiff, der man es anmerkte, daß der Verfasser sich nur widerwillig auf eine höfliche Ablehnung meiner Persönlichkeit beschränkt hatte; ein schwer verhaltener Grimm sprach aus seinen Worten. Auch meine kurze Antwort (Berliner Tageblatt 24. März 1897) war zurückhaltend:

»Ein Buch wäre nötig, um alle Mißverständnisse aufzuklären, welche Emil Schiff in seinem Aufsatze »Antike, Renaissance und Bildung« (im »Zeitgeist« Nr. 12) zornig vereinigt hat. Die Leser hätten jedoch wohl schwerlich Lust, dieses Buch zu lesen. Um so weniger, als meine Überzeugung von dem schließlichen, ja von dem baldigen Siege einer ungriechischen Schulbildung mich verhindern würde, in meiner Gegnerschaft persönlich zu werden. Die Bewegung für eine moderne Grundlage unserer Schulbildung hätte auch keinen sonderlichen Nutzen davon, wenn ich Herrn Dr. Schiff nachwiese, daß er auf die griechische Plastik deutet, was ich von der griechischen Malerei gesagt habe, daß er den Ernst meines »Kampfartikels« offenbar nicht begreifen wollte, daß er auf den Gegensatz zwischen antiker und moderner Weltanschauung gar nicht eingegangen ist. So will ich nur den Punkt, auf den es ankommt, deutlicher herausheben.

Über die historische Bedeutung der griechischen Kultur kann ein Streit nicht bestehen; wir wissen alle,[280] was Wissenschaft und Kunst der europäischen Kulturvölker der Antike und der Renaissance verdanken. Und über den Geschmack zu streiten, wird uns nicht einfallen. Ich hatte meinen Liebling Anzengruber ins Treffen geführt. In seinem »Pfarrer von Kirchfeld« ist das Hauptmotiv die Sorge um ein ehrliches Begräbnis, beinahe wie in der »Antigone« des Sophokles; in seinen »Kreuzlschreibern« hat er gar das Hauptmotiv aus der »Lysistrate« des Aristophanes neu behandelt. Herr Dr. Schiff muß nun zugeben, daß Anzengruber uns verständlicher sei. Das allein habe ich behauptet; nur daß ich allerdings verständlich nenne, was die Sprache unserer Zeit spricht, und den lebendigen Kulturwert jeder anderen Sprache, jeder toten Sprache leugne.

Der Kern der Frage besteht darin, ob wir gut daran tun, in gefährlicher Pietät unsere gesamte Bildung immer noch zu stellen auf die gelehrte Beschäftigung mit einem alten, fremden Volke. Und dies eine sollten wir gewiß von den Griechen lernen: selbständig und national sein. Auch die Kultur der Griechen war ihnen nicht vom Monde heruntergefallen. Aber nur einzelne Forscher machten deshalb Reisen nach Indien und Ägypten. Die höchste Bildung der griechischen Jugend war national. Weder Achilleus noch Homeros, weder Perikles noch Sophokles hatten Lateinschulen besucht. Platon selbst verlangte von den Studenten seiner Hochschule nicht philologische, sondern mathematische Vorbildung. Waren die Griechen zu wenig historisch geschult, so sind wir es zu sehr.

Mit wenig Glück hat Emil Schiff Goethes Elegie »Also: das wäre Verbrechen, daß einst Properz mich begeistert« gegen mich zitiert. Zunächst will Goethe[281] mit diesen schönen Versen nicht seine klassischen Studien verteidigen, sondern seine Nachahmungen übermütiger und obszöner römischer Dichter; sodann wendet sich sein Angriff (in unmittelbarer Fortsetzung des Xenienkampfes) im Namen des lebendigen Geschlechts gegen »die wohlweisen Herren Moderatisten«, wie Schiller in seiner Antwort die ängstlicheren Gegner nannte. Goethe selbst sagt gleich nach den von Herrn Dr. Schiff abgedruckten Versen:


»Ja sogar der Bessere selbst, gutmütig und bieder,

Will nichts anders ...

Erst die Gesundheit des Mannes, der endlich vom Namen Homeros

Kühn uns befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn!«


Herr Dr. Schiff hält mich für einen Barbaren. Vielleicht wird er milder gestimmt, wenn ich ihm einen lateinischen Vers aufsage. Ovid war es, der in seiner Verbannung unter barbarischen Völkerschaften leben mußte, die seine Sprache nicht verstanden, und die darum, von ihrem Standpunkte ganz mit Recht, den römischen Dichter für einen Barbaren erklärten. Das spricht Ovid in dem Galgenhumor seiner Klagelieder aus: Barbarus hic ego sum, quia non intelligor ulli. Weil sie mich nicht verstehen, nennen sie mich hier einen Barbaren.«


*


Wieder einige Jahre später (1. August 1900) hatte ich über eine Neuaufführung des »Ödipus« zu berichten.

Ich hatte einmal geschrieben:

»Seit Friedrich Wilhelm IV. hören ja in Spree-Athen die Versuche nicht auf, grichischen Geschmack zu heucheln.[282]

Nach Äschylos kam im Berliner Theater Sophokles an die Reihe und mit ihm natürlich Licht und Klarheit, Kraft und Schönheit der hellenischen Welt. Von seinen Werken ist in unserem Jahrhundert die »Antigone« am häufigsten aufgeführt worden, teils der niedlichen Musik wegen, teils um der romantischen Liebe willen, welche moderne Übersetzer hineinübersetzt haben. Im Berliner Theater kam »König Ödipus« zur Aufführung, welcher die »Antigone« an bühnentechnischer Vollendung und darum an unmittelbarer Wirkung entschieden überragt. Schillers beinahe neidische Bewunderung des Dramas galt dieser Technik, welche im »König Ödipus« ein Virtuosenstück geliefert hat, wogegen weder die raffiniertesten Erfindungen Sardous, noch die aufgedröselten Handlungen Ibsens aufkommen können. Ibsen hat in den »Gespenstern« und in »Rosmersholm« bewiesen, wie fruchtbar eine Komposition werden kann, die nur langsam Vergangenes enthüllt; aber so wie Sophokles im »König Ödipus« hat nie wieder ein Dichter seine Zuhörer einfach durch verlangsamtes Emporziehen des Vorhanges zu spannen und zu erschüttern verstanden. Diese Technik ist so meisterhaft, daß wir eine Zeitlang das Milieu eines barbarischen Altertums mit in den Kauf nehmen. Wir lassen es eine Weile gelten, daß Orakelsprüche uns so mächtig wie Naturkräfte vorgestellt werden; unsere Nerven nehmen die ganzen rückwärts gelegenen Handlungen von Blutschande und Vatermord geduldig hin. Die unvergleichlich geführte Intrige nimmt uns gefangen, und wenn ein Dichter unserer Zeit imstande wäre, diesem Unterbau als Krönung einen menschlichen Schluß aufzusetzen, so wäre unter allen antiken Tragödien der »König Ödipus« noch am ehesten für die[283] lebendige Bühne zu retten; doch die Kluft zwischen dem antiken Empfinden und dem unseren ist wohl nicht mehr zu überbrücken. Wenn am Ende des Stückes in altmodischen Botenberichten die Palastgreuel hererzählt werden, und der Dichter ganz ohne Scheu vor unseren Augen die Fäden knüpft, an welche eine zweite Tragödie gebunden werden soll, so fängt der ehrliche Bildungsphilister heimlich zu gähnen an, und der unbestochene Mensch, der gegen den alten Sophokles keine persönliche Verpflichtung fühlt, hört plötzlich ganz leise aus den feierlichen Versen einen Bänkelsängerton heraus, der an gräßliche Moritaten erinnert.«

Dem fügte ich jetzt hinzu:

»Ich wiederhole alle diese für Philologenherzen unerträglichen Sätze, weil auch in der gestrigen Nachmittagsvorstellung dieselbe Grundstimmung zurückkehrte, trotzdem ich niemals eine bessere, eine weihevollere Sophoklesaufführung gesehen habe. Der volle Glanz einer antiken Festfeier lag über dem ersten Teile des Dramas. Ödipus weiß noch nicht, daß er Vatermörder und Blutschänder ist; mit blinder Hast forscht er nach der Wahrheit, die ihn vernichten wird. Die abgeklärte überlegene Weisheit, die klassische Schönheit der Chorgesänge, das strömt wie Sonnenstrahlen eines Frühlingstages auf uns nieder. Etwas Zerschmetterndes liegt anfangs in dem unbeugsamen Ratschluß der Götter, von denen wir nichts mehr erbitten, die uns aber als Symbole des Unbekannten, des Übermenschlichen erscheinen. Enger und enger legen sich die Schlingen um das Opfer der Orakel. Das Grausen wächst. Da plötzlich erblicken wir den armen Ödipus neben seiner Frau, die seine Mutter ist; man unterhält sich in feinen Versen über Entsetzlichkeiten, die nur die Phantasie einer vorhistorischen[284] Barbarei erfinden konnte; wir empören uns dagegen, daß ein völlig unschuldiger, höchstens ein bißchen jähzorniger Mensch von den Göttern oder vom Schicksal oder vom Priesterorakel zertreten wird, wie wir nicht einen Wurm zertreten möchten. Und wir gehen nicht weiter mit. Doch vielleicht ist die Einzahl in diesem Falle bescheidener, also: ich gehe nicht weiter mit. Das ist nicht Seele von unserer Seele; das ist kein Gebilde unserer Phantasie; das ist nicht unsere Sprache, das ist eine tote Sprache. Die Tragödie von Ödipus ist die Ahnfrau aller Schicksalstragödien; bewundernswert als ein Denkmal aus der herrlichsten Zeit der Kunstgeschichte, und doch unseren Schicksalen fremd geworden. Es gibt solche antike Tempel, die keine Ruinen sind, deren Steine noch unversehrt übereinanderliegen, in denen wir trotzdem nicht beten können, in denen wir höchstens pietätvoll umherwandern wie in einem Museum – einem Museum verstorbener Weltanschauungen. Auch für den Bund zwischen dem Dichter und dem Hörer heißt es wie für eine ideale Ehe: Dein Gott sei mein Gott! Und der große Pan mit den anderen Göttern Griechenlands ist tot. Weiß man es wirklich noch nicht? ...

Einen eigenen Genuß bot die Übersetzung, deren Urheber Professor v. Wilamowitz-Möllendorf ist, bekanntlich ein sehr geistreicher Herr und ein Philologe ersten Ranges; dennoch konnte es überraschen, wie modern mancher Gedanke wiedergegeben war. Man wurde mitunter an Mommsens Prosa erinnert. Wenn ein Urteil ohne genaue Vergleichung gestattet ist, so haben wir es nicht mit der wohlklingendsten, dafür aber mit der sinntreuesten Übersetzung des Werkes zu tun; wenn irgend jemand imstande wäre, das griechische[285] Theater wieder lebendig zu machen, so wäre es Professor v. Wilamowitz-Möllendorf.

Es ist nur wenige Wochen her, da stand ich einmal bei Sonnenuntergang zwischen den Ruinen des alten Theaters, in welchem der »Ödipus« vor zweitausendundsoundsoviel Jahren zum ersten Male aufgeführt worden ist. Ich versichere, daß dort wie oben auf der Akropolis alle Schauer der Pietät sich meiner bemächtigten. Ich dachte ... na, es wird niemand danach fragen. Ich schritt dann in der Dämmerung von der Totenstadt Athen nach dem lebendigen Athen der Gegenwart hinüber. Am Gitter des königlichen Gartens stürzten mir griechische Straßenjungen entgegen, schwangen ein Zeitungsblatt in der Luft und schrien in der etwas verunstalteten Sprache des Sophokles: Megalkatastrophi ton Anglon! (Große Niederlage der Engländer!) Das Blatt hieß »Akropolis«, und die Griechen im Kaffenion unterhielten sich nicht über die Perserkriege, sondern über den Burenkrieg. Als gestern der »König Ödipus« vorüber war, hörte ich gleich in der Charlottenstraße die megali katastrophi der Buren beklagen, auf deutsch natürlich. Vor zweitausendundsoundsoviel Jahren hat man in Athen gewiß lange Zeit von nichts anderem gesprochen als vom König Ödipus. Die Nutzanwendung?

Die Griechen der großen Zeit verdienen es sicherlich, unsere Lehrer zu heißen, wie in so vielen Dingen, also auch in der Poesie. Es kommt nur darauf an, was wir von ihnen lernen wollen. Hätten die Griechen, wie wir das seit fünfhundert Jahren treiben, sklavisch ihre Vorgänger nachgeahmt, so hätten sie irgendwelche asiatischen oder ägyptischen Stilarten beibehalten oder eingeführt. Die Griechen aber stellten sich auf ihre[286] eigenen Füße, schufen sich mit ihrem unerhörten Genie eine Heimatkunst, eine Gegenwartkunst. Das ist es, was wir von ihnen lernen sollten, wenn sich nur das zugehörige Genie gleich mitlernen ließe. Die Griechen waren vor allem Griechen; wir ahmen sie also am besten nach, wenn wir ganz und gar nicht mehr griechisch sind, wenn wir als Deutsche eine Heimatkunst, eine Gegenwartkunst zu gewinnen trachten.«


*


Und diesmal trat Friedrich Dernburg, der Freund auch von Karl Frenzel, für die Antike gegen mich in die Schranken, sehr verbindlich übrigens und natürlich scharmant in der Form. Ich mußte wieder antworten. Ich tat es am 8. März 1900.


»Der verbesserte Sophokles.


Lieber Dernburg! Ich habe jüngst Ihren Aufsatz »Der Gott der Schlachten« mit dem gewohnten Vergnügen gelesen, trotzdem ich an einer Stelle verwundert innehalten mußte. Da ist man Freund und Nachbar in der Zeitung und im Grunewald, da lernt man sich durch Aussprache über Gott und die Welt, durch gemeinsame unglückliche Liebe zur Musik und zu dem und jenem kennen, und nachher ist noch ein solches Mißverständnis möglich. Sie trauen mir zu, ich hätte unter dem »Menschlichen«, das ich im »König Ödipus« vermisse, die alte schale »poetische Gerechtigkeit« verstanden. Am Ende gar einen glücklichen Ausgang? Verlobung und Hochzeit der Antigone? Sie sollten doch wissen, daß ich nicht ganz so optimistisch empfinde, und daß ich für den Ernst in der Kunst einigen Sinn habe oder auszubilden mich bemühe. Wirklich, ein[287] blutiges Drama von Sophokles oder Shakespeare steht mir höher als irgendeins unserer Possenlustspiele, und wenn dieses zu drei, ja wenn es zu vier Verlobungen führte. Dessen versichere ich sie. Vor der alten poetischen Gerechtigkeit habe ich sehr wenig Hochachtung; uns Schülern von Otto Ludwig, uns Verehrern von Kleist und Hebbel ist die dichterische Darstellung von großen oder starken Charakteren und ihren notwendigen Schicksalen wertvoller als die poetische Gerechtigkeit, die Schuld und Sühne auf einer Apothekerwage abwägen möchte.

Was der Empfindung, was der Sprache der griechischen Dichter fehlt, das wird vielleicht klarer werden, wenn Sie mir gestatten, auf Ihre liebenswürdige Neckerei öffentlich zu antworten und dabei den Finger auf den Hauptpunkt zu legen. Was uns trennt, das ist eine Glaubensfrage. Sie glauben an die absolute, ich möchte fast mit Lessing sagen: mathematische Mustergültigkeit und Unfehlbarkeit der griechischen Poetik. Ihre weite Bildung flüchtet aus den literarischen Kämpfen der Gegenwart gern zu den stillen Altären griechischer Tempel; ich schaue dem gegenwärtigen Kampfe bald lachend, bald hoffnungsvoll zu und halte die Unfehlbarkeit der Griechen für einen Aberglauben. Da wir über die Verwerflichkeit des lateinischen Molochs, dem die Schulkinder zum Opfer fallen, eines Sinnes sind, so erwarte ich Sie noch einmal als klügeren und glücklicheren Mitkämpfer im Streite gegen die toten Symbole von Hellas. Vorläufig ist es Ihnen ein Spott, wenn Sie von einem verbesserten Sophokles reden; ich aber begreife gar nicht, warum ein griechischer Klassiker nicht von einem modernen Dichter verbessert werden könnte. Vor hundertfünfzig Jahren erschien Corneille dem europäischen[288] Geschmacke ebenso mustergültig wie Sophokles. Das hinderte unseren Lessing nicht, in dem erregten letzten Stücke seiner Hamburgischen Dramaturgie auszurufen: »Ich wage es, hier eine Äußerung zu tun, mag man sie doch nehmen, wofür man will! Man nenne mir das Stück des großen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette? –«

Sie sind auch ohne meine Bestätigung überzeugt, daß ich kein Lessing bin; aber ich habe auch nicht behauptet, daß ich den Ödipus vermenschlichen wollte. Ich habe es irgendeinem Dichter unserer Zeit anheimgestellt.

Die französischen Tragiker sind von unseren Bühnen verschwunden, weil sie uns nichts mehr zu sagen hatten; die ungleich größeren griechischen Tragiker will man uns immer wieder aufdrängen, trotzdem nur ein gründliches philologisches und kulturhistorisches Wissen sie recht verstehen kann, trotzdem sie uns nichts mehr zu sagen haben, trotzdem wir die meisten ihrer Gefühle nicht mehr fühlen, die meisten ihrer Gedanken nicht mehr denken können. Ihre Sprache ist für uns eine tote Sprache geworden, seitdem ihre Symbole uns tote Symbole sind; ich nenne es einen verbesserten Sophokles, wenn ein Dichter den Glanz des Altertums dadurch in unseren Besitz herüberrettet, daß er neu belebt, was tot ist an den Dichtern von Hellas und Rom. Erinnern Sie sich freundlichst, daß das doch öfter geschehen ist, als die alleinseligmachende Kirche der Philologen zuzugestehen geneigt ist; wobei ich allerdings um die Erlaubnis bitte, Sophokles als Vertreter der gesamten Antike auffassen zu dürfen.

Um nun das stolzeste Werk gleich zu nennen, erinnere ich zuerst an Goethes »Iphigenie«. Man muß dieses lichte Drama mit der »Iphigenie« des Euripides[289] vergleichen, nicht bloß auf den Stoff hin, um ganz bewundern zu können, wie Goethe die antiken Gestalten vermenschlicht hat. Bei Euripides hat Iphigenie einen einzigen weichen Zug; sie möchte den König Thoas nicht ermorden, sie könnte das nicht. Bei Goethe wird sie zum Weibe, zu einer hoheitsvollen Priesterin, der dennoch nichts Menschliches fremd bleibt. Und wie tief und rein löst sich das Gemütsleiden des Orestes in seiner unbeschreiblich schönen Vision nach dem Anfall der Verzweiflung, während bei Euripides der von den Eumeniden verfolgte Orestes nichts Besseres zu tun weiß, als nach der antiken Schablone in der Wut Hammelherden anzufallen. Nebenbei bemerkt, auch Ihr Freund, der von mir nicht minder verehrte Sophokles läßt seinen rasenden Aias (der Ratschluß der Götter hat ihn verrückt gemacht) im Wahnsinn auch nur Herden und Hirten angreifen. Das wenigstens werden Sie zugestehen, daß die Psychologie der Geisteskrankheiten seitdem Fortschritte gemacht hat.

Goethe wußte oder ahnte, was er der griechischen Fabel aus Eigenem gegeben hatte. Vierzig Jahre nach der Vollendung des Dramas schrieb er an den Berliner Freund anläßlich einer Neuaufführung des Stückes: »Was soll mir die Erinnerung der Tage, wo ich das alles fühlte, dachte und schrieb?« Weil er den Euripides nicht philologisch kopierte, weil er fühlte und dachte, darum können wir mit seiner Iphigenie noch fühlen und denken. Ich meine, man könnte das eine Verbesserung des berühmten Euripides nennen, den Sokrates und Aristoteles und Lessing (verzeihen Sie mir den Schulstaub, der leise aufwirbelt) als den tragischsten von allen tragischen Dichtern noch über Sophokles gestellt haben.[290]

Auch Kleist fühlte und dachte mit seiner Heldin, als er den »Amphitryon« des lustigen alten Plautus in das wunderherrliche Märchenstück verwandelte, das wir vor wenigen Tagen gesehen haben. Bei Plautus erscheint am Schlusse, genau so wie in der griechischen Iphigenie und im rasenden Aias, die sprichwörtlich gewordene Gottheit in der Wolkenmaschine. Wir müssen uns die Brutalität gefallen lassen, daß Jupiter berichtet, Alkmene habe in einer Niederkunft zwei Söhne geboren, der eine sei der Sohn des Jupiter, und Amphitryon möge mit seiner Frau in das frühere Verhältnis treten. Was sind diese Possenfiguren des Römers gegen die Geschöpfe Kleists, die alle Qualen und Seligkeiten des Menschen in ihrer armen Seele erleben! Ich meine doch, Kleist hat den Plautus und dessen griechische Vorbilder verbessert, da er die Molièresche Bearbeitung des Plautinischen Lustspiels fortentwickelte.

Da gerade von Plautus die Rede ist, so werden Sie gewiß erwarten, nun an Lessings tragischen Einakter »Philotas« gemahnt zu werden, der aus einer Comédie larmoyante des römischen Lustspieldichters entstanden ist. Aber da sollen Sie sich einmal geirrt haben. So pedantisch will ich doch nicht sein, um Lessings gar nicht so einfaches Verhältnis zum Altertum mit Ihnen durchzusprechen. Auch gehörte dazu eine Reihe von langen Winterabenden.

Da ist aber noch Grillparzer, zu dessen Verehrung ich Sie so gern ganz bekehren möchte, der raunzend achtzig Jahre alt geworden ist und dennoch den Namen eines österreichischen Kleist verdient. Grillparzer hat uns Hero und Sappho verstehen gelehrt. Zu unserer Auseinandersetzung gehört aber zunächst seine »Medea«, weil für die kindermordende Hexe eine griechische Tragödie[291] zur Vergleichung vorliegt. Mit fester Hand hat Grillparzer den unerträglichen Wunderapparat der antiken Bühne beiseitegeschoben, hat er die blutigsten Greuel fortgeworfen. Aus der schrecklichen und barbarischen Zauberin wird eine leidenschaftliche, verschlossene herbe Natur, die an die germanische Brunhild erinnert. Aus psychologischen Motiven, die wir nachempfinden können, steigt vor uns ein neues Drama auf. »Alle Medeen der tragischen Bühne alter und neuer Zeit treten gegen Grillparzers Medea in den Schatten, denn alle sind nur einseitig, äußerlich gefaßt, diese innerlich erschlossen.« Das sagt nicht etwa ein Tempelschänder und Bilderstürmer, das sagt der ruhige Literarhistoriker Karl Gödeke. Grillparzers Medea weiß ein Lied, ein Volkslied; die griechischen Heroinen sangen keine Lieder.

Grillparzers genialer Landsmann, der immer noch nicht (auch von Ihnen nicht) nach seiner ganzen Kraft gewürdigte Anzengruber, hat in seinen. »Kreuzelschreibern« eine der köstlichsten Possen des Altertums umgeschaffen, die »Lysistrata« des Aristophanes. Lesen Sie doch den Auftritt, in welchem ein alter Mann die Trennung von seiner alten Frau beklagt, wo Anzengruber die Tragödie mitten in seine prachtvolle Posse hineinragen läßt, und sagen Sie selbst, ob das nicht die riesenhaften Zoten des übrigens nicht genug zu preisenden Aristophanes übertrifft. Und damit Sie wieder etwas zu necken haben, will ich auch Anzengruber mit Sophokles zusammenstellen. In »Antigone« wie im »Pfarrer von Kirchfeld« wird zuletzt der Kampf um ein kirchliches Begräbnis ausgefochten, das das geschriebene Gesetz verweigert, das das ewig ungeschriebene Gesetz der Menschlichkeit bewilligt. Sophokles[292] spricht da einmal beinahe unsere Sprache; doch nur einmal und nur beinahe. Anzengrubers Pfarrer hat es besser gemacht.

Aber ich will das Wort vom verbesserten Sophokles nicht zu Tode hetzen. Sie haben es spöttisch gebraucht, ich habe es im Scherze angenommen; im Ernste will ich auch nicht behaupten, daß ein Dichter einen anderen Dichter jemals »verbessert« habe. Wir verstehen ja beide, um was es sich mir handelt. Darum: daß es auch in der Poesie eine Entwicklung gibt, daß Stoffe und Formen, die vor Jahrtausenden die höchsten Leistungen darstellten, in der Umgebung einer späteren Zeit nicht mehr lebensfähig sind, nicht mehr lebendig sein können, daß jede Zeit nur ihre eigene Sprache versteht. Nicht eine schulmeisterliche Abschätzung alter und neuer Dichter hatte ich im Sinne. Wer wollte das versuchen? Wir besitzen keine gleichen Maßstäbe für Sophokles und für Goethe, für Plautus und für Kleist. Niemand kann seine Geliebte mit der Frau vergleichen, die sein Urgroßvater geliebt hat. Und wehe dem, der die Geliebte des Urgroßvaters für schöner hält; er wird an seiner eigenen nicht die rechte Freude haben.

So ein Ideal des Urgroßvaters ist auch das griechische Schicksal, das nur von außen stößt; wir haben es ersetzt durch eine andere eherne Notwendigkeit, durch die psychologische Notwendigkeit des Charakters, die man auch die Unfreiheit des menschlichen Willens nennt. Das wäre wieder etwas für einen endlosen Winterabend, und der Frühling ist nicht mehr weit, wie wir trotz alledem und alledem glauben wollen.

In dieser Hoffnung und mit den schönsten Grüßen von Haus und Garten zu Haus und Garten Ihr usw.«[293]


*


Immer handelte es sich bei diesen Gegensätzen um ein Verkennen meines Ziels. Ich schlage die persönliche und die historische Bedeutung der wahrhaft großen Griechen wirklich nicht weniger hoch an, als ein begeisterter Oberlehrer es tut. Ich will nur nicht, daß ihre Herrschaft – einst so segensreich – über ihr natürliches Leben hinaus durch die Ruhmschablone der Schule und durch die Ruhmpotenzierung des Alters übermäßig verlängert werde; unsere Knaben sollen die Griechen mit eigenen Augen sehen lernen, nicht durch die Brillen der Klassikerpriester. Was in der Kunst morsch ist, zum Fallen bereit, das soll man ganz gewiß stoßen.[294]

III.

Weil die Gestalt des jüdischen Cagliostro, Jakob Franks, das Jugendleben und damit die Geistesrichtung meines Großvaters entscheidend bestimmte, weil ich selbst als Knabe durch Tatsachen und Legenden, die meine Mutter über die Beziehungen meines Großvaters zu Frank zu erzählen wußte, gründlich aus jeder Religionsgemeinschaft hinausgestellt wurde, weil dieses Abseitsstehen mir für meine Entwicklung wichtig scheint, darum möchte ich an dieser Stelle einfügen, was ich viel später, namentlich aus den Schriften von H. Graetz, erfahren habe. Der Geschichtschreiber des Judentums verrät einen fanatischen Haß gegen den Ketzer, gegen den abtrünnigen Frank; sein Urteil ist zum mindesten einseitig und seine unzähligen Schimpfwörter überflüssig; aber er teilt zuverlässige historische Quellen mit, durch die ich manche Legenden und Irrtümer meiner Mutter berichtigen konnte. Da mein Großvater über diese Dinge auch zu seinen Kindern niemals sprach, konnte sich meine Mutter nur auf sehr lückenhafte Äußerungen ihrer Mutter berufen; dazu mochte gekommen sein, daß meine Mutter die Verherrlichung Franks durch August Becker (in seinem Romane »Des Rabbi Vermächtnis«) und die viel geringern Romane, deren Helden die Sabbatianer waren[295] (von Storch und, wenn ich nicht irre, von Bäuerle), mit unkritischer Andacht gelesen hatte und die Erfindungen der Dichter und Schriftsteller mit ihren Erinnerungen vermischte.

Ich habe Cagliostro genannt, weil eine schlagende Ähnlichkeit in den Lebensläufen des Italieners und des galizischen Juden besteht; beide passen besser, als man gewöhnlich glaubt, in die wundersüchtigen Unterströmungen der Aufklärungszeit hinein; während aber der berühmtere, sogar von Goethe in Poesie umgewandelte Abenteurer im wesentlichen doch nur ein genialer Schwindler war, sicherlich ohne Glauben an seine magischen Kräfte, liegt dem Tun des Abenteurers Frank ursprünglich eine tiefe religiöse Überzeugung zugrunde: die Abkehr vom Talmudjudentum, der Glaube an den Sohar (das Grundbuch der Kabbala) und an den wahren Messias Sabbatai Z'wi. Bei dem häßlichen, ungebildeten Juden ist es viel merkwürdiger als bei dem schönen, vielfach unterrichteten Cagliostro, daß er mit Königen und Fürsten zu tun hatte und sich ungestraft den Adel beilegen konnte.

Frank hieß eigentlich Jakob Lejbowicz; er war im südlichen Galizien um das Jahr 1720 geboren. Die Hoffnung seines Vaters, ihn zu einem tüchtigen Talmudisten zu erziehen, schlug fehl; er rühmte sich später, unwissend geblieben zu sein, ein Amhorez. (Ich habe in meinem »Wörterbuch der Philosophie« I, 138 die Reihe von Lehnübersetzungen, die von diesem jüdischen Scheltworte zu »Heide« führt, darzustellen gesucht; im Sprachgebrauche der Juden bedeutet es so viel wie »Idiot«). Noch in jungen Jahren kam er im Dienste eines jüdischen Händlers nach den Balkanländern und nach Kleinasien, wo er zu Vermögen gekommen[296] sein soll; er heiratete und hatte zwei Söhne, bald nach 1750; wichtiger ist, daß er in Saloniki zu der Sekte der Sabbatianer übertrat. Kurz muß daran erinnert werden, daß der Stifter dieser Sekte, eben Sabbatai Z'wi, trotz seines (erzwungenen) Übertritts zum Mohammedanismus bei seinen Anhängern für den Messias, für den Gottmenschen galt, der sich zuerst in Jesus, dann in Mohammed, zuletzt in Sabbatai verkörpert hätte; eigentlich nicht zuletzt, denn die Seele des Messias wäre auf die Abkömmlinge Sabbatais übergegangen, denen wie Heiligen gehuldigt wurde. Die Sabbatianer verwarfen das alte Judentum, beteten eine seltsame Dreieinigkeit an, in welcher der heilige Geist durch eine weibliche Gottheit ersetzt war, und sollen – es wird ihnen, wie so vielen christlichen Ketzern, grenzenlose Unkeuschheit vorgeworfen – aus der Bibel nur das erotische Hohelied übernommen haben. Im Orient allein schätzte Niebuhr die Zahl der Sabbatianer zu Lebzeiten Franks auf 600 Familien1.[297]

In Polen lebten damals, zum Teil ohne jeden Zusammenhang mit den Sabbatianern, sehr viele Anhänger der Kabbala, die denn auch von den orthodoxen Rabbinern mit den fürchterlichsten Bannflüchen belegt wurden, und von denen noch hundert Jahre später Graetz Schauergeschichten zu erzählen weiß; die schönen Veröffentlichungen von Martin Buber lassen uns über diese inbrünstigen Kabbalisten jetzt anders denken. Lejbowicz, der in der Levante natürlich für einen Franken galt und den Namen Frenk oder Frank angenommen hatte, reiste nach Polen, angeblich von dem Propheten Elias oder von Gott selbst besonders dazu aufgefordert. In Podolien glückte es ihm, trotz seiner unansehnlichen Erscheinung und trotz seiner mangelhaften Sprache (er hatte das Polnische vergessen, redete das Kauderwelsch, das man noch heute die Lingua franca nennt, und mußte sich eines Dolmetschers bedienen) für den neuen Gottmenschen, für den wiedergebornen Messias gehalten zu werden. Die Sekte der Frankisten war damit entstanden. Aber schon nach kurzem Leben (1756) eröffneten die Rabbiner eine Ketzerverfolgung gegen sie; mit Bannflüchen wurde nicht gespart; und weil man nicht verbrennen konnte, wurden die Frankisten eingekerkert; auch Frank selbst. Er konnte jedoch nach Bessarabien entfliehen und veranlaßte seine Gemeinde von dort aus, sich dem Bischof gegenüber, der die ganze Sache inzwischen[298] vor sein geistliches Gericht gezogen hatte, darauf zu berufen: daß sie den Talmud verleugneten, daß sie an eine Dreieinigkeit und an eine Menschwerdung Gottes glaubten. Frank scheint den Bischof persönlich beeinflußt zu haben; jedenfalls hoffte der gute Kirchenfürst, die Juden mit Hilfe der Kabbala in den Schoß der Kirche hinüberführen zu können; er ließ die Gefangenen frei und gestattete ihnen, sich in der Nähe seiner Residenz niederzulassen. Es wird schon richtig sein, daß die Frankisten des Bischofs Gunst wahrnahmen, um sich an den orthodoxen Rabbinern und an ihren übrigen Verfolgern zu rächen; Graetz behauptet, die Antitalmudisten hätten das Märchen von den geschlachteten Christenkindern neu aufgebracht.

Der Bischof von Podolien hielt treu zu seinen guten Frankisten, als er im folgenden Jahre (1757) zum Erzbischof von Lemberg eingesetzt wurde. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, ein öffentliches Religionsgespräch zwischen den Talmudisten und den Antitalmudisten zu veranstalten. Es mag eine tolle Posse gewesen sein. Die Orthodoxen mußten sich bei hohen Geldstrafen einstellen, wagten es wahrscheinlich nicht, den christelnden Sätzen der Frankisten deutlich zu widersprechen, und dürften einander in ihrem Jargon jedesfalls wissenschaftlich nicht klar geworden sein. Offenbar zogen die Rabbiner den kürzern. Die nächste Folge war, daß die Exemplare des Talmud mit Zustimmung des Bischofs allerorten unflätig behandelt und verbrannt wurden. Doch bald darauf starb der Bischof, der päpstliche Nuntius zog den Judenstreit vor sein Forum und entzog den Frankisten den Schutz der Kirche. Wieder mußte Frank mit seinen Anhängern,[299] von allen Seiten verfolgt, nach Bessarabien entfliehen. Ein Versprechen des unfähigen und machtlosen Königs, das Privilegium des Bischofs von Podolien zu erneuern, war gegen die Stimmung des Adels und der Geistlichkeit völlig wirkungslos; wir stehen im Jahre 1758 und wenige Jahre später war ja Polen zu der ersten Teilung reif.

In dieser Not entschloß sich Frank, dem neuen Erzbischof gegenüber eine Erklärung abzugeben, nach der die Frankisten in ihrem trinitarischen Glauben den Papst als Oberhaupt anerkennen wollten. Die Taufe wurde nicht ausdrücklich versprochen. Der Erzbischof war noch schlauer als der Jude; er ließ die Erklärung drucken, verpflichtete sich aber zu nichts. Auf ein neues Gesuch (1759), in dem sie vom Könige und vom Erzbischof Hergabe von Land erbaten (sie würden dort auf ehrliche Weise ihr Brot verdienen und nicht wie die Talmudisten die Trunksucht der Bewohner fördern), bekamen sie von dem bekannten Minister Brühl gar keine Antwort, vom Erzbischof, der indessen Primas geworden war, die ungenügende Zusicherung, sie würden gewiß das ewige Heil erlangen, wenn sie sich zum Evangelium bekennen wollten.

Damit war dem Realpolitiker Frank nicht gedient. Als der Primas bald nach Gnesen abreiste, verhandelte Frank mit dem Administrator des Erzbistums Lemberg auf Grund praktischer Vorschläge: die Frankisten verlangten ein neues Religionsgespräch und wollten nachher sich der Taufe unterziehen und den römischkatholischen Glauben annehmen. Gegen den Rat des päpstlichen Nuntius, der sehr ungünstige und sehr interessante Berichte über die Antitalmudisten an die Kurie sandte, gab der Administrator dem Drängen Franks nach. Die Disputation dauerte drei Tage; und da kein einziger Teilnehmer[300] alle drei Sprachen (Polnisch, Lateinisch und Hebräisch) verstand, gab es wieder eine schwerfällige Verwirrung. Einige Judenverfolgungen blieben nicht aus; Frank, der mit orientalischer Pracht in einem Sechsspänner nach dem ersten Tage der Disputation erschienen war, mußte sein Versprechen halten und bewies seine Macht über die Frankisten dadurch, daß er die eigentlich Widerstrebenden zur Taufe zwang. Es wird berichtet (eben in dem Schreiben des Nuntius vom 31. Oktober 1759), daß es ohne die blinde Suggestion (der Nuntius gebraucht das Wort) nicht klappte, daß die Anhänger, wenn Frank nicht zugegen war und ihnen nicht zunickte, den Übertritt verweigerten. Die Kirche mag so gegen tausend arme Seelen gewonnen haben. Frank selbst verlangte und erlangte für sich – der Ausdruck trifft vielleicht die Sache – eine Extrawurst. Er wurde zuerst (19. September 1759) nur »halb getauft« (ich verstehe die Bedeutung dieses halben Sakraments nicht recht), seine Taufpaten waren ein Pole von hohem Adel und die Gattin des allmächtigen Grafen Brühl; die zweite Hälfte des Sakraments wurde etwa zwei Monate später in Warschau nachgeholt; der König selbst war Pate; der Täufling erschien mit fürstlichem, türkisch gekleidetem Gefolge; die Zeitungen jener Tage behandelten die Sache wie ein Ereignis. Um diese Zeit wurde dem Christen Frank ein Töchterchen geboren, das ebenfalls getauft wurde; auf den Namen Eva.

Franks Unvorsichtigkeit und wohl auch Prahlerei brachten ihn nach diesem Triumph in neue Gefahr. Durch die Katecheten der getauften Frankisten und durch aufgefangene Briefe wurde so gut wie erwiesen, daß sein Christentum nicht echt war: daß seine Anhänger ihn nach wie vor für den Messias hielten, sogar[301] die Wundmale Christi an ihm wahrgenommen hätten und in der Ehe sich nach jüdischen Gesetzen richteten. Daß die Anhänger in katholischen Gebetbüchern anstatt des Namens Jesus den Namen Jakob gesetzt hätten (übrigens hatte Frank in der Taufe den Namen Joseph angenommen, ohne später sich so zu nennen), mag auf die Aussage eines rachsüchtigen Mannes zurückgehen.

Jetzt schritt (Januar 1760) die Inquisition ein. Unter Drohungen oder unter der Tortur, man weiß es nicht, gestand Frank seinen Betrug ein und wurde zu Festungshaft verurteilt; Graetz bedauert, daß er nicht hingerichtet worden ist.

Dreizehn Jahre lang blieb Frank gefangen, anfangs in Ketten und sehr hart behandelt. Fluchtversuche mißlangen. Auch seinen Anhängern ging es schlecht. Aber sein Ansehen bei ihnen stieg womöglich noch höher. Die Ketten und die Martern waren ein neuer Beweis dafür, daß er der Messias war. In seiner Festung, dem Wallfahrtsorte Czenstochau, tat er Wunder: er heilte Kranke und ließ Tote auferstehen.

Weltgeschichtliche Ereignisse halfen Frank endlich aus dem Gefängnis. Schon bei dem Einmarsche russischer Truppen in Galizien hatte er den Versuch gemacht, sich als einen Verehrer der griechischen Kirche und als ein Opfer der katholischen Polen hinzustellen; er wäre imstande, zwanzigtausend Anhänger der griechischen Kirche zuzuführen; nach der ersten Teilung Polens (1772) wurde er wirklich in Freiheit gesetzt. Und bekam Geld. Woher ihm die großen Summen kamen, die ihn seit seinem Auftreten als Religionsstifter außerordentlich reich erscheinen ließen, ist immer ein Rätsel geblieben. In diesem Falle behauptet[302] Graetz, ohne seine Quellen anzugeben, daß er russischer Spion gewesen sei.

Er begab sich, sofort oder einige Jahre später, nach Mähren, wo die Frankisten – ebenso wie in Böhmen – unter den Juden begeisterte Gläubige gefunden hatten. Hier scheint er als unumschränkter Herr aufgetreten zu sein; er verlangte von seinen Leuten stramme Disziplin. Er nannte sich so, (auf deutsch) »heiliger Herr«. Was er jetzt lehrte, war ein wunderliches Gemisch von einem Himmelreich und einer goldenen Zukunft auf Erden. Die Taufe sei nur die erste Stufe; die zweite Stufe möchte etwa mit einem konfessionslosen Deismus gleichzustellen sein; die dritte Stufe blieb ganz unklar.

Frank wird jetzt auch äußerlich der Fürst der Frankisten; er umgibt sich mit einer militärischen Leibwache; arme und reiche Juden, die von überall zuströmen, müssen exerzieren und den vom Fürsten ernannten Offizieren gehorchen. Mit noch königlicheren Ehren, ja mit göttlicher Anbetung umgab er seine Tochter, die inzwischen zu einer schönen Jungfrau herangewachsen war. (Auch meine Mutter, die ihr Bild gesehen hatte, sprach von einer wunderbaren Schönheit.) Im Kreise ihrer adeligen Taufpaten erzogen, hatte sie überdies Sprache und Benehmen der polnischen Aristokratinnen angenommen. Frank vergötterte seine Tochter in jedem Sinne. Sie hieß bald Eva, bald Emuna (der Glaube) und galt ihm und seiner Schar für eine Inkarnation der Weltseele. Nur ein König würde ihr Gatte werden.

Über Franks österreichische Zeit entstanden tolle, einander oft widersprechende Legenden. Bald sollte Kaiser Joseph II. Eva haben heiraten wollen, bald sollte er den Vater verfolgt haben.[303]

Endlich (1788) gelang es dem vielleicht schon müden Abenteurer, ein – ich möchte sagen – bürgerlicher Grandseigneur zu werden. Der kleine Jude, der nacheinander Türke, Katholik und russischer Grieche gewesen war, der jetzt über eine nicht anerkannte Sekte herrschte, kaufte einem deutschen Fürsten, dem von Homburg-Birstein, sein Schloß in Offenbach ab, mit den souveränen Rechten eigener Gerichtsbarkeit und Polizei. Der neue deutsche Standesherr nannte sich: Baron von Frank. Wir sind im Jahre 1788, kurz vor dem Ausbruche der großen Revolution. Baron von Frank lebte auf noblem Fuße. Der Hofstaat bestand zuletzt aus mehr als tausend Anhängern, die sich aus Polen, Mähren und Böhmen unter den Befehl ihres Meisters gestellt hatten und oft namhafte Geldsummen von ihren gläubigen Vätern mitbrachten. Der Baron und seine Tochter besuchten mitunter mit großem Pompe den katholischen Gottesdienst. Aber im Schlosse, welches kein Unbefugter betreten durfte, herrschten mystagogische Bräuche; den neuen Ankömmlingen wurden kabbalistische und wohl auch alchimistische Geheimnisse vorgemacht, und der Glaube daran gehörte zum militärischen Gehorsam. Es ist charakteristisch für Frank, daß er noch in seinem siebzigsten Jahre, schwer erkrankt, durch eine gewaltige Finanzoperation für die Zukunft seiner Tochter sorgte; seine Anhänger sollten ihn vor seinem Tode noch einmal besuchen und nicht mit leeren Händen kommen; der Ertrag dieser Steuer wird auf beinahe zehn Millionen Mark geschätzt.

Frank starb im Dezember 1791; sein Leichenbegängnis war prunkhaft. Nach jüdischem Brauche. Kein katholischer Geistlicher wirkte mit.[304]

Es wird angenommen, daß die deutschen Bankiers Frey, die während der Schreckenszeit in Paris guillotiniert wurden, die beiden Söhne Franks waren.

In Offenbach, wo volle sechs Jahre lang auf die Auferstehung Franks gewartet wurde, wo aber die Disziplin sich allmählich lockerte, führte Eva-Emuna den Hofstaat mit verschwenderischem Luxus weiter. Gegnerische Schriften machen die Tochter Franks zu einer Hochstaplerin. Wie Frank selbst die Gerüchte geduldet oder veranlaßt hatte, er wäre der 1762 angeblich ermordete Zar Peter III., so galt Eva für eine natürliche Tochter der Zarin Elisabeth von Rußland. Tatsache ist, daß just seit dem Tode der Zarin Katharina II. (1796) die Geldverlegenheiten im Offenbacher Schlosse nicht mehr aufhörten. Graetz, der in seinem Hasse zu einem ausgemachten jüdischen Antisemiten wird und besonders gegen Eva-Emuna die gemeinsten Verdächtigungen andeutet, behauptet, der Hofstaat wäre von da ab nur noch durch geheimnisvolle Erpressungen weiter gefristet worden; der Zar Alexander hätte der Jungfrau (Graetz beschimpft sie auch bezüglich dieses Charakters und gebraucht verfängliche Worte; sie war aber damals schon 53 Jahre alt) im Jahre 1813 ein größeres Geldgeschenk gemacht. Vier Jahre später ging es mit dem Hofstaate zu Ende. Die Schulden sollen auf drei Millionen Gulden angewachsen sein. Die Gläubiger erwirkten eine Untersuchung durch die hessischen Gerichte. Erzherzog Karl, damals Gouverneur von Mainz, wollte die Vernehmung persönlich leiten. Kurz vor dem angesetzten Tage starb Eva plötzlich. Die Gläubiger behaupteten, sie wäre nicht gestorben, ein ehemaliger isenburgscher Staatsbeamter hätte ihr zur Flucht verholfen.[305]

So endete die merkwürdige Geschichte mit einem letzten Rätsel. Die Frankisten jedoch, die in Polen, in Mähren und in Böhmen als Katholiken oder als Juden weiter lebten, bewahrten dem Stifter ihrer Sekte und der Königin Eva eine treue Verehrung.


*


Es bleibt mir nur übrig, nach dieser flüchtigen Darstellung des Abenteurerlebens die Angaben meiner Mutter mit den historischen Tatsachen zu vergleichen. Ich habe schon die Vermutung ausgesprochen, daß deren Erinnerungen durch das Lesen der sogenannten historischen Romane vielleicht gefälscht worden waren. Dahin mögen die Erzählungen gehören, in denen mein Großvater als frankistischer Offizier gegen Militär kämpfte; es ist nicht unmöglich, daß die Mutter da sogar die Frankisten mit den um hundert Jahre älteren Sabbatianern verwechselte. Aber auch das Leben und der Tod Franks lagen ja lange vor der Geburt meiner Mutter.

Unbedingt zuverlässig war sie jedoch, wenn sie aus eigenem Gedächtnis berichtete. Ich meine ihre oft wiederholte Erzählung: sie war noch ein kleines Mädchen, als frankistische Abgesandte in Horzitz eintrafen, um sich vom Großvater allerlei Schriften und das Bild der »Königin« (natürlich Evas) ausfolgen zu lassen. Daraus, daß mein Großvater wichtige Papiere und das ansehnlich große Bild in Verwahrung hatte, ließe sich der Schluß ziehen, daß er im »Heere« wirklich eine höhere Stellung innegehabt hatte. Bei Frank selbst, oder erst bei seiner Tochter?

Diese Frage kann ich nicht mit Sicherheit beantworten. Wurde mein Großvater nur 101 Jahre alt,[306] wurde er also erst 1775 geboren, so war er bei Lebzeiten Franks zu jung, um schon zu seiner Leibwache zu gehören. Nach einer andern Rechnung, die meine Mutter für die richtige hielt, wäre ihr Vater 1766 geboren, also 110 Jahre alt geworden; dann hätte er leicht als Zwanzigjähriger die Abenteuer Franks mitmachen können. Aber eine andere Familientradition spricht dafür, daß mein Großvater erst nach dem Tode Franks zu dem Hofstaate der »Königin« gehörte. Er soll nämlich zu gleicher Zeit mit einem Jüngling aus einer reichen Prager Judenfamilie in Offenbach gewesen sein; dieser jedoch, Herr von Portheim (die Familie war inzwischen geadelt worden, sie hieß früher Porges), der in meiner Knabenzeit noch als ein sehr angesehener Herr, und auch als Musikfreund geschätzt, zu Prag lebte, war gewiß erst nach Franks Tode zu den Frankisten gekommen. Er soll von seinem Vater, einem überzeugten Anhänger des neuen Messias, hingeschickt worden sein, um lieber den Soldaten zu spielen, als im österreichischen Heere zu dienen. Dieser Herr von Portheim sprach sich als Greis sehr abschätzig über das Treiben am Hofe der »Königin« aus. Sicher ist, daß mein Großvater zu dem weit emporgekommenen Genossen zu meiner Zeit keine Beziehungen mehr hatte. Wenn mein Großvater aber in den gleichen Jahren oder im gleichen Jahre mit Herrn von Portheim in Offenbach lebte, so hatte er Frank selbst nicht mehr gekannt und war ein Page oder ein Offizier der Eva-Emuna gewesen. Nach seinem Tode habe ich es leider versäumt nachzuforschen, ob sich in seiner Hinterlassenschaft irgendein Papier über die Frankistenzeit vorfand.

IV.

Viel härter als sein Lehrer Scherer (und auch in Hinblick auf die Technik viel ungünstiger als Friedrich Spielhagen) urteilte über diesen meinen ersten Roman Otto Brahm. Da ich aber den ganzen Aufsatz von Brahm nicht ungerecht finde, es nicht einmal beklagen will, daß er mich sehr scharf aus dem Gebiete der poetischen Produktion verbannte, mir allein die Satire als Lebensaufgabe zuwies, so wäre kein Grund gewesen, hier auf einen der objektivsten Artikel einzugehen, die Brahm im Laufe der Jahre über mich geschrieben hat. Sollte ich Zeit und Neigung finden, in einem zweiten Teile meiner »Erinnerungen« von meinem Schriftstellerleben in Berlin zu erzählen, so dürfte ein Kapitel »Otto Brahm« nicht fehlen. Hier, wo meine Stellung zum Judentum mich allein beschäftigt, handelt es sich mir nur darum, daß Brahm in jenem Aufsatze (»Frankfurter Zeitung« 1882 Nr. 87) klug wie immer bemerkt, und auch sonst weiß, daß ich meine eigene, ganz individuelle Jugendgeschichte darzustellen versuchte, daß er aber – doch wohl im Widerspruche zu den Grundsätzen seiner Taine-Brandes-Schule und im Gegensatz zu Scherer – diesen Umstand tadelte und einen Typus[308] verlangte. Er schrieb im Verlaufe seines eingehenden Feuilletons:

»Nur eines müssen wir festhalten von Anfang an, weil es nicht nur der Titel, sondern auch die Sache fordert: daß der Held eine symbolische, für das Judentum im allgemeinen und die gegenwärtige Bewegung im besonderen typische Figur sein muß.

Ist der Held von Mauthners Roman, der Arzt Heinrich Wolff, eine solche typische Figur, sein Schicksal ein vorbildliches?

Schon aus der knappen Angabe der Fabel, welche ich voranstellte, wird sich das Gegenteil ergeben lassen. Ganz und gar nicht typisch, von Anfang bis zu Ende völlig individuell ist der Fall Heinrich Wolff. Individuell sind die Bedingungen seines Werdens, individuell ist sein Charakter, individuell sein Empfinden wie sein Schicksal. Er ist dem Judentum innerlich fremd von Jugend auf, wie nur wenige, er steht allein in der Welt, losgelöst vom heimatlichen Boden, von Familienbeziehungen; der freie Herr seiner Entschließungen; er hat nicht nur äußerlich (wie der Autor oft wiederholend uns erzählt) nichts vom Juden, sondern auch nichts in seinem Charakter von all den Eigenschaften des jüdischen Stammes. Man hat es Lessing vorgeworfen, daß sein weiser Nathan zu wenig von solchen Eigenschaften besitze; aber, verglichen mit Heinrich Wolff – wie groß erscheint uns die jüdische Besonderheit Nathans! Heinrich ist nicht klug, nicht beweglich, nicht witzig, noch scharfsinnig, er ist empfindsam und wieder empfindsam, wie ein Jüngling vor hundert Jahren, der den Werther gelesen. Nichts verwunderlicher, als wenn ihn einmal jemand einen ›modernen Realisten‹ heißt, ihn, der, gleich Werther, sein Herzchen[309] hütet wie ein krankes Kind, und mit untätigem Idealismus die Dinge um ihn herum geschehen läßt.

Also ein neuer Ahasver ist Mauthners Held nicht, eine typische, für das Judentum und die Wirkung der antisemitischen Bewegung vorbildliche Figur ist er auch nicht.«[310]

V.

Unter der Leitung von Otto Benndorf, der sich als Organisator auch in seinem archäologischen Seminar und öffentlich besonders bei den österreichischen Ausgrabungen in Ephesos (wo ich 1899 auf seine Empfehlung sehr freundlich aufgenommen wurde) bewährte, lernte ich den großzügigen Betrieb einer jungen Disziplin kennen. Trotzdem ich übrigens der einzige Nichtphilologe in seinem Seminar war, vertraute er mir die Herstellung des Katalogs an, als die Regierung ihm bescheidene Mittel für die Errichtung eines Museums für Gipsabgüsse gewährte. Seine Zufriedenheit mit dieser Arbeit, die ich natürlich nach seinen Anleitungen ausführte, brachte mich ihm noch näher, als ich ihm durch die Leistungen im Seminar und bei dem allwöchentlichen Kränzchen in seinem Hause gekommen war. So kam es, daß ich auf seine Anregung sogar zur Herstellung von gewissermaßen offiziösen Schriftsätzen – der einzige Fall in meinem Leben – herangezogen wurde. Das eine Mal handelte es sich darum, die großen Mittel der böhmischen Sparkasse für einen etwas kostspieligen Entwurf des geplanten Künstlerhauses herauszulocken; »wir« setzten es durch, daß der Sieg dem – übrigens tschechischen – Architekten Zitek zufiel, trotz der Kosten, die die[311] vorbedachte Summe weit überstiegen. Das zweite Mal sollte ebendieselbe böhmische Sparkasse als Bauherr bewogen werden, das kleine archäologische Museum im Künstlerhause unterbringen zu lassen. Ich weiß nicht mehr, ob das Ziel erreicht wurde. Ich weiß nicht mehr, ob Benndorf mit diesem Aufsatze ganz zufrieden war. Ich finde nun beim Durchlesen, daß ich zum offiziösen Schriftsteller nicht tauge, niemals getaugt habe. Ich habe jetzt über manche lokalpatriotische Wichtigtuerei des Aufsatzes gelacht, über viele stilistische Holprigkeiten, über die schlecht gespielte akademische Würde, mit der ich offenbar meinen Lehrer nachzuahmen suchte. Man wird es nach dem Gesagten sicherlich nicht für Eitelkeit halten, daß ich das alte Zeug hierher setze; es scheint mir das sicherste Mittel ein Bild von dem unfertigen jungen Menschen zu geben. (Ich ändere nur sichtbarliche Druckfehler und ähnliche Versehen.) Ich aber hatte folgendes geschrieben:

»Unser Prag, die historische Stadt par excellence, das alte Prag, welches dem Fremden so zahlreiche Anregungen zu kunstgeschichtlichen Studien bietet, ist für den Einheimischen, der erfahrungsgemäß die monumentalen Bauten seines Berufsortes gern unbeachtet läßt, ein recht trostloser Aufenthalt, soweit die Freude an den Werken der bildenden Kunst in Betracht kommt; wo der Berufsmensch seinen ständigen Aufenthalt genommen hat, da findet er schwerlich die Muße, sich mit einem bedeutenden Zeitaufwande eine Übersicht der Kunstschätze seiner Stadt da und dort zusammenzusuchen, sondern er liebt es, wenn er überhaupt wirklich ästhetische Genüsse zu seinen Bedürfnissen zählt, eine Bildergalerie, ein Kunstmuseum, kurz Sammlungen aufzusuchen, in welchen ihm die geordnete Masse[312] des Gebotenen die Belehrung angenehm und das Vergnügen belehrend zu machen gewußt hat. Daß Prag in diesem Punkte hinter anderen Städten von gleicher Größe und Bedeutung zurücksteht, ist leider eine Tatsache, welche, würde sie auch nicht so klar vor unseren Augen stehen, sich aus den bekannten sozialen Verhältnissen als Prämissen a priori ableiten ließe; hier soll jedoch der Stoßseufzer über den Mangel an Instituten für Förderung des künstlerischen Sinnes (dessen Abstumpfung wieder ihrerseits auf die Schwierigkeit, solche Institute zu schaffen, zurückwirkt) nicht pessimistisch verklingen, sondern auf die Möglichkeit soll hingewiesen werden, daß in einer eben eröffneten Sammlung, dem archäologischen Museum der Universität, ein Zentralpunkt geschaffen wurde für die Bildung eines Museums von Gipsabgüssen, dieses vorzüglichen Anschauungsunterrichtes für unsere gar so unplastisch herangebildete Generation.

Freilich sind es ursprünglich näher gesteckte Ziele, welche solche archäologische Sammlungen anstreben und welche die österreichische Regierung mit ihrer liberalen Fundation zu erreichen suchte: es sollen vor allem der immer weiter ausgreifenden Wissenschaft der Philologie die nötigsten Realien geboten werden, ohne welche der Jünger derselben nicht leicht zu einer vollendeten Auffassung antiken Wesens geführt werden kann. Darum ist auch die Errichtung solcher Institute der Lieblingsgegenstand der Archäologen geworden, seitdem die Wissenschaft, der trockenen Sichtung des überkommenen Literaturvorrates müde, daran geht, antiken Geist in unser Fleisch und Blut zu hauchen. So entstand zuerst in Bonn, unter der Leitung des berühmten Archäologen Welcker, eine solche Schöpfung,[313] welche von ihren Leitern, von Professoren und Studenten, von Privaten gefördert, nach dem letzten Ausweise mehr als 700 Kunstwerke, Originale und Nachbildungen, umfaßt; dem Beispiel dieser Hochschule folgten bald die Akademien von Königsberg, Breslau, Münster, Gießen, Tübingen, Würzburg, Leipzig, welche alle seit den zwanziger, resp. den dreißiger Jahren über ansehnliche Sammlungen verfügen.

In Österreich fühlte man schon damals die Wichtigkeit dieser Bestrebungen; wenigstens nennen die Wiener Jahrbücher 1828 IV. S. 58 die Schöpfung Welckers »ein Beispiel, dem ohne Zweifel seiner Zeitgemäßheit wegen ihre (der Bonner Universität) gelehrten Schwestern bald folgen und was in dieser Hinsicht an einigen Orten etwa schon früher geschah, zu vervollkommnen bemüht sein werden«. Aber erst in der letzten Zeit, als das Bestreben, den berühmten deutschen Universitäten ebenbürtige Anstalten bei uns an die Seite zu stellen, mit energischen Mitteln in Angriff genommen wurde, wurde auch auf dieses Glied in dem Organismus einer Hochschule Bedacht genommen; es wurde eine neue Lehrkanzel für Archäologie und Kunstgeschichte (denn Erasmus Wocel beschränkte sich auf slawische Archäologie und Ambros tradierte nur moderne Kunstgeschichte, neben seiner Spezialität der Musikgeschichte) errichtet, und dem von München nach Prag berufenen Professor Otto Benndorf eine ansehnliche Summe zur Verfügung gestellt, um ein archäologisches Museum ins Leben zu rufen, wie er ein solches schon in Zürich dirigiert hatte. Während die obenerwähnten Universitäten ihre Sammlungen aus kleinen Anfängen langsam wachsen sahen, hat die unsere, dank der Dotation der zwar spät, aber mit vollem Bewußtsein[314] und mit zureichenden Mitteln eingreifenden Regierung, den Vorteil, schon heute, wenige Monate nach der Gründung, eine hübsche, wohlgewählte Kollektion von Gipsen ihr Eigen zu nennen, die schon in ihrem jetzigen Umfang ihrem knappsten Zwecke, die griechische Kunstgeschichte zu illustrieren, entspricht.

Ein Gang durch die beiden hellen Räumlichkeiten, welche der Sammlung zugewiesen sind, führt an den markantesten Vertretern der griechischen Plastik vorüber, von den rohen Anfängen bis in die Zeit, da sie im Dienste des römischen Luxus ausklingt; da ist vor allem eine Metope aus Selinunt, die Ermordung der Medusa durch Perseus darstellend, als ältestes historisch bestimmbares Bildwerk von hoher Bedeutung für die Kunstgeschichte. Der freie Naturalismus, der diese Metope trotz der abscheulichen Häßlichkeit ihrer Figuren fundamental von den schematischen Werken der prähellenischen Zeit unterscheidet, feiert bereits die schönsten Erfolge in der Behandlung des Körpers an den Ägineten, deren Anschaffung allein das Museum besuchenswert macht; wer das berüchtigte »äginetische Lächeln« nur aus Büchern oder etwa noch von der Bühne kennt, der kann es an diesem Dutzend kämpfender, verwundeter und sterbender Menschen studieren; wer aber diese Gruppe, den größten Schatz an Antiken, den Deutschland besitzt, in der Münchner Glyptothek gesehen hat, der wird überrascht durch die vorzügliche Treue der Gipsabgüsse, welche hier in einer die Aufstellung der Originale in einzelnem korrigierenden Weise aneinandergereiht stehen. Die gleichfalls noch der älteren Kunst angehörige Gruppe der Tyrannenmörder, Harmodios und Aristogeiton, zeigt so recht den Wert der Vervielfältigung für die Wissenschaft[315] selbst: ein scharfsinniger Archäolog hat diese beiden Statuen, deren Originale getrennt aufgestellt sind, als zusammengehörig erkannt und was sich an dem Marmor nicht prüfen läßt, das führt der billigere Gips bequem vor Augen. Ein Blick noch auf einige fein komponierte Grabstelen (Grabsäulen) und der Sinn ist vorbereitet, um den hohen »Stil«, die Periode des Phidias, anzuschauen. Freilich mit bestimmten Originalwerken des Meisters kann die Kunstgeschichte nicht dienen, so schön auch die seiner Schule angehörende Nike von der Balustrade des Tempels der Athene Nike in ihrer Bewegung ist, so wunderbar der Zellafries des Parthenon, von welchem uns eine Reitergruppe sowie einige Köpfe aus der Göttergruppe köstliche Proben geben. Für die Vorstellung von den viel berufenen Kolossalbildern des Meisters muß auch eben das Erhaltene genügen, so die bekannte Zeusmaske von Otricoli, welche als die schönste Idealisierung des Donnerers zu der unverdienten Ehre gekommen ist, für eine direkte Nachbildung des Phidiasschen Zeustypus zu gelten; dagegen findet die Phantasie, welche sich das chryselephantine Riesenbild der Athene Parthenos vergegenwärtigen will, einen Anhaltspunkt in der kleinen unvollendeten sogenannten Lenormantschen Statuette, deren streng architektonisch gegliederte Formen bei ihrer den entgegengesetzten Stil fordernden Kleinheit allein auf eine Nachbildung eines monumentalen Werkes hinweisen würden. Wie die Gestaltungen der Plastik unter der allmählichen Weiterentwicklung des Geschmacks und des Könnens gefälligere, zierlichere Proportionen annahmen, das lernen wir in feiner Vollendung an dem Adoranten, dessen nähere Bekanntschaft das Prager Publikum im letzten Winter gemacht hat. Wenn der Besucher[316] des Museums all die anderen Gipse übersieht, welche erst im Vereine sich gegenseitig erklärend die großen Lücken in der hier durchmessenen Zeitfolge ausfüllen, so wird er noch wenigstens bei der wunderbaren milonischen Venus verweilen, an deren vorzüglichem Abguß vielleicht der kleine Irrtum korrigiert werden sollte, der sich jüngst an der Zusammenstellung ihrer Marmorstücke ergeben hat; und bevor er mit der Absicht, bald wieder zu kommen, die Sammlung verläßt, wird er andächtig vor der Juno Ludovisi stehenbleiben und wird vielleicht über die mögliche Bedeutung der Worte nachsinnen, die Goethe in derselben Situation ausgerufen hat: »Wie ein Gesang Homers!«

Ein solches Museum ist, wie bereits hervorgehoben, in erster Linie für den Gebrauch der Studierenden angelegt, doch hat es auch fürs große Publikum, dem die Anstalt eben eröffnet wurde, einen nicht zu unterschätzenden Wert; die junge »Winckelmannische« Wissenschaft ist schon gegenwärtig zu einem Element unserer mit Recht getadelten, aber von jedem geforderten allgemeinen Bildung geworden. Wie man aber keine Einsicht in die Schönheit eines Volksliedes erhält, wenn man bloß die Noten desselben betrachtet, ohne den Ton sich vorstellen zu können, so müssen auch alle Bemühungen fruchtlos bleiben, welche der Gebildete anstellt, um sich dem Verständnis der Kunstgeschichte »auf trockenem Wege« zu nähern.

Überhaupt will ja unsere Zeit die Lust an der keuschesten[317] Göttin, jener der Schönheit, wieder aufleben lassen, die so lange abgetöteten Sinne sollen wieder in ihr Recht eingesetzt werden; es sei nur daran erinnert, wie das Zeichnen eine immer höhere Geltung im Bereiche des Jugendunterrichtes erringt, wie einstimmig von Fachleuten und vom Publikum der künstlerische Maßstab an die Erzeugnisse des Handwerks gelegt zu werden beginnt, wie namentlich in Deutschland das Interesse an der bildenden Kunst, freilich vorläufig vielfach als Mode, sich sowohl in der Teilnahme an öffentlichen Unternehmungen, als auch in der Einrichtung und Ausschmückung des eigenen Heims bekundet: all das sind Symptome einer nicht genug zu betonenden Zeitrichtung, welche allerdings vorerst durch äußere Anregungen veranlaßt wurde, welche aber am erfolgreichsten durch das stille Wirken oft gesehener Meisterwerke zu unserem eigensten innern Eigentum werden kann. Soll aber eine Sammlung solcher Meisterwerke in genügender Vollständigkeit angelegt werden, so muß der Unternehmer, wenn ihm nicht die allmächtige Kraft zur Verfügung steht, eine Dresdner Galerie, einen Louvre anzulegen, zu Nachbildungen greifen und wird Gipsmodelle der Hauptwerke aller Zeiten und Völker leicht zu einem übersichtlichen Ganzen vereinigen können. Der Vorzug des Gipses vor andern Vervielfältigungsarten, so vor der matten Photographie, welche dem Kenner wohl eine gute Erinnerungshilfe, dem Nichtkenner des Originales jedoch eine sehr schlechte Vorstellung von demselben gibt, ist so allgemein anerkannt, daß auf eine Begründung einzugehen unnötig erscheint, und auf eine Sammlung von Originalwerken muß wohl eine Stadt wie Prag verzichten, da ja auch eine leichter zu beschaffende Gemäldegalerie bei geringen[318] Mitteln eine dankenswerte Sammlung zufällig zusammengekommener Bilder weit eher abgeben wird, als eine auch den Laien anregende, fast möchte ich sagen lebendige Geschichte der Kunst.

Ein solches Institut, freilich auf die griechische Kunst beschränkt (doch ist diese für die angedeuteten Zwecke die wichtigste) liegt nun dem Prager Publikum in dem archäologischen Museum vor und es steht ganz in dem Willen und der Macht des gebildeten Publikums, nicht nur durch den Besuch desselben jene plastische Nacherziehung an sich selber vorzunehmen, sondern auch durch ein werktätiges Interesse an der inkunablen Anstalt dieselbe zu erweitern zu ihrem und dem eigenen Vorteil. So könnte sich langsam ein umfassendes Museum für Gipsabgüsse heranbilden, dessen Wirksamkeit sich über kurz oder lang in allen unsern Lebensäußerungen, die vom Geschmack mitbeeinflußt sind, nachweisen lassen müßte.

Gleichzeitig mit der Eröffnung des Museums tritt bekanntlich eine andere hochwichtige Schöpfung, der Bau des Künstlerhauses in Prag, aus dem Zustand des Träumens in den des Planens über; dieser glückliche Umstand gestatte den Ausdruck der Freude darüber, daß bei der im Prinzip angenommenen Anlegung von Ausstellungsräumen auch auf eine Herberge für die verschiedenen Gipssammlungen unserer Anstalten Bedacht genommen wurde. Die Vorteile wären auch für die Gipsabgüsse, sowie für die Bedeutung des Künstlerhauses gleich ansehnliche; denn die großsinnige, lokalpatriotische Schenkung eines monumentalen Kunstasyls soll doch auch eine weitgreifende positive Macht üben und nicht bloß der Schaulust dienen und eine positive Wirksamkeit auf das große, nicht Entree zahlende[319] Publikum wird eben ein Museum für Gipsabgüsse vorzüglich äußern.

Die böhmische Sparkasse würde also mit Zulassung eines bis aufs Handwerk wirkenden Instituts ihren Klienten, den »kleinen Leuten«, in edelster Weise den Gewinstüberschuß als geistige Superdividende rückerstatten. Übrigens wäre das Museum ein bescheidener und freundlicher Gast in den Hallen des Künstlerhauses; für die großen Rundwerke genügt ein Saal von mäßiger Größe, und Reliefs, Architekturstücke und Büsten würden gerne im Treppenhaus und sonst, wo es passend erscheint, das gastliche Haus zum Danke schmücken helfen, so daß ohne gegenseitige Opfer das Haus seine Zierde, die selbstbedeutenden Zierden ihre Behausung hätten.«

VI.

Zu Pfingsten 1873 feierte die »Halle« das Jubiläum ihres fünfundzwanzigjährigen Bestehens; unter meinen alten Papieren finde ich etwas, was ich damals geschrieben habe (ich »schließe« das aus der Unterschrift F. M–r) und was im März in irgendeiner Wiener Zeitung erschienen sein muß; ich drucke aus dem Aufsatz einiges ab, das trotz der schlechten Schreibart interessieren möchte:

»Sowie das Jahr 1848 überhaupt in Böhmen die Grenzscheide zwischen einer einheits- und darum nationalitätslosen Zeit der sicheren Bürgerruhe bildet und einer neuen Zeit des Kampfes, so spiegelt es sich auch in der Bewegung, mit welcher die österreichischen Studenten sich an der Aufregung jener Tage beteiligten.

Im Frühjahr 1848 hatte sich in Prag, analog dem Vorgehen der Wiener Studenten, ein Studentenausschuß gebildet, der, die drei weltlichen Fakultäten und die Techniker zu vier Kohorten vereinigend, glücklich durch die Ausnahmszustände hindurchlavierte; die Unbefangenheit, mit welcher die deutschen Studenten sich einer utraquistischen Vereinigung anschmiegten, in deren Mitte sie die Minorität bildeten, erlitt den ersten Stoß, als der tschechische Ausschuß eine Einladung, welche einen allgemeinen Kongreß von Vertretern der[321] Studenten sämtlicher deutschen Universitäten auf der Wartburg bezweckte, mit der Begründung zurückwies, »daß die Prager Universität keine deutsche sei«. (Übrigens scheinen die Herren Studiosen kein Geld im Sack gehabt zu haben und stellten sich wohl darum mit auf den nationalen Standpunkt.) Diese Haltung gab den ersten Anstoß zu einer besonderen, separatistischen Einigung der deutschen Studenten, welche am 8. November 1848 die Gründung einer Lese- und Redehalle der deutschen Studenten beschlossen; als der »Prager Studenten-Ausschuß« wenige Tage später einen ähnlichen Antrag annahm, nannte er sich von da ab »Akademischer Leseverein« und gerierte sich hinfort gerne als der umfassende Vereinigungspunkt für Akademiker beider Nationalitäten; ja, im Jahre 1852 forderte er den deutschen Verein auf, sich mit ihm wieder zu verbinden. In einer scharfen, aber berechtigten Antwort wies die junge Lesehalle dieses Ansinnen zurück. Der gewählte Name »Akademischer Rede- und Leseverein« war ein Zeichen der Zeit – heißt es darin – und eine Konsequenz der Schöpfung des Vereines selbst, indem natürlich ein »Studenten-Ausschuß der Prager Universität«, der sich so nennt, ohne Deutsche in seiner Mitte zu haben, auch einen derartigen, mit einem Gemein-Namen bekleideten Verein hervorrufen mußte.

Jene Zuschrift des »Akademischen« Vereines gab vor, den deutschen als eine Art Zweigverein, und zwar mit wissenschaftlichen Zielen, zu betrachten; eine solche Richtung bildete sich zum Glücke immer mehr heraus. Die Zeit des Sturmes und des Dranges, da sich die Musensöhne erkühnten, freche, himmelstürmende Petitionen an Kaiser und Regierung zu richten (als da sind: um Erlaubnis zur Gründung eines Turnvereines,[322] um Errichtung einer Lehrkanzel für deutsche Literatur) diese Zeit ging vorüber, und die entnüchterten Titanen hatten Muße, sich ohne Turnverein und ohne deutsche Literatur zu brauchbaren künftigen Staatsförderern heranzubilden; da sollte denn die »Halle« mit ihren rasch anwachsenden Hilfsmitteln die verschiedenen Bestrebungen vereinigen, und zwar in ihrer zweiten Qualität, als Redehalle.

Das Redenwollen scheint aber den Behörden immer eine sonderbare Schwärmerei, und so mußte die Redehalle, wie die Verfolgten im Märchen, eine ganze Menge von Metamorphosen durchmachen, bevor sie unter der neuen Ära wieder zu Ehren kam; gleich im Jahre 1849 kam der Belagerungszustand und mit ihm ein peinliches Verbot alles Redens.

Wenn Liebende einander nicht sprechen dürfen, so geben sie sich Rendezvous auf der letzten Seite eines geduldigen Journals, und wenn Vereinsmitglieder nicht debattieren dürfen, so legen sie ein Album auf, worin sie ihre Gefühle in gebundener Rede äußern. Aber in der Lesehalle gab es auch damals einsichtslose, blutgierige Kritiker (ich glaube gar, unser gewesener Wauwau war auch dabei), welche die zarten Blüten mit ihren kalten, forschenden Blicken zu Tode schauten; als nun die Existenz der Redehalle an der Strenge des Diktators, die des Albums an der Strenge der eigenen Zensur gescheitert war, da beschloß der Ausschuß, dem Redeverbote durch Abhaltung »wissenschaftlicher Zirkel« einen Esel zu bohren. Darob großes Entsetzen bei der Polizeibehörde von 1852, und darauf ein denkwürdiger Bescheid vom 23. Januar, wonach solche Zirkel »mit strengem Ausschluß aller wie immer in die Politik hinüberstreifender Fragen« zum größten[323] Schmerze aller Gutgesinnten im Prinzipe gestattet wurden; freilich sollte der Gegenstand dieser wissenschaftlichen Bestrebungen beschränkt bleiben auf 1. Übungen in Sprachen; 2. Stenographie (o Universitas litterarum); 3. gemeinschaftliche Lesung deutscher, namentlich altdeutscher (sic), lateinischer, griechischer, sowie auch der Klassiker anderer Völker. So komisch der Eindruck ist, den diese ammenhafte Sorge der Behörde für die jungen Leute hervorbringen muß, so peinlich ist es, sich gestehen zu müssen, daß unser faktisches Lerngebäude bis jetzt auf diesem antediluvianischen Fundamente basiert, daß – – doch das vielleicht ein andermal; für heute nur noch die köstlichste Vorschrift jener polizeilichen Verordnung: die Zahl der einen Zirkel bildenden Vereinsmitglieder ist auf höchstens 8 bis 10 beschränkt, das heißt auf so viel, »als um einen Tisch herum sich setzend Platz finden können«.

Welch ein Abgrund österreichischer Polizeiweisheit! War es die psychologisch begründete Überzeugung von der retardierenden Kraft, welche durch die Berührung des Körpers mit dem Stuhlholze hervorgerufen wird, die zu jener Beschränkung Anlaß gab? Oder wollte man pietätvoll die jungen Leute durch das Sitzenmüssen daran erinnern, wieviele wackere Männer sitzen mußten, bevor die glücklichen Epigonen die goldenen Freiheiten genießen konnten, so viele nämlich, als um einen Tisch herum sich setzend Platz finden können? Doch wer kann solche labyrinthische Wege erforschen, ohne den Ariadnefaden eines österreichischen Bureaukratendenkens zu besitzen. Aber die Polizeiverordnung vom 23. Januar 1852 kann auf ihre segensreichen Erfolge wahrhaft stolz sein; sind ja unsere Patres conscripti[324] Zöglinge jener Zeit, und merkt man es den Parlamentsverhandlungen doch an, daß ihre Redner in solchen Versammlungen ihre Sporen verdienten, wo so viele ihren Worten lauschten, »als um einen Tisch herum sich setzend Platz finden können«.

Die Zeiten werden recht schlecht; in die Rumpelkammer wurde der heilige Tisch gestellt und kein anderes niederschlagendes Mittel wird seiner Zaubermacht nur entfernt gleichen. In der Redehalle der deutschen Studenten wird stehend (proh dolor!) über selbst an das Gebiet der Politik streifende Materien gesprochen, zum Beispiel über Kesselsteinbildung und Frauenerziehung, über Schopenhauer und Kohlentarife, über den Herrgott und die Spektralanalyse; und wenn vorletzterer nicht mit seinem Donner dazwischenfährt, so erleben wir es am Ende noch, daß unser sich eben verjüngendes Parlament einer neuen Generation Zutritt gönnt, welche stehen gelernt hat; so erleben wir es am Ende noch, daß ein österreichischer Lasker einmal von freien Stücken aufsteht und das Parlament in eine wohltuende gelinde Aufregung versetzt. Bis dahin mag aber das hohe Präsidium weiterhin durch schlau gestellte Fragen bald eine oder die andere Hand, bald den ganzen Körper sich zu erheben zwingen, um so durch Anordnung harmloser, unscheinbarer Turnübungen seine volle Sympathie für die heranreifende Generation junger Ruhestörer zu bezeigen.«[325]

VII.

Ich werde in den Erinnerungen aus meiner Berliner Zeit viel von den Wunderlichkeiten des herzensguten Menschen zu erzählen haben; auch wie er mir wegen meiner Parodie der »taufrischen Amme« zürnte, und wie er sich versöhnte. Weil er aber, Auerbach, der Allerweltspate, auch mein Pate geworden war, möchte ich gleich hier, an der Schwelle meines Schriftstellerlebens, einfügen, was ich am Tage der Hundertjahrfeier seines Geburtstages (28. Februar 1912) veröffentlicht habe.

»Da lebt irgendwo fern von jeglicher Berührung mit deutscher Literatur ein ganz kleiner Verleger, der es sicherlich nicht wünscht, daß ich hier seinen Namen nenne; er hat mir vor wenigen Wochen den ehrenvollen Antrag gestellt, die ›immer noch zugkräftigen Theaterstücke‹ Auerbachs neu herauszugeben und in einer biographischen Einleitung ›ordentlich die Trommel zu rühren‹. Der Mann hat offenbar den Dichter der Dorfgeschichten mit der Birch-Pfeiffer verwechselt; mit wem er mich verwechselt hat, das habe ich nicht erfahren. Aber der bewegliche Schluß seines Briefes hat mir zu denken gegeben. ›Man wird demnächst Auerbachs hundertsten Geburtstag mit großen Worten feiern. Wird man aber das Unrecht der letzten Jahrzehnte wieder[326] gutmachen? Wird man seine Theaterstücke wieder aufführen und lesen? Die Werke werden jetzt frei für den Nachdruck und für das Volk. Die Zeit für die Auferstehung Auerbachs ist gekommen.‹ Dieser Verehrer Auerbachs hat keine Ahnung davon, daß alle dramatischen Versuche des Dichters durchaus mißlungen waren; aber er hat etwas läuten gehört vom Schicksal Auerbachs. Und dieses Schicksal stimmt nachdenklich. Nicht sentimental; das hätte sich Auerbach denn doch verbeten.

Im Jahre 1843 sind die ersten Bände der Schwarzwälder Dorfgeschichten erschienen; von da ab bis in die siebziger Jahre hinein war und blieb Berthold Auerbach ein Liebling oder gar der Liebling der deutschen Leser; die besten Männer, die ernstesten Forscher und Politiker liebten ihn und seine Schriften; dann begann ein neues Geschlecht über seine Alterswerke zu lächeln, und heute ist Auerbach aus der Gunst der Leser verdrängt, die einst bewundernd zu Auerbach als zu ihrem Meister aufgeblickt hatten. Anzengruber, der zuerst die Bauern in eigener Sprache darstellen lehrte, und Tolstoi, der trotz manchen Selbstbetrugs hingebungsvolle Volkserzieher, hatten sich als Schüler Auerbachs gefühlt. Doch der neue Pharao, das neue Geschlecht mag die Alten nicht, will die Modernen des Tages, will mit historischer Undankbarkeit nur die Stimmen der eigenen Zeit vernehmen. Der Zeit! Da steht ja das Wort, das alles erklärt, nur sich selber nicht. Das nachdenklichste Wort.

Die Zeit (nicht just die unsere) ist ein harter und liebloser Würger; sie schreitet über Leichen. Und läßt sich doch mit Hilfe des Kalenders von jedem Kinde ausmessen. Man überlegt einige Jahresziffern und bemerkt[327] wieder einmal, wie alt man selbst geworden ist. Vor hundert Jahren wurde Berthold Auerbach geboren, vor dreißig Jahren ist er gestorben; nach dem Gesetze wird binnen Jahresfrist sein geistiges Eigentum Allgemeingut werden. Auerbach hat im Kampfe ums Dasein und in einer verschwenderischen Gebelaune allzuviel geschrieben; er kann unmöglich mit seinem ganzen Gepäck auf die Nachwelt kommen. Die Frage ist nur, ob die Reihe seiner köstlichen Dorfgeschichten, zu denen doch auch der Roman »Auf der Höhe« gehört, der 1864 seinen Siegeszug begann, nicht die Enkelkinder der ersten Leser wieder entzücken wird. Oder vielmehr: es ist keine Frage. Es wäre freilich verkehrt, die alten Dorfgeschichten diesen Enkeln durch literarhistorische Betrachtung empfehlen zu wollen, zum Beispiel durch den Nachweis, daß der schönste und reifste Volksroman unserer Zeit, Gerhart Hauptmanns ›Emanuel Quint‹, dem Dichter sicherlich unbewußt, auf die grüblerischen Helden Auerbachs zurückgeht. Nein, auch ohne Literarhistorie werden die Dorfgeschichten neue Freunde gewinnen. Aber man werde hier und da über die veraltete Form der silbernen Schale lächeln, in der die goldenen Früchte liegen, so kann man mir sagen; über die unerschöpfliche und nicht immer tiefe Spruchweisheit Auerbachs, die sich in den Alterswerken lästig vordrängt, doch auch schon in den Dorfgeschichten sich allzugern reden hört. Der »Collaborator« mit seinen tausend und abertausend wohlweisen Gedanken und Gedänklein hat ja den Dichter niemals rein gestalten lassen, ist ihm immer ins Wort gefallen. Mag man lächeln, mag man meinetwegen (selten) herzlich lachen. Lächeln und lachen wir nicht auch über die kleinen Unarten eines Kindes, das wir lieben?[328]

Es ist hoffentlich nicht unbescheiden, wenn ich bei der Frage nach der Revision des Prozesses Auerbach mit einer persönlichen Angelegenheit komme. In diesem Frühling werden vierzig Jahre herum sein, seitdem ich Auerbach persönlich kennenlernte. Dann war ich in den letzten sechs Jahren seines Lebens sehr oft in seiner Gesellschaft, in seinem Hause und in dem meinen, auf Spaziergängen, im Theater und nachher bei Bier oder Wein. Ich habe Auerbach eigentlich sehr liebgehabt: es war nicht möglich, ihn nicht liebzuhaben, den grundgütigen Mann, der nach einem Worte von Fanny Lewald jedesmal wie ein Niklas mit vollen Taschen erschien, der immer etwas zu schenken hatte; und der wie in einem Rausche von Güte am liebsten das Wertvollste schenkte, das er besaß: sich selbst. Seine legendare Eitelkeit konnte unserer Liebe keinen Abbruch tun; es war eine so kindliche, so entwaffnende, so bescheidene Eitelkeit. Ein Märchenprinz, der Dornröschen erweckt hat und dessen erstes Wort nach dem Kusse lautet: »Schau, was ich da für einen hübschen Kotillonorden habe.«

Meine Liebe zu Auerbach konnte mich nicht verhindern, im Jahre 1878 eine Parodie seines Stils zu veröffentlichen, die doch wohl, da sie noch heute in literarhistorischen Würdigungen Auerbachs zitiert wird, zur geringeren Schätzung des Dichters beigetragen haben mag. An dieser alten Parodie ist nicht viel gelegen. Auerbach selbst war nur einige Wochen lang böse auf mich und hat mir dann das ›Attentat‹ mit überaus herzlicher Feierlichkeit (er hatte immer sehr viel Sinn für Feierlichkeit) verziehen. Ich habe aber das Bedürfnis, mir darüber klar zu werden, wie sich etwa das pietätlose Lachen über Auerbachs Schwächen mit der Liebe zu seiner prachtvollen Persönlichkeit[329] vertragen konnte oder (mit anderen Worten): warum Auerbachs Dorfgeschichten trotz ihrer künstlerischen Schwächen ein Schatz unserer Poesie geblieben sind.

Was nun das Lachen anbelangt, so stand ich damit ja nicht allein. Selbst in den beiden bedeutendsten Grab- und Trauerreden, die dem bewunderten Dichter und dem teuern Freunde von Vischer und von Lasker gehalten worden sind, werden die Schwächen des Mannes ehrlich erwähnt, die Schwächen seiner kindlichen Eitelkeit, die eben den Spott reizten; und sogar der getreue Biograph Auerbachs, ›der literarisch wohlbewanderte und warmherzig zugewendete‹ Anton Bettelheim, dessen Auerbachbuch trotz ›übereifriger Buchung jedes Löbeleins‹ vortrefflich ist, ruft einmal aus (allerdings bei Erwähnung ganz mißlungener journalistischer Darbietungen): ›Muß nicht der bestgesinnte Leser, der zu selten mit Auerbach lachen kann, über so verstiegene Unnatur lachen?‹

Als nach dem Tode Auerbachs seine Briefe an den Vetter Jakob herauskamen, die – anfangs naiv, dann immer bewußter niedergeschrieben – eine vollständige Selbstbiographie bildeten, war der Eindruck wieder so verzweifelt kompliziert: köstlich und doch oft komisch, zum Küssen komisch. Wirklich: wie man über ein geliebtes Kind lacht.

Das parodistische Lachen durfte aber nicht laut werden, durfte nicht Kritik sein wollen, wenn es sich nur gegen die kleinen menschlichen Schwächen des Dichters richtete, wenn es nicht das Wesentliche traf in der Kunstübung Auerbachs. Da glaubte aber ein neues Geschlecht im Rechte zu sein, wenn es sich gegen die vermeintliche Schönfärberei und das ewige Moralisieren des alten Herrn empörte.[330]

Man datiert den Beginn dieser literarischen Revolution in Deutschland gewöhnlich vom Ende der achtziger Jahre, wo so viele junge Talente in Reih und Glied eine neue Ästhetik und eine neue Ethik in Dichtungen zu gestalten suchten. Die Sehnsucht nach dem neuen Ideal, nach l'art pour l'art (Auerbach sagte dafür ›künstliche Kunst‹), war aber bei uns durch Franzosen, Russen und Skandinavier schon früher geweckt worden, machte uns unzufrieden und wohl auch ungerecht gegen die Dichter, die damals in Deutschland auf der Höhe ihres Ruhmes standen. Es kann und soll nicht geleugnet werden, daß unter diesen Dichtern Berthold Auerbach derjenige war, der als Künstler den neuen Forderungen beinahe am meisten zu wünschen übrigließ.

Als Künstler bloß. In einer bei ihm seltenen Stunde von Selbstkritik hat er (in einem Briefe an Jakob) sein glückliches Naturell gerühmt, das Fehlen an strenger Methode aber beklagt: ›In meinem Schaffen wie in meinem Leben.‹ Das Wort Methode war nicht gut gewählt; der Fehler lag tiefer, Auerbach war nicht nur in seinen Dramen ganz unfähig, eine wohlgefügte Handlung aufzubauen und handelnde Menschen plastisch darzustellen; auch in seinen besten Novellen ist die Handlung lose gefügt, und die Menschen werden uns durch ganz andere Vorzüge vertraut als durch eine künstlerische Meisterschaft ihrer Zeichnung. Ich habe es schon gesagt: Auerbach schenkte am liebsten sich selbst. Sich selbst schenkte uns Auerbach in den Gestalten, die wir darum liebhaben wie ihn; und nicht etwa bloß hinter den aufrechten Bauern, den weisen Juden, den weitblickenden Politikern steht der kluge Kopf Auerbachs mit seinen gütestrahlenden Augen,[331] sondern Auerbach blickt und spricht auch aus dem braven Barfüßele, aus dem selbstsicheren Lorle, aus all den jungen und alten Weiblein seiner Dorfgeschichten und seiner Romane. Für diese Maskerade, die uns den Dichter hinter jeder seiner edlen Gestalten erkennen läßt, und für die künstlerische Gefahr dieser Technik ist keine seiner Dorfgeschichten so bezeichnend wie ›Ivo, der Hajrle‹. Es ist die Geschichte eines guten und begabten Jungen, der für den geistlichen Stand bestimmt worden ist, in der katholischen Anstalt sich zuerst recht behaglich fühlt, dann aber nicht Geistlicher wird, weil er an diesem Berufe irre geworden ist. Es ist schon öfter, wenn auch niemals stark genug, darauf hingewiesen worden, daß Auerbach für diese Figur sein eigenes Modell war. Auerbach, das Judenkind aus Nordstetten, hatte Rabbiner werden sollen und war dann nach jahrelangem Schwanken Schriftsteller geworden. Man kann leicht in der frommen Bäuerin, Ivos Mutter, Auerbachs eigene Mutter wiedererkennen; Züge aus des Dichters Jugend in den Erlebnissen des katholischen Dorfjungen. Nicht genug daran, zuletzt fällt Auerbach so sehr aus der Rolle, daß er eine Anspielung auf seine eigene poetische Sendung wagt; Ivo ist (dank einem sehr romanhaften Zufalle) bürgerlicher Sägemüller geworden, spielt aber abends gern auf seinem Waldhorn und freut sich, wenn Burschen und Mädchen den fernen Klängen lauschen: ›Wenn ich weiß, daß die Töne weit hinausfliegen und noch anderer Menschen Herz erfreuen, da ist mirs noch viel lieber, und ich bin noch viel fröhlicher und besser.‹ Achtet man nun genauer auf diese Beziehungen, so entdeckt man plötzlich, wie farblos, wie wenig katholisch die Seelenkämpfe Ivos sind, wie wenig katholisch sein[332] religiöser Gegensatz zu den Eltern; Auerbach hat einfach, wie in seinem Spinozaroman, den eigenen jugendlichen Abfall vom orthodoxen Glauben geschildert. Man vergleiche, um die artistischen Mängel beider Gestalten deutlich zu sehen, den Spinoza in Kolbenheyers ›Amor Dei‹ und den alten Geistlichen in Anzengrubers ›Pfarrer von Kirchfeld‹. Auerbach konnte immer nur sich selbst schenken, weil er nur sich selbst darstellen, nur sich selbst reden lassen konnte.

Der Fall Ivo ist nicht der einzige dieser Art; vermutlich ist auch ›Der Tolpatsch‹ – er heißt im ersten Entwurf »Der Hemdklunker« – nach einem jüdischen Modell gezeichnet.

Und dennoch. Es ist nicht wahr, daß die Artisten uns reicher gemacht haben. Einen solchen Prachtmenschen, wie Auerbach einer war, trotz alledem, hat uns die Artistenpoesie der letzten Jahrzehnte nicht wieder geschenkt. Wir lieben in ihm einen Menschen, dessen Herzenswärme durch keinen Kunstverstand gekühlt worden ist.

Wir wollen ein bißchen ehrlich und dankbar sein. Auerbach darf seinen Platz nicht beanspruchen neben den Ganzgroßen der Weltliteratur; auch in seinen schwächsten Stunden aber hat er sich ja selbst nicht[333] so hoch gestellt. Er hat sich nur mitunter Ziele gesteckt, die seiner naiven Kunst unerreichbar waren; darum versagte er in seinen historischen Romanen ebenso wie in seinen weit ausgreifenden Zeitromanen (unter denen aber vielleicht der Dreibänder ›Waldfried‹ doch noch ein neues sinniges Publikum finden wird; ein treuer Süddeutscher hat da die Volksgeschichte des deutsch-französischen Krieges geschrieben.) Er versagte auch leicht als Volkserzieher, in seinen Kalendergeschichten, weil er oft zu salbungsvoll ins Predigen geriet. Aber seine lieben Dorfgeschichten wollen wir uns nicht nehmen, uns durch unser eigenes Lächeln nicht schlecht machen lassen. Kunst hin, Kunst her! Auerbach war uns und kann uns wieder sein: ein Mehrer der Freude am Leben. ›Diese Kunst ist Freude am Leben‹, hat er einmal von der Malerei der Niederländer gesagt. Wie wir die Gestalten des ungleich größern Rembrandts nicht missen möchten, so wollen wir auch auf die Bekanntschaft, auf den Umgang mit den Auerbachschen Mädeln und Männern und alten Frauen nicht verzichten, die nur so von Güte und Klugheit strotzen und von ihrer eigenen Schönheit. Die Modelle dieser Gestalten seien in Nordstetten nicht zu finden, auch nicht im Schwarzwald oder sonstwo in Deutschland? Ein Grund mehr, sie in Auerbachs Dorfgeschichten zu suchen am Tage seiner fröhlichen, ganz und gar nicht feierlichen Auferstehung.«

VIII.

Meinen Jungfernaufsatz, eben den Abschiedsgruß an den herzlich verehrten, nach Wien berufenen Lehrer, habe ich weder unter dem Wust meiner Papiere noch das Zeitungsblatt in einer Prager Büchersammlung auftreiben können. Der jugendliche Überschwang würde auch nur einen einzigen Menschen interessieren, mich selbst. Der Zufall wollte es aber, daß Ambros wenige Tage nach meiner Ankunft in Berlin, wohin ich im Sommer 1876 ausgewandert war, starb und so der erste Aufsatz, den ich in meiner neuen Heimat schrieb, wieder ein Abschiedsgruß für Ambros wurde, der Nekrolog. Ich finde auch den Stil dieses ungenügenden Versuchs erbärmlich, will aber doch einige Stellen um der Sache willen mitteilen; das »Ganze« stand in Paul Lindaus »Gegenwart« am 15. Juli 1876.

»Die ganze musikalische und literarische Welt wußte, daß August Wilhelm Ambros Verfasser einer grundgelehrten Geschichte der Musik ist, man kannte ihn als Musikkritiker von unglaublicher musikalischer Belesenheit und seltener Wärme für oder gegen seinen Gegenstand, als Komponisten von strenger Schule und feinstem Geschmacke, als einen Kunsthistoriker von enthusiastischem Forschertrieb und erstaunlicher Raritätenkenntnis, doch nur seine Bekannten wußten, daß[335] dieser merkwürdige Kopf mit seinen überfüllten Speichern voll der gründlichsten juristischen, philologischen, historischen und vor allem musikalischen Kenntnisse, beherrscht wurde von einem der besten Herzen, die je für menschliche Ideale geschlagen haben. Wäre Jean Paul auch nicht einer seiner Lieblingsschriftsteller gewesen, man wäre doch im Gespräche mit Ambros die Erinnerung an Jean Paulsche Helden nicht leicht los geworden.

Eine ruhig abwägende Würdigung seiner fachmännischen Tätigkeit müßte der Feder eines Fachmannes für ein Fachblatt vorbehalten bleiben; als Mensch jedoch fordert Ambros die allgemeine Teilnahme, welche ja glücklicherweise und zur Förderung idealen Strebens bei besonderen Gelegenheiten, bei Jahresfeiern und Todesfällen, ohne die lästigen Dämpfer der zurückhaltenden Alltagssprache sich äußern darf. Die haarscharfe, abgeschliffene, darum aber auch dünne, allzu biegsame Sprache unserer werkeltäglichen Zeit möchte man bei der Erinnerung an die rührende Gestalt des jüngst Verstorbenen vertauschen gegen den überschwänglichen Redefluß der schönen Seelen des ›Titan‹, oder gegen den stachellosen Witz des Armenadvokaten Siebenkäs. Wie gesagt, man wird die Erinnerung an Jean Paul nicht los, wenn man an Ambros denkt, vielleicht den letzten Jünger Jean Paulschen Stils, vielleicht den letzten Hüter von Jean Pauls wärmender Geistesflamme.

Ambros war ein Alleswisser von stupender Gelehrsamkeit und doch kein moderner Gelehrter, ein Enthusiast für alle möglichen Ideale und doch kein moderner Kulturkämpfer, er war ein beinahe nationalitätsloser Humanist und doch kein moderner Kosmopolit;[336] er war eben kein ›moderner‹ Mensch, sondern mit seinen sechzig Jahren ein Vertreter der alten Zeit, welche den Namen der ›guten‹ alten Zeit verdiente, wäre sie von vielen solchen Leuten vertreten. Wie sich diese scheinbaren Gegensätze in demselben Manne verbinden konnten, das mag ein kurzer Blick auf die wichtigsten Momente seines Entwicklungsganges erklären.

August Wilhelm Ambros wurde (am 16. November 1816) zu Mauth, einem kleinen böhmischen Städtchen, geboren; Böhmen war damals und noch viele Jahre später ein Land ohne Nationalitätsbewußtsein, ein Land, dessen beide jetzt einander so feindlichen Volksstämme sich nur dadurch unterschieden, daß die Deutschen das Tschechische noch schlechter als das Deutsche sprachen, die Tschechen das Deutsche noch schlechter als das Tschechische. Erst das Jahr 1848 hat in Böhmen die Frage nach der Nationalität ernsthaft und allgemein auftauchen lassen; erst damals begann sich die Bevölkerung allmählich in zwei gegnerische Lager zu trennen, und dabei mochte es oft vorkommen, daß selbst hervorragenden Persönlichkeiten in dem einen Lager nicht nur die Kampflust gegen die Brüder von vorgestern im andern Lager, sondern geradezu das Bewußtsein von dem Nationalitätsbegriff abging; noch heute gibt es in Prag mehr als einen schwarzgelben Mann aus älterer Schule, der zur deutschen Sache geschworen hat, weil die Quellen aller Bildung in Böhmen deutsch sind, der aber diesem Schwure nur insofern die Treue hält, als er in deutscher Sprache denkt, spricht und schreibt. Ein Deutscher in diesem Sinne, ein platonischer Deutscher ohne politisches Bedürfnis, ohne die kleinste politische Ader, ein deutsch sprechender Europäer war Ambros.[337]

Die Studien, welche er an österreichischen Anstalten betrieb und die ihm 1839 die juridische Doktorwürde eintragen, konnten unmöglich einen andern Geist in dem jungen Manne wecken; der Unterricht lag in den Händen von Geistlichen oder geistlich erzogenen Männern, welche dem Schüler wohl ihr nicht selten bedeutendes Detailwissen übermitteln konnten, die aber selbst gewöhnlich zu wenig Bildung besaßen, um den Geist der jungen Generation zu freier Beherrschung des Wissensmaterials zu schulen. Überdies mußte Ambros seine Lieblingsfächer lebenslang neben einem Beruf treiben, der damals in Österreich – ›das sind jetzt überwundene Zeiten‹ würden die Offiziösen sagen – dem geistigen Streben nicht eben freundlich gegenüberstand; Ambros trat nämlich nach kurzer Tätigkeit bei der Finanzprokuratur zu der Staatsanwaltschaft über, wo er es bis zu der Bedeutung eines Oberstaatsanwalts-Substituten brachte. Charakteristisch für sein Wesen, charakteristisch für die Unmöglichkeit eines Zusammengehens von Staatsanwalt und Schriftsteller ist es, daß Ambros bald nach 1848 als Substitut des Generalprokurators gegen den Redakteur des ›Konstitutionellen Blattes‹ mit einer Klage auftreten mußte, obwohl er selbst als Musikschriftsteller Feuilletonist dieses Blattes war. Nur eine Natur wie Ambros, der im Reiche der Kunst bei fast kindlicher Unkenntnis der Verhältnisse irdischer Reiche lebte, dessen Milch frommer Denkungsart von keinem Tropfen politisierenden Drachengiftes in Gärung gebracht werden konnte, nur eine solche Natur konnte in Österreich Staatsanwalt und Tagesschriftsteller zugleich sein ohne Schädigung des eigenen Charakters; seine Künstlerseele sah keinen Zwiespalt in der Beamtenstellung eines österreichischen[338] Schriftstellers, während ein Grillparzer in ähnlichen Verhältnissen sich im Kampfe verbitterte.

Trotz dieser berufsmäßigen Zersplitterung der Geisteskräfte gelang es dem universellen Kopfe, sich zu einem großen Werke zu sammeln, zu seiner vierbändigen, leider unvollendet gebliebenen ›Geschichte der Musik‹, die mit deutschem Sammelfleiß die Entwickelung der Musik so ungefähr von der vorweltlichen Harmonie der Sphären an verfolgt; in den Augen von Musikgelehrten hat dieses Buch vielleicht nur den einen Fehler, daß es auch für Laien lesbar und fesselnd ist. Von seinen Monographien musikologischen und überhaupt kunsthistorischen Inhalts ragt durch liebevolle Darstellung und erschöpfende Behandlung die Arbeit über den ›Dom zu Prag‹ hervor, ein wertvoller Beitrag zu der Geschichte der gotischen Baukunst und ihrer Blüte in Böhmen zur Zeit der luxemburgischen Kaiser; eine solche kunsthistorische Abhandlung würde von einem Jünger der jetzt herrschenden Schule vielleicht objektiver verfaßt werden, kritischer, – kälter, aber niemand könnte für sein Thema lebhafter interessieren, niemand so persönlich für jeden Strebepfeiler, jeden Grabstein, jede Fiale eintreten, wie der warmblütige Ambros.

Seine wahrhaft belebende Wärme für den jeweilig vorliegenden Gegenstand – und ihn beschäftigte nur, was erwärmen konnte – machte ihn als Dozenten zu einem unvergeßlichen Ausnahmsmenschen der Katheder für die wenigen, welche ihn als Universitätsprofessor kannten; saubere Kollegienhefte freilich, in denen man Schwarz auf Weiß nach Hause tragen kann, was schon im Buche steht, wissenschaftliche Repertorien, Herbarien des Wissens waren seine Sache nicht,[339] sondern frische, freudige Mitteilung alles dessen, was ihm an erläuternden Tatsachen und Zitaten im Augenblicke einfiel. Aber was fiel diesem Universalkopfe nicht alles ein! Wenn er seinen Vortrag begann, suchte er jedesmal, offenbar mit großer Selbstüberwindung, den gemessenen Ton eines würdigen Kathederveteranen anzuschlagen; doch schon nach wenigen Worten blickten die kleinen, von hundert Fältchen umspielten klugen Augen von seinem Manuskripte auf, Ambros war wieder er selbst, und das Feuerwerk seiner Rede begann aus dem Stegreif zu prasseln. Sein seltener Fleiß hatte alles Bedeutende gesehen oder gelesen, sein erstaunliches Gedächtnis hatte alles behalten; seitenlange Zitate in alten und neuen Sprachen, plastische Schilderungen nach einem vor Jahren empfangenen Eindruck und historische Notizen in erdrückender Fülle fuhren scheinbar wirr durcheinander, bis der Gegenstand des Vortrags wie der Mittelpunkt eines Coreggioschen Bildes immer heller aus dem Chaos hervortrat. Wenn dann die Glocke den Schluß der Stunde verkündete, wenn Ambros schneller und schneller sein Material los zu werden trachtete, wenn er mit dem Hute in der Hand, wenn er zwischen Tür und Angel noch weiter sprach, weiter sprach, wenn ihm seine vier Zuhörer das Geleite auf die Straße gaben, dann konnte wohl ein vorüberwandelnder kuhmelkender Amtsgenosse über den Feuereifer des ewig jugendlichen Ambros lächeln, – dessen kleiner Hörerkreis hing doch mit unwandelbarer Treue an dem merkwürdigen Lehrer. Ich erinnere mich besonders lebhaft an eine Szene, die Ambros als Meister der Kunst des Improvisierens erscheinen läßt: als Wilhelm Jordan, der Rhapsode, in dem kleinen Hörsaal erschien und Ambros ihm vor uns ein Privatissimum[340] hielt. Ich habe diese Szene viel später, wieder in einem Nekrologe, dem für Wilhelm Jordan, festzuhalten versucht (»Berliner Tageblatt« 12. Juli 1904) und lasse das Blatt hier folgen, auch weil meine Begeisterung für Jordans Stabreime und meine erste Begegnung mit dem ragenden Manne noch in meine Prager Jahre fällt.

»Unterwegs traf mich die Nachricht von dem Tode Wilhelm Jordans, der zum Sänger der Nibelungen geworden ist wie Gabillon zum unvergleichlichen Darsteller Hagens: beide wären lieber in ihrem Leben Draufgänger wie die alten Recken gewesen.

Zwischen seinem fünfzigsten und seinem achtzigsten Jahre habe ich Jordan von Zeit zu Zeit gesehen und gesprochen. Einige Male flüchtig in Berlin; hier, wo er sich nicht nach Gebühr gewürdigt fühlte, einmal nur länger und im intimsten Kreise. Dreimal unterwegs. Von diesen Begegnungen möchte ich etwas erzählen; und wie sich das Bild Jordans bei diesen Begegnungen veränderte und verschob.

Im Jahre 1871 hörte ich ihn seine »Nibelunge« zum ersten Male vortragen, in Prag. Wir deutschen Studenten in Prag waren so ganz das richtige Publikum für den nationalen Stoff, für die etwas chauvinistische Tendenz. Alles begeisterte uns. Selbst die ostpreußischen Anklänge seiner Sprache (er deklamierte übrigens vorzüglich und selbstbewußt wie ein Schauspieler, der Virtuose in Heldenrollen ist) entzückte uns. Die jungen Dichterlinge unter uns fingen an in Stabreimen zu reden und Briefe zu schreiben. Wir gingen mit Jordan durch dick und dünn.

In jenen Tagen war es, daß der verehrte Dichter plötzlich in einem Kolleg erschien, das der berühmte[341] Musikhistoriker A.W. Ambros vor vier Zuhörern auf der alten Prager Universität hielt. Diese vier Zuhörer waren: eine Dame, die als eine der ersten den kleidsamen Doktorhut auf das prachtvolle Haar setzte; ein junger Prinz aus altem Hause, der später österreichischer Ministerpräsident wurde; und ich, der ich nicht verraten will, was mich eigentlich in das Kolleg über griechische Musik geführt hatte. Wir drei verstanden nämlich herzlich wenig von der lydischen und von den anderen griechischen Tonarten. Nur der vierte Zuhörer war Musiker; vielleicht begriff er wirklich die lydische Tonart. Zu uns gesellte sich also eines Tages die einprägsame Gestalt Wilhelm Jordans.

Ambros, ging rasch von seinem Thema auf Homer über, sprach Vermutungen aus über die Art, wie die griechischen Rhapsoden sich etwa musikalisch bei ihren Vorträgen begleitet haben mochten, und endete mit einem Lobgesang auf Jordan, den Erben Homers.

Nach dem Kolleg durfte die Hälfte der Hörerschaft, der Musikalische und ich, dem Professor und dem Dichter das Geleite geben. Vom Clementinum, dem alten Gebäude der philosophischen und der theologischen Fakultät, über die Nepomukbrücke hinüber auf die Kleinseite. Auf dem Wege wurde darüber verhandelt (natürlich nur zwischen dem Gelehrten und dem Rhapsoden), ob dieser nicht seine Vorträge durch ein Akkompagnement von Instrumenten dem griechischen Vorbilde noch ähnlicher machen könnte. Ambros – eigentlich drollig in seinem böhmisch-deutschen Eintreten für eine germanische Wiederbelebung altgriechischer Kunst – ganz Feuer und Flamme. Er wollte selbst die einfachen Motive, die er verlangte, erfinden und setzen. Für eine Flöte und zwei Violinen,[342] wenn mein Gedächtnis nicht täuscht. Jordan, schon damals ganz hohepriesterliche Würde und wie besonders und extra von der Sonne Homers beschienen, wollte sich's überlegen. Das Kostüm beschäftigte ihn. Er spottete darüber, daß er seine Nibelungen im Frack vortragen müsse. Ein priesterliches Gewand schwebte ihm vor. Er scheute nur, mit seinem scharfen Auge für die Grenzen des Zulässigen, die Lächerlichkeit.

Als wir Studenten wieder allein waren, brummte uns der Kopf von all den Anregungen. Aber wir schüttelten die brummenden jungen Köpfe, und der erste Zweifel an der göttlichen Sendung Jordans stieg in uns auf. Ebensowenig wie von der künstlerischen Wirkung, von dem seelischen Inhalt der griechischen Musik wußten wir von der Persönlichkeit, von der Umwelt Homers, nicht viel mehr von der ursprünglichen Form der homerischen Gedichte. Wie war es denkbar, eine unklare, eine unbekannte Erscheinung zum Vorbilde zu wählen? Und wenn es möglich gewesen wäre – waren denn die altgriechischen Rhapsoden wirklich Volkssänger gewesen? War nicht alle Kunst in ihren Anfängen aristokratisch? Und war denn dieser schöne Mann im Frack, dieser Wilhelm Jordan, der vor den wohlhabenden Deutschen Europas und Amerikas auswendig seine Nibelunge sprach, ein Volkssänger? Seine Nibelunge mit Musikbegleitung erschienen uns nicht als eine Annäherung, nein, als noch weitere Abkehr von der Urzeit der Poesie. Es wäre, wenn es glückte, eine neue Mode geworden. Keine Volkskunst.

Fünfzehn Jahre später sah ich Jordan wieder. Er war nicht mehr so schlank, sonst zeigte er kaum Spuren des Alters. Zu Hanau war's, bei Gelegenheit der Errichtung eines Denkmals für die Brüder Grimm. Das[343] Vertrauen und das Organisationstalent Theodor Mommsens hatte mir die Einladung vermittelt. Solche Feste waren damals nicht so alltäglich wie heute. Jacob Grimm verdiente ein Denkmal. Jordan hatte das Festspiel verfaßt und war von Frankfurt zu seiner Feier herübergekommen. Von Jacob Grimm war wenig die Rede. Mehr vom Landesvater, von den Vätern der Stadt, vom Komitee. Jordan mochte das stark empfinden. Temperamentvoll sprang er beim Festessen auf und hielt eine zündende Rede – auf die Künstler und den Dichter des Festspiels.

Gegen zwei Uhr morgens saßen wir dann allein in einer kalten Stube unseres Gasthofes. Jordan malerisch in seinen Pelz gehüllt. Bei einer Zigarre war ich um diese Stunde pedantisch oder rücksichtslos genug, meiner Verehrung für Jacob Grimm Ausdruck zu geben. Der allein, aus eigener Kraft eine Disziplin geschaffen hatte, die nun hundert Professoren und Privatdozenten ernährt oder betitelt, die Germanisten, auf die Jordan aus Gründen schlecht zu sprechen war. Die Führer der Schule hatten ihn nicht anerkannt.

Vorsichtig durfte ich sagen, daß ein Teil von Grimms Lebenswerk, seine Studien zur altdeutschen Mythologie, durch die Dichtungen von Richard Wagner und Wilhelm Jordan über die gelehrten Kreise heraus gedrungen wären. Da kam ich aber schön an. Schon der Name Wagners war wie ein rotes Tuch für Jordan. Wagner habe die Edda durchaus falsch verstanden. Wagners germanische Götter seien blutlose Schemen. Er, Jordan, habe ganz allein den epischen Vers der Germanen wiederbelebt, den Stabreim; und so habe er, Jordan, er ganz allein auch den Glauben der alten Germanen zu neuem Leben geweckt. Wer ihn in dieser nächtlichen[344] Stunde gläubig gehört hätte, der hätte fast annehmen müssen: Jordan habe die Staatsreligion der abendländischen Völker vernichtet, habe die Götter Walhalls wieder zu Ehren gebracht oder doch durch rationalistische Umdeutung aus der Vergangenheit gerettet.

Auf mich hat diese tiefnächtige Unterhaltung einen starken Eindruck gemacht. Nicht ganz im Sinne Jordans. Wie der Versuch, das Rhapsodentum neu erstehen zu lassen, war ja auch das heiße Bemühen, die Götter der Edda zu uns reden zu lassen, nicht volkstümlich, nicht in der natürlichen Entwicklung begründet. Der Neubau von Walhall war künstliche Nachahmung, bei Jordan wie bei Wagner. Tote Symbole waren uns die Götter und Helden der Edda nicht minder als das abgesetzte Göttergesindel Homers. Götter im Exil die einen wie die anderen. Und ich konnte den Hohenpriester dieser vermeintlich nationalen Götter lange nicht anders sehen als im Gasthofzimmer, in seinen kostbaren Pelz gehüllt, opfernde Rauchwolken aus einer Zigarre paffend.

Wieder beinahe fünfzehn Jahre später, nur wenige Monate vor Jordans achtzigstem Geburtstage, sah ich ihn am Ufer des Adriatischen Meeres wieder. In dem schönen Abbazia. Tags vorher hatte ich mit meinen Geschwistern und den Kindern eine wundervolle Fahrt gemacht, kreuz und quer durch das Quarnero. Bei allem Abstand der Zeiten doch homerische Eindrücke, wie bei jeder Seefahrt zwischen Inseln des Mittelmeeres. Und jetzt stand der Rhapsode Jordan vor uns. Immer noch ungebrochen in seiner ragenden Reckengestalt. Über eine Stunde weit schritt er am steilen Gestade mit; nur den Berg zu erklettern verboten ihm die Jahre.[345]

Eine gesteigerte Feierlichkeit kleidete ihn gut. Dazu kam etwas, was ich im ersten Augenblicke nicht beachtet hatte. Ich hatte ihm kurz vorher weh getan, weh tun zu müssen geglaubt. Jordan, der schon früher die Ideen Darwins und eigentlich auch die Tat Bismarcks ein wenig zu seinen Verdiensten rechnete, hatte in einem schwer gereimten Streitgedichte den armen Nietzsche wie einen Plagiator Jordans behandelt. In einer ebenso schwer gereimten Antwort hatte ich mich (in der ›Nation‹) über diese Ansprüche lustig gemacht.

Damals am Gestade der Adria, verteidigte der Greis seine Ansprüche. Er glaubte wirklich, die Deszendenzlehre zuerst (sieben Jahre vor Darwin, in seinem Buchdrama ›Demiurgos‹) verkündet zu haben; er glaubte wirklich, Bismarck habe sich bei der Einigung Deutschlands an Jordan angelehnt. Und noch bestimmter wurde eine andere Vorstellung sichtbar. Er sah in sich den einzig berechtigten Nachfolger Goethes. Manche Zufälligkeit mochte mitgewirkt haben. Auch Jordan lebte jahrzehntelang in Frankfurt. Auch Jordan war (im Jahre 1848) beinahe Minister gewesen, Marinerat, so etwas wie deutscher Marineminister. Auch Jordan – und das war wesentlicher – rühmte sich einer unerhörten Herrschaft über die widerspenstige deutsche Sprache, auch Jordan hatte weit über Europa hinaus internationale Huldigungen erfahren, auch Jordan teilte seine Liebe zwischen der Poesie und der Naturwissenschaft.

All meine Verehrung und unverminderte Liebe für den Dichter der ›Nibelunge‹ konnte mich nicht verhindern, zu sehen, wie falsch der Standpunkt Jordans bei dieser Selbsteinschätzung war.[346]

Ich besitze eine reinere und glücklichere Erinnerung an Jordan. Kurz nach jenem Zusammentreffen in Hanau durfte ich in Berlin selbst, in dem feindlichen Berlin, einen Tag mit ihm verbringen. In einem Hause, wo er sonst nur von seinen Kindern und Enkeln umgeben war. Bei und nach einem fröhlichen Mahle.

Nach einem guten Tropfen erinnerte einer von uns an das virtuose Weinlied, das dem Dichter in jüngeren Jahren gelungen war. Damals habe ich den feierlichen, allzu feierlichen Jordan herzlich und herzhaft lachen sehen. Und als dann gar eine Stelle aus dem Nibelungen-Gesang ›Siegfrieds Tod‹ zitiert wurde, da litt es den alten Wandersänger nicht länger. Die guten Gerichte und der gute Tropfen waren vergessen. Die Hausfrau (seine Tochter) mußte warten. Wohl zwanzig Minuten lang sprach Wilhelm Jordan, ohne zu stocken, aus dem Stegreif das Gedicht. Niemals habe ich ihn öffentlich mit solcher Wärme, mit solcher Hingerissenheit sprechen hören. Auch die Form wurde noch lebendiger als sonst. Wie von selbst, wie vom Geiste der Sprache gefordert, so leicht und natürlich fügte sich Assonanz an Assonanz, und der Dichter liebkoste ordentlich mit seinem ostpreußischen Tonfall den alten epischen Vers der Germanen. Wie der Großvater alte Märchen erzählt, so sagte Jordan sein Gedicht. Zu den Kindern gewandt. Mit inbrünstigem Genuß an seiner dichterischen Schöpfung. Ja, das war ein Dichter. Das war Schaffensfreude eines Dichters.

Wilhelm Jordan ist nicht der Erbe Homers gewesen, auch nicht der Erbe Goethes. Er hat seinem Volke die alten Heidengötter und Heroen nicht wiedergebracht und auch der Wissenschaft nicht neue Bahnen gewiesen. Wenn wir aber Umschau halten unter den[347] Epigonen aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und die Dichter suchen, die sich an große Aufgaben gewagt und das Werkzeug zur Lösung dieser Aufgaben besessen haben, Sprachkraft, dann finden wir nicht viele, die wir dem alten Recken an die Seite stellen könnten, der ein Rhapsode wurde. Geibel hatte nicht den starken Gedankenschwung, Gutzkow nicht die Schönheit der Form. Der einzige Hebbel hat auch als Neudichter des Nibelungendramas seinen Zeitgenossen Jordan übertroffen durch die Tiefe und Wärme seiner Gestaltungskraft. Die Menschen der Edda sind erst bei Hebbel auferstanden. In der Komposition aber des ungeheuren Stoffs, im Reichtum der Sprachmittel wird Wilhelm Jordan so bald seinen Meister nicht finden.[348]

1

Über Sabbatai Z'wi finde ich einige lesenswerte, von mir nicht nachgeprüfte Mitteilungen in den »Jüdischen Briefen« des Marquis d'Argens; die Bewegung zu seinen Gunsten, namentlich während seiner Gefangenschaft, hat die größte Ähnlichkeit mit dem Eifer der Anhänger Franks. Sehr lustig ist die Geschichte von einem zweiten Messias, einem armen Teufel namens Cohn, der sich mit Sabbatai über ihre beiderseitigen Ansprüche vertragen wollte; sie fingen aber bald zu zanken an, der eine drohte den andern abzusetzen und es gab schließlich eine weidliche Prügelei. Ich erwähne aber die »Jüdischen Briefe« hauptsächlich darum, weil ich (im 53.) eine Stelle gefunden zu haben glaube, die wohl mit zu den äußerlichen Quellen von Lessings Nathan gehören dürfte. Ich lege auf solche Dinge keinen Wert, weil sie den Schatz nicht mehren können. Nach d'Argens hätten um das Jahr 1600 die Muftis von Ispahan ihren Sofi Schach Abbas aufgefordert, die Vorschriften des Koran anzuwenden: die Juden müßten entweder die Lehre Mohammeds annehmen oder ausgerottet werden. Der Sofi ließ die Juden kommen und befragte sie zu ihrer nicht geringen Verlegenheit nach ihrer Meinung über Mohammed. Sie antworteten ausweichend, mußten zwei Millionen Gold zahlen und dann noch die Zeit bestimmen, binnen welcher ihr Messias kommen müßte. Als sie in ihrer Bestürzung antworteten, das könnte jeden Tag geschehen, gab ihnen der Sofi 70 Jahre, nach deren Ablauf, wenn der Messias nicht käme, sie als Betrüger entlarvt und zu verjagen wären. (Ich vermute, daß diese Drohung das Auftreten des Sabbatai beeinflußt hat.) Sollte es ein Zufall sein, daß schon auf dem nächsten Blatte der jüdischen Briefe unter den Rabbinen aus dem ersten Gefolge des Sabbatai Z'wi als der Angesehenste ein Jude genannt wird, der für sehr klug, tugendhaft und vornehmlich sehr demütig gehalten wurde und der den Namen Nathan trug?

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 269-349.
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