XVIII. Das erste Buch.

[192] Damals aber, als meine Erstlingsarbeit im »Tagesboten von Böhmen« erschienen war, vergaß ich das Ereignis bald wieder, weil es für mich unmittelbar weder äußerlich noch innerlich folgenreich war. Äußerlich nicht, weil ich den Aufsatz nicht mit meinem Namen unterzeichnet hatte; der Kreis der Menschen, die von meiner Autorschaft wußten, war infolgedessen noch viel kleiner als der Leserkreis des »Tagesboten«. Ich schrieb im Laufe des nächsten Jahres auch nur noch zwei oder drei weitere Aufsätze für das Blatt, trotzdem David Kuh es jetzt an Lockungen und Versprechungen nicht fehlen ließ. Ich dachte ja nicht daran, Schriftsteller oder gar Journalist zu werden. Ich dachte überhaupt nicht an die Zukunft; der Todeskandidat hatte keine Pflicht, an die Zukunft zu denken. Und das war das Innerliche an der Sache: mein Arbeitsinteresse gehörte ausschließlich meinen Revolutionssonetten, für die ich seit Jahr und Tag mit wirklicher Hingebung historische Studien trieb, und die ich nach meinem frühen Tode der Welt zur Freude und allen Zweiflern zum Vorwurf hinterlassen wollte. Der Titel stand fest: »Die große Revolution.«

Da passierte mir eine Geschichte, eine recht jugendliche Geschichte, die mich verleitete, die durch aus unvollendete und ungefeilte Dichtung als Buch herauszugeben.[192]

Ich muß vorausschicken, daß ich Fräulein Rubinstein aufs innigste verehrte und stolz und eifersüchtig darauf war, fast der einzige Student zu sein, der mit ihr sprechen, der ihr Bücher besorgen, der sie auch wohl bis an die Schwelle ihres Hauses begleiten durfte. Eines Tages überreichte mir die Dame ein Bündel gedruckter Feuilletons über die Frauenfrage; der Name des Verfassers schien weggeschnitten; ihr hatte sich ein jüdischer Student aus Ungarn, den ich flüchtig kannte, als Verfasser vorgestellt. Der vielversprechende junge Mann hatte sie um die Erlaubnis gebeten, ihr die Buchausgabe, für die er große Geldopfer zu bringen hätte, widmen zu dürfen. Fräulein R. bat mich nun, die Zeitungsausschnitte zu lesen und ihr mein Urteil über das kleine Werk mitzuteilen. Mein ziemlich sicherer Instinkt sagte mir schon nach wenigen Seiten: das hat jener ungarische Lausbub nicht geschrieben. Ich war nicht faul und brachte es, unterstützt von meinen neuen journalistischen Bekannten, bald heraus, aus welcher Zeitung das Bündel Feuilletons herausgeschnitten worden war. Und auf der Redaktion dieser Zeitung, der deutsch geschriebenen tschechischen »Politik«, erfuhr ich: diese Feuilletons waren der Zeitungsabdruck eines in jenen Tagen vielgenannten Büchleins von Pederzani. Ich möchte nicht erzählen, in welcher Weise ich nach der Enthüllung über den Betrüger das Urteil fällte und wie ich das Urteil selbst an ihm vollstreckte. Die Szene mag grotesk genug gewesen sein. Vielleicht hätte sich Don Quixote meines Auftretens nicht zu schämen gebraucht; als Richter mag ich mehr an Don Quixote erinnert haben, als Urteilvollstrecker mehr an Sancho Pansa, aber an einen aktiven Sancho Pansa.

Nun hatte ich Fräulein R. allerdings durch Scharfsinn[193] und Energie davor bewahrt, dem »Unwürdigen« ihr Vertrauen zu schenken; aber es ließ mir keine Ruh, ihr nun auch die Widmung eines Buches, die ihr entgangen war, zu ersetzen. Das war von mir unlogisch gedacht, aber der Gedanke entsprach meinem Gefühl. Ich legte der Dame also, unmittelbar nach der Exekution des Buben, meine Revolutionssonette vor, so viele ihrer waren, und bat nun meinerseits um die Erlaubnis, ihr diese Gedichtsammlung widmen zu dürfen. Wenn ich es recht überlege, so nahm Fräulein R. meinen Antrag nicht viel anders auf als den des Betrügers. Sie empfahl mir nämlich, meine Dichtung einem Vertrauensmanne zur Prüfung vorzulegen, einem sehr gelehrten und tüchtigen Manne, den auch ich bewunderte, dem Dichter und Kritiker S. Heller.

Ich habe die Schriften dieses merkwürdigen Mannes, der seinen volltönenden Vornamen Seligmann als Schriftsteller zu einem schüchternen S. verkürzt hatte, seit jener Prager Zeit, also seit beinahe vierzig Jahren, nicht wieder gelesen; ich habe also mein damaliges Urteil über ihn nicht revidiert, wie wir denn überhaupt die Gewohnheit haben, unsere einstmaligen Eindrücke und Meinungen gar oft ohne Nachprüfung für unsere jetzige Meinung auszugeben. Das Leben ist zu kurz, als daß wir jedes Buch immer wieder noch einmal lesen könnten, sooft wir es rühmend oder tadelnd erwähnen, im Gespräche oder in Abhandlungen. Damals schien mir S. Heller, trotzdem ihn Gutzkow boshaft einen der vielen Heller unserer Literatur genannt hatte, ein vorbildlicher Schriftsteller zu sein. Vorbildlich blieb er mir noch lange Jahre in seiner Eigenschaft als Theaterkritiker der »Bohemia«; mit einem ungeheuren Wissen verband er eine objektive Gründlichkeit[194] und eine subjektive Unbestechlichkeit, die mir bei den berühmtesten Kritikern nicht oft wieder vorgekommen sind. Über ein Drama, mit welchem der peinlich gewissenhafte Mann seine Berechtigung zum Amte eines Rezensenten hatte nachweisen wollen, hatte ich unehrerbietig gelacht, weil die lyrischen Stellen und der künstliche Aufschwung zu sinnlichen Versen in Abstraktionen steckengeblieben waren. Aber ein großes Epos »Ahasverus« hatte mich durch die geistige Kraft und die strenge Form der Terzinen begeistert, so daß ich ihn einige Monate lang nicht etwa für einen Nachahmer, sondern für den einzigen Nachfolger des gewaltigen Dante hielt.

Diesen Mann nun suchte ich auf Wunsch von Fräulein R. auf, um ihn zu einer Kritik meines Opus zu veranlassen. Ich überreichte ihm meine Revolutionssonette und meine beiden geschichtsphilosophischen Skizzen über Robespierre und Napoleon. Vierundzwanzig Stunden später beschied mich Heller wieder zu sich. Er verwarf ohne Gnade meine Geschichtsphilosophie, meine Prosa. Das wäre tobsüchtiger Nihilismus. Ich glaube heute zu wissen, daß in diesen jugendlichen Arbeiten ganz kräftige Keime zu einer Zufallstheorie der Geschichte verborgen waren; doch ohne Zaudern und mit einer gewissen Heiterkeit verbrannte ich sofort diese wüste Prosa, denn der unerbittliche S. Heller hatte ganz anders von meinen Sonetten gesprochen. Wenn der Autor die ganze Sammlung auf die Höhe der besten Nummern bringen könnte, wenn er die meisten Gedichte klangvoller und fließender gestalten und die schlechten ausmerzen wollte, »so könnten diese Sonette vielleicht epochemachend werden«. Auf den blauen Umschlag meines Manuskripts hatte Heller dieses Urteil niedergeschrieben.[195]

»Epochemachend.« Das entsetzliche und gefährliche Wort stand da, schwarz auf blau. Ich besitze das Blatt noch. Die vielen Wenn und Aber sah oder merkte oder las ich nicht.

Acht Tage später war ich in Leipzig, um meine Gedichte drucken zu lassen. Das stand so fest, wie der Altar in der Kirche, daß ein Österreicher ins Reich gehen, nach Leipzig fahren mußte, wenn er Gedichte drucken lassen wollte. Es war eine fixe Idee.

Die Fahrt von Prag nach Leipzig dauerte recht lange: in gemischten Zügen, in der letzten Klasse, heimlich ging ich hin. Einen Ausflug hatte ich vorgegeben. Von unterwegs schrieb ich nach Hause das Geständnis: ich habe Verse geschrieben und ein Leipziger Verleger wird sie drucken.

In Leipzig, wo ich in einem Winkelgasthof abstieg, fand ich die Antwort auf dieses ängstlichstolze Geständnis. Einen Brief und ein Telegramm. Der Brief vom Elternhause: als ob ich im Begriffe gewesen wäre, silberne Löffel zu stehlen, als ob diese Schande der Familie unmittelbar gedroht hätte. Das Telegramm war aus Wien, von meinen ältern Brüdern, von Gustav unterschrieben. »Lasse jedesfalls auf unsere Kosten drucken.« Der Brief schmerzte. Das Telegramm schmerzte fast noch mehr. Ein epochemachendes Werk auf Kosten der Brüder drucken lassen! Lassen müssen! Ich wußte noch nicht, daß meine Brüder ahnungsvolle Engel waren.

Ich schrieb an drei bekannte Leipziger Verlagsfirmen. Ich wäre in Leipzig und hätte das Manuskript gleich mitgebracht.

Keine Antwort.

Am dritten oder vierten Tage saß ich, eigentlich mehr überrascht als verstimmt, bei einem Eis vor dem Café[196] Felsche, an der Ecke der Grimmaischen Straße. Plötzlich erkenne ich in einem kleinen Herrn am Nachbartische den Vetter Dr. Julius Friedländer, den Mann einer Kusine. Er war in der gelehrten Welt bekannt und geschätzt als der Besitzer des ausgezeichneten naturwissenschaftlichen und mathematischen Antiquariats R. Friedländer & Sohn. Auch Verleger war er, Herausgeber von Jacobis demokratischer »Zukunft«. Da sitzt also der einzige wirkliche Buchhändler, den ich auf der Welt kenne, zwei Schritte von mir. Und sympathisch ist mir der gütige und lebhafte Mann immer gewesen; hat sich, wenn er nach Prag kam, immer sehr freundlich nach meinem Tun und Treiben erkundigt. Das kann kein Zufall sein, das ist Schickung.

Ich rede ihn an. Ich hätte ein Bändchen Sonette geschrieben und das Manuskript gleich mitgebracht. Mein Vetter wollte sich ausschütten vor Lachen.

Er war sehr gut gegen mich. Er zahlte mein Eis und nahm mich mit, als er nun seine Berufsgänge besorgte. Die Leute, mit denen er zu tun hatte, waren lauter Buchhändler. Überall hatte er ein Geschäft abzuschließen, als ob Bücher Waren wären. Jedesmal, wenn er seine ernsthaften Angelegenheiten geordnet hatte, sagte er, anstatt mich vorzustellen: »Das ist mein Vetter Fritze aus Prag. Er ist schnurstracks nach Leipzig gekommen, um Sonette drucken zu lassen. Und das Manuskript hat er gleich mitgebracht.« Die Herren lachten jedesmal, wie ich seitdem in Leipzig nicht wieder lachen gehört habe. Nicht einmal im »Symposion«, bei den deutschen Humoristen.

Erst beim vierten Buchhändler weigerte ich mich, mit einzutreten. Mein Vetter brummelte etwas und zog mich hinter sich her. Lachend, aber doch etwas ernsthafter[197] brachte er hier meine Sache vor. Die Herren sollten keine Angst haben; das Manuskript läge im Gasthof. Ein kurzer Kriegsrat wurde gehalten. Das Ergebnis: ich sollte zu Rudolf von Gottschall gehen; der werde mir gewiß eine wirksame Empfehlung an den geeigneten Verleger geben.

Ich weiß es heute zu würdigen, daß Gottschall, schon damals kein junger Mann mehr, mich freundlich aufnahm und sich bereit erklärte (mein Reisegeld war sehr knapp geworden), die Sonette binnen weniger Stunden zu lesen. Pünktlich zur festgesetzten Zeit stand ich wieder vor dem Leipziger Kritiker. Abermals vernahm ich ein Urteil, das mir überaus günstig scheinen mußte; ich überhörte jedes Wort des Tadels, ich überhörte die Mahnung zu sorgsamer Feile, ich hörte nur, daß Gottschall meine Verse sehr wohlwollend mit den Jugendgedichten Schillers verglich. Und die wirksame Empfehlung konnte ich gleich mitnehmen, gleich wirken lassen.

Sie war an den Verleger Leiner gerichtet. Der Herr empfing mich mit ausgesuchter Höflichkeit. Wie man seinen zahlungfähigen Kunden empfängt. Das Manuskript nahm er in die Hand, prüfte, aber eigentlich nicht den Inhalt, sondern nur die Stärke. Er bedauerte, daß das Manuskript nicht dicker wäre. Ob er es nicht lesen wollte? Nein, der Brief Gottschalls genüge ihm. Er werde die Sonette drucken und verlegen.

Ich war nicht ganz zufrieden. Daß der Mann am liebsten noch viel mehr Sonette von mir gedruckt hätte, das freute mich; es tat mir aber doch leid, daß mein Verleger, mein Leipziger Verleger, der bedeutende Mann, an den mich Gottschall empfohlen hatte, daß der meine Verse nicht lesen wollte. Auch nicht als entfernte[198] Ahnung tauchte in mir der Verdacht auf, er könnte die heilige Sache als Bestellung betrachten, als Druckauftrag: der Verdacht, ich würde die Druckkosten bezahlen müssen. Ein moderner Junge von 16, von 14 Jahren hätte sich nicht darüber getäuscht. Aber was war ich jung mit meinen 22 Jahren! Ich wunderte mich gar nicht darüber, daß mein Verleger die Entscheidung über jede Einzelheit in meinen Willen legte. Leise wunderte ich mich nur darüber, daß mir kein Honorar angeboten wurde. Ich hätte zur Feier des Tages so gern eine gute Flasche Wein getrunken. In Auerbachs Keller. (Ich ging nachher doch in Auerbachs Keller, holte mir mit einigen Flaschen schlechten Weins einen ordentlichen Rausch, schrieb in der Bezechtheit tolles Zeug ins Fremdenbuch und reiste, da nach der kleinen Zeche ein weiterer Tag in Leipzig unerschwinglich war, gegen Mitternacht nach Hause zurück.)

Mein Verleger hatte immerhin doch einige Fragen gestellt.

»Wie viele Exemplare sollen gedruckt werden?«

So wenige wie möglich, entschied ich. Ein Vierteltausend war die mindeste Zahl. Nicht zu viele Menschen sollen diese Gedichte lesen. (Ich erfinde nicht, ich scherze nicht; ich gebe das Gespräch so treu wieder, als mein Gedächtnis es irgend zuläßt.)

»Welche Schriftgattung?«

Natürlich lateinische Schrift. Die wäre nicht beliebt; und ich hätte ja schon gesagt, ich wünschte für diese Gedichte nicht zu viele Leser.

Und ich setzte einen hohen Ladenpreis fest, weil ich doch nicht zu viele Leser wünschte. Ich glaube bestimmt, der Herr sah mich mitleidig an, als ich vom Ladenpreis sprach.[199]

Mit den Gefühlen eines Siegers kam ich am nächsten Vormittag zu Hause an. Ich wurde nicht wie ein Sieger empfangen. Machte nichts. Die Bürstenabzüge kamen und ich durfte meine Verse korrigieren. War das schön! Es wird wohl an meinem Augenleiden liegen, daß mir das Korrigieren jetzt keine so reine Freude mehr bereitet.

Die letzte Korrektur war erledigt. Ich wartete auf meine Freiexemplare und auf das Widmungsexemplar auf Velinpapier. Mag man mich dafür nennen, was man will, ich muß es dennoch melden: ja, ich hatte auch Freiexemplare ausbedungen.

An einem düstern Herbsttage kam irgend etwas, das wahrscheinlich Aviso hieß. Dann ein Frachtbrief. Dann ein Ballen. Der Ballen enthielt alle 250 Exemplare meines ersten Buches, dazu eines auf Velinpapier gedruckt und hübsch gebunden. Ein Brief lag bei. Meine »Bestellung« sei ausgeführt. Da mit einem Buche, das auf eine Verherrlichung der französischen Revolution hinausliefe und die patriotischen Gefühle in Deutschland verletzte, gegenwärtig in Deutschland kein Geschäft zu machen wäre, so stelle mir Herr Leiner die ganze Auflage zur Verfügung. Er erwarte die baldige Begleichung der beigefügten Rechnung.

Und ich gedachte dankbar meiner ahnungsvollen Brüder.

Da besaß ich also mein erstes Buch »Die große Revolution. Epigramme. Von Fritz Mauthner« gleich in 251 Freiexemplaren. Den Untertitel »Epigramme« hatte ich gefunden, um fast bescheiden das Wesen meiner Sonette zu bezeichnen; da es aber nicht üblich ist, Sonette als Epigramme zu charakterisieren, mußte der Titel erst recht irreführen.[200]

Nur für eines von den 251 Freiexemplaren, für das auf Velinpapier, hatte ich Verwendung; ich wußte nicht, was ich mit den übrigen anfangen sollte. Für die Einsendung von Rezensionsexemplaren an die Zeitungen hatte ich wenig Verständnis. Auch keine Ahnung von der Notwendigkeit, das Buch im Buchhändler-Börsenblatt oder gar in Tagesblättern anzuzeigen.

Ich übergab einem braven Sortimenter der Prager Altstadt hundert Abdrücke, die in ihrem grünen Umschlage nicht eben verlockend aussahen. Er stellte ein Exemplar für einige Tage in sein Schaufenster. Das war meine Öffentlichkeit.

Doch nein: meine beiden Autoritäten schrieben Rezensionen über mein grünes Büchlein. S. Heller hart und sehr unfreundlich in der »Bohemia«; Gottschall überaus freundlich, wieder mit dem Hinweis auf Schiller, in seinem Literaturblatte. Gottschalls Kritik veranlaßte den jungen deutschen Dichter Otto Franz Gensichen in Berlin, meine Revolutionssonette zu erwerben. Er erzählte mir viele Jahre später, wie schwierig es war, den deutschen Buchhandel zur Auffindung der »Novität« zu überreden. Ich habe diesen Dichter immer in Ehren gehalten, den einzigen Käufer meines ersten Buches.

Einen Erfolg haben die ungefeilten, ungefügen, oft unschönen Sonette nicht verdient; das geistige Ringen des jungen Autors, sein ehrlicher Schrei nach Befreiung und am Ende auch manche Sonette, in denen Kraft und Form war, hätten vielleicht doch Beachtung verdient.

Einige Jahre später erfuhr ich auf seltsame Weise, daß meinem Erstlingswerkchen kurz nach dem Erscheinen ein Erfolg oder doch eine starke Wirkung gedroht[201] hatte; der Verfasser sollte – ich weiß nicht recht – wegen Beleidigung der Kirche oder wegen Gotteslästerung, dann aber auch wegen Beschimpfung des österreichischen Kaiserhauses angeklagt werden. Der letzte Vorwurf war blanker Unsinn; ich durfte doch im Jahre 1872 die Pariser von 1792 den Wunsch aussprechen lassen, daß der Österreicherin Marie Antoinette der Kopf abgeschlagen würde. Mein Gewährsmann für diese Gefahr, verfolgt zu werden, war der Polizeirat Dedera, der damals zu Prag das Amt eines Zensors mit der Dummheit und der ganzen Leidenschaft eines literarischen Dilettanten verwaltete. Er pflegte sich in den Kneipen an die deutschen und tschechischen Schriftsteller und Journalisten heranzubiedern und stand in dem Rufe (vielleicht geschah ihm unrecht), gelegentlich auch Spitzeldienste zu leisten, der Behörde zu ihrem späteren Gebrauche die Verfasser anonymer Zeitungsartikel zu verraten. Mit diesem Herrn geriet ich im Jahre 1875, nachdem er ein Zensurverbot gegen mein Schauspiel »Anna« durchgesetzt hatte, törichterweise in eine persönliche Auseinandersetzung, bei welcher ich ihm durch einen allzu naturalistischen Reim meine Verachtung ausdrückte. Der sonst immer katzenfreundliche Polizeirat geriet in einen Zorn, der ihm besser stand als die gespielte Unterwürfigkeit. Ich müßte froh sein, nicht auf dem Spielberg zu sitzen, oder in einem ganz gewöhnlichen Kerker. Vor drei Jahren hätte es nur an einem Haar gehangen. Da hätte sein Freund, der Staatsanwalt ... (er nannte den Namen, aber ich habe ihn wirklich vergessen), der Feind aller deutschen Liberalen, den Antrag auf meine Verfolgung »wegen dem und dem« gestellt. Aber ein alter Richter hätte gesagt, wahrscheinlich bei der Beratung über den[202] Anklagebeschluß: »Jetzt kennt kein Mensch das grüne Büchel, wir wollen nicht durch einen Prozeß darauf aufmerksam machen.«

Ich werde in ordentlicher Reihenfolge später über das Verbot und auch über die Aufführung meines Schauspiels zu berichten haben. Für jetzt möchte ich nur erzählen, wie viel oder wie wenig meine Lage sich nach dem Erscheinen der Sonette veränderte.[203]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 192-204.
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