XIV. Einsame Fahrt.

[143] Ich durfte nach meiner Maturitätsprüfung zum ersten Male eine Ferienreise machen, über Böhmen hinaus, nach Süddeutschland. Ich fuhr ins bayerische Hochgebirge, marschierte bis nach Tirol hinein und wunderte mich darüber, daß die Berge noch höher waren als im Riesengebirge; das Anschauen der Natur entzückte mich, aber ich kann nicht behaupten, daß die große Natur mir mehr zu sagen hatte als die kleine Natur. Aber ich erlebte etwas anderes, etwas Neues: ich lernte Regensburg, München, Augsburg, Nürnberg kennen, deutsche Städte, in denen die Marktfrau und die Kellnerin deutsch sprachen. In denen deutsche Mundarten geredet wurden, die sich dem Prager eine nach der andern wie Volkslieder ins Ohr schmeichelten. Ich fragte oft die kleinsten Kinder nach dem Weg, nur um eine deutsche Antwort aus ihnen herauszulocken. Es war zum Heulen schön. Die Entdeckung, daß es wirklich ein deutsches Volk gäbe, war mir eine liebe und beruhigende Überraschung.

Auf manchen Seiten dieser Erinnerungen zeige ich mich, wie ich war: unreif, kindisch, im Verhältnis zu meinem Alter eigentlich recht sehr dumm. Wem es unglaublich dünken sollte, daß ein begabter Junge von bald zwanzig Jahren – auch daß ich den jungen Menschen in vielen Dingen für begabt zu halten Ursache[143] hatte, habe ich oft ohne jegliche Bescheidenheit gesagt – so unvorbereitet, so ahnungslos in die Welt hineinlebte. Mir selbst ist die Erscheinung besonders dann rätselhaft, wenn ich die Sicherheit und »Fertigkeit« wahrnehme, mit welcher gleichaltrige Jünglinge heute das Leben nehmen und sich auf beide Füße fest hineinstellen. Der Umstand, daß ich aus dem zurückgebliebenen österreichischen Slawenlande in das Deutschland meiner Träume kam, kann die Unzulänglichkeit meiner Seelensituation allein nicht erklären. Auch nicht die anderthalb Generationen, die dazwischenliegen, können den Abstand zwischen meinem zwanzigjährigen Ich und einem Fuchs von heute begreiflich machen, nicht einmal mir selbst; auch unter meinen damaligen Kollegen und Altersgenossen waren junge Männer, die zwar noch nicht die Hundeschnäuzigkeit des gegenwärtig aufstrebenden Geschlechts besaßen, die aber doch in den Fragen der Politik und der Kunst, des Geldes und der Liebe schon einigermaßen Bescheid wußten. Da ich nun anderseits bereits sehr früh Kritik für jede Umwelt in mir ausgebildet fand, da ich sogar dazu neigte, Menschen und Dinge satirisch zu sehen, ohne sie zu kennen, so wird wohl mein Zustand eine Art von unklarem Idealismus gewesen sein, den die reale Wirklichkeit zunächst immer abstieß. Ich habe das Abstrakte immer sehr rasch und leicht, das Konkrete bis zur Stunde sehr langsam und schwer gelernt.

Nachdem ich diesen Versuch, über meine eigenen Jünglingsjahre ein wenig klar zu werden, gewagt habe, darf ich wieder, ohne daß mein Lächeln mißverstanden würde, etwas von meiner ersten Ferienreise erzählen. Nur noch ein Wort vorher: ich weiß nicht, ob die einsiedlerische Einsamkeit, in der ich damals und noch[144] lange nachher jede Reise unternahm, eine Folge oder eine Ursache meiner Unzugehörigkeit zu andern Menschen gewesen sein mag.

Die enthusiastische Stimmung, die mich in diesen vier Wochen nicht verließ, war also zunächst dem Glück zuzuschreiben, das ich beim Anhören wirklich lebender deutscher Mundarten erlebte. München, Tirol, Augsburg, Nürnberg: ich fühlte mich reicher und reicher werden und war nur von Zeit zu Zeit betrübt darüber, daß es mir nicht gelang, auch nur einen Satz einer dieser Mundarten volksmäßig nachzubilden. Mein Ohr war immer, auch beim Lernen fremder Sprachen, zuverlässiger als meine Sprachwerkzeuge. Aber dieser Enthusiasmus wurde noch verstärkt durch die Bekanntschaft mit berühmten Kunstwerken und Landschaftsbildern. Die Berühmtheit war nicht ganz gleichgültig bei dem Wunsche nach der Bekanntschaft; nachher aber pfiff ich auf die Berühmtheit. Mit ungebildetem aber ganz eigensinnigem Geschmack gewann ich einiges lieb, ging ich an vielem ungerührt und unberührt vorüber.

Von Regensburg aus marschierte ich natürlich nach der Walhalla; heute würde man Walhall sagen und streng darauf achten müssen, die erste Silbe zu betonen. Damals wallfahrtete man noch nach der Walhálla. Ich war einfach entsetzt über den griechischen Tempel; ich wußte es nicht anders, als daß ein feierliches Gebäude gotisch sein müßte; ich wüßte nicht zu sagen, woher mir diese Überzeugung gekommen war; volle dreißig Jahre später, als ich auf der Akropolis von Athen stand – heiliger Mondschein! – ging mir trotz aller dazwischenliegenden kunsthistorischen Studien die andre Schönheit der hellenischen Architektur zum[145] ersten Male auf, ohne meine Vorliebe für die Gotik je zu verdrängen. Ich war also von der Walhalla zunächst entsetzt und wandelte darin umher, als ob ich in ein ägyptisches Grab versetzt worden wäre. Plötzlich stand ich vor einer Viktoria von Rauch, der mit dem schönen hängenden Beine. Ich brüllte auf, daß ein Aufseher mich zur Ruhe mahnte; und ich ahnte so etwas, wie die Berechtigung von griechischen Säulen. Ich wußte noch nicht, daß Rauch nach griechischen Vorbildern gestaltet hatte.

In München wollte ich getreu meinem Reiseführer folgen. Ich lief durch die Sammlungen, ich kroch die hohle Bavaria hinauf und hinab, ich stattete dem alten Hofbräuhaus meinen Besuch ab. Hier war der Rausch zunächst ganz seelisch; ich hatte so viel davon gehört, daß ich Wonne empfand, als ich mit dem ersten Maßkrug an den Brunnen trat, ihn selbst zu waschen. Mancher gewöhnlichere Rausch folgte. Aber der Kunst gegenüber wollte sich lange kein Hochgefühl einstellen. Ich hatte von dem Laufen in den Theken nicht viel mehr als vom Kriechen durch die Bavaria. Da half mir ein Zufall.

Auf dem Augustiner-Keller lernte ich einen jungen Kunstmaler kennen, einen begeisterten Schüler von Wilhelm Kaulbach; es verstand sich von selbst, daß ich den Maler ebenfalls bewunderte, von dessen Bildern ich freilich nur schwarzweiße Reproduktionen kannte, Photographien und Stahlstiche; damals galt Kaulbach sehr viel, heute gar nichts; vielleicht ist die heutige geringe Schätzung nicht weniger Modesache als die einstige Verehrung. Es war doch eine erstaunliche geistige Kraft der Phantasie in dem Manne, und zeichnen konnte er wie damals nur wenige. Genug, am nächsten Vormittage holte mich der Schüler vom Oberpollinger ab[146] und führte mich in das Atelier des Meisters. Kaulbach hatte an der einen kahlen, schmutzfarbenen Wand wie auf einem Karton seinen »Peter von Arbuës« skizziert. Davor stand ich nun in maßloser Bewunderung, sprachlos, wohl eine halbe Stunde lang. Endlich fragte mich Kaulbach, ob ich Maler wäre. Wie mir die Hand mit der Krücke gefiele? Ich stotterte. Ich konnte vor Ergriffenheit nicht sprechen. Da reichte mir »der Meister« die Hand, die ich in meiner Hingegebenheit gern geküßt hätte, und sagte, als wüßte er, was in meinem Kopfe vorging: es gäbe bessere Sachen zu sehen, auch in München. Zwei oder drei gute Bilder zusammen in der alten und in der neuen Pinakothek. Die sollte ich mir selber heraussuchen und das übrige Gerümpel links liegen lassen.

Von München aus fuhr ich mit der neuen Eisenbahn bis Schliersee; dann begann eine Wanderung in Eilmärschen, über Tegernsee und Kreuth nach dem Tirol. In Jenbach ein Tag Rast, oder vielmehr übertriebene Anstrengungen zu Wasser und zu Lande. Am nächsten Nachmittag begann ich über das Plümsenjoch (so heißt es, glaube ich), wo ich mich gefährlich verirrte, durch die Ries über Walchen- und Kochelsee nach Bruck an der Ammer zu eilen.

Ich habe schon kurz gesagt, daß mir die »große Natur« keinen größeren Eindruck machte als daheim die kleine, die Andacht vor den Alpen nicht größer war, als die Andacht vor einem blühenden Strauche. Und doch: es jubilierte etwas in mir, als hoch oben – wohin ich mich vom Plümsenjoch aus verlaufen hatte – auf dem Gipfel des Berges, es war Abend geworden und ich wußte nicht wohin, ein Gewitter los brach, und ich beim Schein der Blitze die Rippen der Erde vor mir ausgebreitet[147] sah. Es jubelte etwas in mir, als ich beim Schwimmen und beim Bergsteigen eigentlich zum ersten Male das volle Gefühl meiner frischen Jugendkraft empfand und als – ein schönstes Zeichen der Kraft – wilde Rhythmen und sanfte Gedichte mir einfielen, die ich ja nur niederzuschreiben brauchte, um ein Buch voll Poesie nach Hause zu bringen. Nein, nicht niederschreiben! Im Herzen bewahren! Ich segnete jeden Berg und jede Matte und jeden Menschen, der mich mit seinem Grüßgott erfreute, und bedauerte nur, daß ich nicht bleiben konnte.

Ich aber konnte nicht bleiben, weil mir erstens das Geld auszugehen begann und weil mich zweitens in Bruck an der Ammer ein Kuß von den Lippen eines herrlichen Münchner Mädels erwartete. Nach der Reihe: erst die traurige Liebesgeschichte, dann die tragikomische Geldgeschichte.

Kurz vor meiner Fahrt nach Tirol hatte ich eines Abends im Theater, auf dem letzten Platze natürlich, eine richtige Münchner Gesellschaft kennen und schätzen gelernt. Am Montag hatte ich den Frühzug nach Schliersee nehmen wollen, den Sonntag zu einem Ausfluge ins Isartal benutzen. Und so saß ich am Samstag noch einmal im Hoftheater; »Turandot« wurde gespielt, Clara Ziegler – außerhalb Münchens noch kaum bekannt – sprach die Turandot.

Neben mir saß eine nette Frau, lange noch nicht dreißig Jahre alt; an ihrer Seite ihr Mann, sodann ihre Schwester. Na! Vielleicht achtzehn alt, hübsch wie ..., na; und ein süßer Zug von Melancholie verschönte sie noch. In den Zwischenakten und oft genug auch sonst starrte ich nach ihr hinüber. Meine Nachbarin, die ältere hübsche Schwester der schönen Resi mochte meine[148] beginnende Verliebtheit bemerkt haben. Sie begann ein gebildetes Gespräch über das »Stuck«, den Autor und die »Spieler« und hatte bald erfahren, daß ich »Student« war und ein Stadtfremder. Einfach wurde ich aufgefordert, mit den andern nach Schluß der Aufführung in den nächsten Bierkeller zu gehen. Zu einer Vorstellung kam es nicht; aber ich erfuhr doch, daß sie Resi hieß und daß ihr Schwager irgendwo auf einer städtischen Kanzlei arbeitete. Morgen wollten sie nach Bruck an der Ammer zu Verwandten. Ob ich mich anschließen wollte? Ob ich wollte! Die Schwester flüsterte mir zu: »Sie verinteressieren sich ja für die Resi. Das sieht ein Blinder! Es wird ihr gut tun bei ihrem Kummer um eine unglückliche Liebesgeschichte. Das arme Mädel!« Ob ich wollte!

Wir trafen uns früh am Tage pünktlich auf dem Bahnhofe. Resi blickte noch trauriger darein als gestern abend. Trennung vom Geliebten? Wer weiß. Aber sie drückte mir die Hand ... oh!

Wir hatten von der Station über eine Stunde zu laufen. In Bruck ließ man mich bis zum Mittagessen allein. Ich sollte nicht gezwungen sein, mit den Verwandten zu reden. »Es sind G'scherte!« Bei Tisch trafen wir wieder zusammen. Es wurde noch mehr getrunken als gegessen; eigentlich wurde so langsam und fest weiter getrunken, bis es Zeit für die Heimkehr wurde. Nicht einen Augenblick hatte man mich mit Resi allein gelassen. Mit Absicht, wie es mir schien. Auch auf dem Rückwege zur Station schritt der Schwager neben Resi voran, nicht ganz nüchtern, die Schwester neben mir, auch sie recht redselig.

Sie war lieb zu mir, stupste mich ab und zu und versicherte mich, sie gönnte mich ihrer lieben Resi, weil[149] man gleich Vertrauen zu mir fassen könnte. Ich sollte für das nächste Wintersemester noch zu Hause bleiben; Resi müßte die unglückliche Liebesgeschichte erst ganz vergessen haben; im Sommersemester sollte ich wiederkommen und dann würde alles gut gehen. »Sie sehen ganz so aus, mein lieber Student, als ob sie das Mädel auch heiraten täten, mit dem sie sich verlobt haben.«

So schmeichelhaft und peinlich zugleich mir dieses Drängen war, das Blut stieg mir zum Herzen, und ich versicherte der Schwester blödsinnig, daß sie sich in mir nicht getäuscht hätte. Wer weiß, vielleicht war ich mit der Resi wirklich schon verlobt! Und die Schwester gefiel mir in ihrer gesunden Sachlichkeit so gut, daß ich nahe daran war, mich auch in sie zu verlieben.

Als ich in gutem Glauben erklärt hatte, ich gehörte zu den Männern vom alten Schrot und Korn, die immer heirateten, wenn sie liebten, stupste mich die Schwester recht derb und rief ihrem Manne zu, er und sie sollten die jungen Leute einmal allein lassen, die sich gewiß allerlei zu erzählen hätten; gar einen Kuß geben wollten. Im nächsten Augenblick war ich mit Resi auf dem Waldwege allein; Schwager und Schwester tappten voran und riefen zurück, wir hätten nur wenige Minuten Zeit; wir dürften den Zug nicht versäumen.

Ich blieb stehen und setzte in furchtbar gewundenen Redensarten auseinander, daß ich mit Erlaubnis der Schwester jetzt Anspruch auf einen Kuß hätte, wenn Fräulein Resi usw.

Resi gab mir die Hand. »Jetzt nicht«, sagte sie; »wenn Sie aber am nächsten Samstag zur gleichen Stunde an dieser Stelle sein wollen, mein lieber Herr Student, so werden wir ganz allein sein und uns lieb haben können, nicht nur küssen. Einen Stehkuß geb'[150] ich nicht. Hüten Sie sich vor meiner Schwester, die ist grundschlecht!«

Dazu gab sie mir doch einen flüchtigen Stehkuß, und wir schritten schnell den beiden andern nach.

Darum hatte ich's so eilig, von Tirol umzukehren. Was verstand Resi darunter: wir werden uns lieb haben können, nicht nur küssen? Siedig gingen mir die Worte nach. Nun hätte ich natürlich um dieser Worte willen den Ausflug nach Tirol aufgeben und am Montag in Bruck an der Ammer auf »meine« Resi warten können; ich fand es aber romantischer, mit meiner vermeintlichen Liebe im Herzen den Körper aufs äußerste zu ermüden, und das märchenhafte Ereignis, das mir bevorstand, in Genüssen so ganz anderer Art heranzuwarten. Immer schwebte mir Resis Bild vor, während ich täglich meine etwa vierzehn Stunden marschierte; und als ich am Samstag, rückkehrend, im Eilschritt dem lieblichen Bruck mich näherte, schlug mir das Herz nicht nur vor Überanstrengung.

Die Stelle des flüchtigen Stehkusses war ein Kreuzweg; ein hölzernes Kruzifix und nicht weit davon ein Wegweiser machten die Stelle kenntlich. Als ich kurz vor Sonnenuntergang anlangte, lehnte unter dem Wegweiser die liebe Gestalt in einem hellen Kleidchen; Resi hatte sich auf den rechten Ellenbogen aufgestützt; sie hatte mich schon von weitem erblickt und lachte mich an. Ich durfte mich neben sie ins Gras legen und bekam zum Willkomm einen Kuß, der kein Stehkuß war. Ich mußte zuerst von meiner Wanderung erzählen; dann aber, als es schon zu dunkeln anfing, von meinem sonstigen Leben, von meinen Verhältnissen, von meinen Eltern, von meinem Berufe, von meinen Aussichten. Und wie oft ich schon Mädel unglücklich gemacht hätte?[151] Sie erfuhr zunächst, daß ihr Kuß der erste meines Lebens gewesen. Daß ich eben erst das Abiturientenexamen gemacht hätte; erst anfinge zu studieren, und daß darum von Lebensaussichten noch kaum die Rede sein könnte.

»Mein lieber Mensch, warum hast du dann meiner Schwester gesagt, daß du mich heiraten willst?«

Es wurde mir recht schwer, der lieben Resi zu sagen, daß die Schwester gelogen hätte; ich hätte ja nur im Konditionalis versichert, ich würde, wenn ich es zugesagt hätte.

»Wenn du mir aber ewige Liebe geschworen hättest, dann würdest du mich heiraten? Unter allen Umständen?«

Ehrlich sagte ich: »Ja, Resi.«

»Und wenn ich dich noch einmal so an mich drücken würde, würdest du mich dann sehr lieb haben und mir ewige Liebe schwören?«

Ehrlich sagte ich: »Ja, Resi.«

»O, wie lieb du bist, o, wie dumm du bist, mein lieber Mensch.« Wieder bekam ich einen Kuß, der ganz gewiß kein Stehkuß war; und als ich den Mund frei hatte und im Begriffe war, etwas von ewiger Liebe zu stammeln, unterbrach sie mich und sagte traurig:

»Jetzt sei still, du dummer Kerl. Wenn du nicht so horndumm wärst und so lieb und so unerfahren, hättest du es ja schon vor acht Tagen bemerken können. Meine Schwester ist schlecht. Sie will, ich soll dich betrügen. Grad nicht! Schwanger bin ich. So! Heraus ist's. Ich bin ein anständiges Mädel, ich betrüg' dich nicht.«

Sie kuschelte sich an mich und weinte bitterlich. Ich war zu entsetzt, sonst hätte ich mit ihr geweint. Sie erzählte mir dann allerlei, wie es gekommen war:[152] ein Student wie ich. Ein lieber Mensch, auch er. Nicht schlecht. Ihre Schwester wäre an allem schuldig.

Ich hörte kaum mehr zu. Meine Resi schwanger! Über mir schlug etwas zusammen, etwas Schwarzes. Was da über mir zusammenschlug, das mag wohl ein Wirrwarr von törichter Scheu vor dem geschlechtlichen Worte und einer noch törichteren Moral gewesen sein. Ich weiß nicht, was mir schrecklicher war: die Schwangerschaft Resis oder die Tatsache, daß sie die Silben »schwanger« aussprechen konnte. Man ist immer noch viel dümmer, als man glaubt.

Resi hatte aufgehört zu weinen. Sie streichelte mein kleines Schnurrbärtchen und schien verlegen. Ob ich böse auf sie wäre? Ich stotterte etwas. Ob ich es ihr verzeihen könnte, wenn sie nicht Wort hielte? Ich verstand nicht.

»Schau, mein lieber Student, wenn du zum Sommersemester wiederkommst, nach Ostern, dann wird es mit meiner Geschichte vorüber sein und wir werden uns lieb haben, nicht nur küssen. Wie ich's dir gesagt habe. Aber jetzt, schau', jetzt wär's gegen Gottes Gebot! Und was mir meine Schwester geraten hat, das wäre eine Gemeinheit gewesen! Und so dumm, so ganz saudumm bist du doch auch nicht, daß du's geglaubt hättest. Daß du nach fünf Monaten ... Nein, so dumm bist du nicht, mein lieber Mensch.«

Ich werde wohl froh gewesen sein, als sie mich aufforderte, sie zu verlassen. War es nur meine Müdigkeit – ich war an diesem Tage zwölf Stunden gewandert – daß ich mich so schwer nach der Station schleppte?

Am zweitnächsten Morgen war ich in Nürnberg. Von dort schrieb ich an Resi, was ich ihr nicht zu sagen gewagt hatte: daß es aus zwischen uns wäre, bevor es noch[153] angefangen hätte. Ich habe diesen mehr als albernen, diesen ruchlosen Brief noch einige Jahre in meinem Besitze gehabt und kenne ihn genau. Ich warf ihr in wildpathetischen Ausbrüchen vor, daß sie sich einem andern hingegeben hätte. Sie hätte auf meinen Schwur ewiger Liebe warten müssen. Sie hätte ... sie müßte ... sie sollte ...

Sie hat beim Lesen dieser Epistel weder lachen noch weinen können; sie hat sie niemals erhalten. Als ich mit der Abfassung fertig war, fiel mir erst ein, daß ich von Resi weder den Familiennamen noch die Wohnung kannte. Unter der Adresse »Resi in München« hätte sie das Zeug doch nicht erreicht.

Ich habe später manchen Versuchungen nicht ebenso brav widerstanden, aber ich meine doch, daß die »Liebesgeschichte«, die ich eben gebeichtet habe, nicht bloß für meine zwanzig Jahre bezeichnend war. Von meiner Dummheit (meinetwegen denke man mittelhochdeutsch und lese »tumpheit«) wollte ich eine Vorstellung geben, von dieser seligen Jugendeselei, die ich mir Gott sei Dank bis zur Stunde nicht ganz habe rauben lassen. Es wäre mehr als dumm, es wäre albern, wollte ich auch nur noch ein einziges Mal so etwas öffentlich ausbreiten, wollte ich auch nur noch eine solche Geschichte erzählen. Aber das Erlebnis von Bruck an der Ammer scheint mir symbolisch, wenigstens für mein Verhältnis zu Welt und Menschen. Und darum eben habe ich sie gebeichtet. Sollte Resi noch am Leben sein, so wird sie diese Lebenserinnerungen schwerlich zu lesen bekommen.

Die Verabredung in Bruck an der Ammer war also der eine Grund, der mich so rasch von München nach dem Tirol und wieder zurückjagte. Der andere Grund lag in dem Zustand meiner Reisekasse.[154]

Gerade in dem Jahre meiner Maturitätsprüfung war – wenn ich nicht irre – die Bequemlichkeit oder die Verführung der Rundreisebilletts eingeführt worden. Als ich von dem Gelde, das mir der Vater recht großmütig für eine kleine Erholungsreise ausgezahlt hatte, mein Billett Regensburg-München-Augsburg-Nürnberg-Prag beglichen hatte, blieb mir eine Barschaft von ungefähr fünfundzwanzig Gulden. Wie ich es fertig gebracht habe, damit etwas über vier Wochen unterwegs zu bleiben, ohne – wie sonst öfter – regelmäßig auf der Streu zu übernachten und ohne zu hungern, ist mir fast ein Rätsel. Die Fußreise nach Tirol kam freilich nicht teuer: Heuboden. Heuboden oder Strohlager blieben mir noch manches Jahr vertraute Dinge. Just ein Jahr nach meiner ersten Studentenfahrt schlug ich mich so durch die böhmischen Kurorte durch, ohne die Zeit über je in einem Bette zu schlafen. Das geringe Reisegeld mußte eben für zehn Tage gestreckt werden. Ich mußte geizig sein. Dafür leistete ich mir einmal in Karlsbad zwei Stück von dem teuern Erdbeerkuchen; aus Trotz, weil mir die Ladnerin beim ersten Stücke warnend gesagt hatte, es koste zwölf Kreuzer. Sie urteilte nach dem Äußern. Ich werde gewiß keine eleganten Reisekleider getragen haben und die Spuren der Streu (»altes Stroh umsonst, frisches Stroh drei Kreuzer«) mochten zu sehen sein. Doch auf meiner ersten Fahrt, eben der durch Bayern, war ich auch in Geldsachen nicht erfahren genug.

In Augsburg, wohin ich nach der Trennung von Resi noch am selben Abend geflohen war, ritt mich der Teufel, im ersten Hotel abzusteigen, den berühmten Drei Mohren. Als mich der Oberkellner mit einem zweiarmigen Leuchter in meinen »Salon« geleitete und ich[155] dort die Pracht der Teppiche erblickte, riß ich ihm meine Tasche aus den Händen und rannte die Treppe hinunter und versteckte mich vor der Verfolgung, an die ich glaubte, in einem Winkelwirtshaus.

Als ich in Nürnberg ankam, besaß ich noch zwei Gulden. Im »Grünen Weinstöckel« konnte ich damit recht gut zwei Tage leben, trotzdem mich der Wirt verlockte, mit ihm am Abend eine andre Wirtschaft aufzusuchen, wo es besseres Bier gäbe. Man kann es mir glauben, daß ich in Nürnberg glücklich war: in Wandern und Schauen. Nur eines kränkte mich; ich konnte von dem letzten Reste meines Vermögens nicht den Eintritt ins Germanische Museum aufbringen. Da geschah ein Wunder. Auf meinem letzten Gange durch die alten Straßen wurde ich von einem französischen Ehepaar, er war ein Professor aus Südfrankreich, angesprochen; sie fragten nach dem Wege zum Germanischen. Wie gut ich diesen Weg kannte! Und hatte ihn nicht gehen können! Ich gab in meinem besten Französisch Auskunft und bot mich schließlich an, die Fremden bis vor das Portal zu führen. Ob ich nicht mit hineingehen wollte? Ich zögerte und sagte endlich (Gott hat mir die Lüge verziehen, ich weiß es), mein Geld reichte nicht, dieses herrliche Museum öfter als dreimal zu besuchen. Ob ich ...? Man erlegte den Eintritt auch für mich. In meinem Glücksgefühl war ich schlecht genug, immer nur das anzusehen, was mich interessierte. Anstatt die Franzosen mich herumschleppen zu lassen, schleppte ich sie mit mir. Und weil mich ihre vielen Fragen störten, fing ich Unfug an und gab ihnen übermütig verrückte Übersetzungen der Aufschriften zum besten. Der Herr Professor notierte einzelnes. Das hat mir Gott, der alte deutsche Gott, schwerlich[156] verziehen. Und dazu kam die Beschämung. Als ich die guten Leute zu ihrem Hotel zurückgeleitet hatte, drückte mir der zufriedene Professor zwei blanke Guldenstücke in die Hand. Mein erstes »verdientes« Geld. Ich schämte mich mächtig. Aber ich konnte weitere zwei Tage in Nürnberg bleiben. Als ich endlich meine Rückreise nach Prag antrat, hatte ich morgens noch sechs Kreuzer in der Tasche als Wegzehrung für einen langen Tag.

Was ich auf dieser ersten unter meinen vielen »einsamen Fahrten«1 für meine Freude an Kunst und Leben etwa mag gewonnen haben, das wußte ich damals ganz und gar nicht. Zum Bewußtsein kam mir einzig und allein, was ich schon gesagt habe: die Entdeckung, daß es jenseits der böhmischen Grenzen wirklich und wahrhaftig, leibhaft und glaubhaft, ein deutsches Land, ein deutsches Volk gab, daß da die kleinsten Kinder schon deutsch sprachen, noch dazu ein so liebes Deutsch, überall anders und überall schön. Ich verstand auf einmal etwas, was mir bis dahin ein totes Wort gewesen war: die Befreiungskriege. Ich verstand Kleists Hermannsschlacht. Ich verachtete – für einige Zeit – Heinrich Heine, weil er ein Napoleonschwärmer war. Ich haßte Napoleon – wieder für einige Zeit. Ich will ja den Lauf meiner politischen Entwicklung nicht erzählen, weder ironisch noch feierlich. Ich will nur sagen, daß ich auf der Schule immer nur gehört hatte, ich wäre ein Böhme, daß meine deutsche Erziehung durch das Erleben von 1866 begonnen, durch meine erste Ferienreise gefördert, durch die Teilnahme an der Gründungsfeier der Straßburger Universität vollendet wurde. Was man so vollendet nennt.

1

Unter diesem Titel habe ich später einige recht ungleiche Skizzen gesammelt.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 143-158.
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