II. Prag.

[17] Mein Vater, im Verkehr mit Frau und Kindern ein stiller Mann, für sich selbst vielleicht nur etwas zu selbstgerecht und stolz, für seine Kinder in seiner Weise ehrgeizig, war im Jahre 1855 – ich war noch nicht sechs Jahre alt – nach Prag übersiedelt, um dort den fünf Knaben einen besseren Schulunterricht bieten zu können. Mein Vater mochte wenige Schulkenntnisse haben und hatte auch darum gewiß keine deutliche Vorstellung davon, was diesen Knaben zu lernen etwa dienlich sein könnte. Wir waren alle fünf zu Kaufleuten bestimmt. Als ich nach Prag kam, hatte ich bereits bei meiner guten Mutter lesen gelernt. Sie zeigte mir in der Gartenlaube, auf die wir abonniert waren, die großen und dann die kleinen Buchstaben der Überschriften und ich brachte es sehr bald dazu, mir ganze Worte und Sätze zu deuten. In Prag war das erste für mich, daß ich die Straßentafeln, Geschäftsfirmen und Wirtshausschilder, die damals noch fast ohne Ausnahme deutsch waren, als geeignete Lesebücher entdeckte. Auf einem Spaziergang wurde zur Freude meiner Mutter festgestellt, daß ich lesen konnte, und daß ich es fast allein erlernt hatte. Das war der Anfang meiner kurzen Wunderkindschaft. Von den Geschwistern erntete ich, nach der schmerzhaften aber gesunden Sitte unseres Hauses, nur Spott. Ich hatte einmal, als[17] wir am Waisenhause vorüberkamen, altklug zu meinem jüngeren Bruder gesagt: »Wenn du auch lesen könntest, würdest du wissen, daß hier das Wirtshaus zum weißen Hans ist.« Das Gelächter, das übrigens noch nach Monaten nicht ganz aufhörte, war meine erste philologische Lektion: über den Unterschied von u und n. Das Gelächter änderte nichts an der Bedeutung des Erlebnisses; ich konnte lesen, darum sollte ich so schnell wie möglich in die Schule. Dumm, aber logisch.

Der Vater hatte vom Lande mit der ganzen Familie auch unsern Hofmeister mitgebracht, Herrn Fröhlich, einen tüchtigen, braven und fleißigen Mann, dem meine Wißbegierde bald gründliche Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen verdanken sollte. Herr Fröhlich, der in Horzitz nur die älteren Brüder für die vorgeschriebenen Prüfungen unterrichtet hatte, machte jetzt aus zwei Zimmern unserer Prager Wohnung eine richtige Schule; wir fünf Knaben, dazu unsere einzige Schwester, ferner ein Vetter und zwei Kusinen namens Sobotka (die jüngste von ihnen ist Frau Auguste Hauschner), wurden so ungefähr in sechs Klassen eingeteilt, in welche von dem unermüdlichen Lehrer von früh bis abend hineingepaukt und hineingeprügelt wurde, was irgend hineinging. Über Methode und Unterrichtsziel unseres Hofmeisters kann ich natürlich heute nicht mehr urteilen. Ich darf nicht verschweigen, daß irgendein Einfluß auf die Persönlichkeiten seiner Schüler und Schülerinnen durchaus fehlte; niemals haben wir von ihm ein Wort vernommen, das für das Leben, für den Charakter hätte bildend wirken können; er war kein Erzieher. War bei seiner Gewissenhaftigkeit auch wohl so müde, wie es sonst nur ein Volksschullehrer in einer Klasse von sechzig Schülern sein kann. Dazu kam[18] – wie schon leise erwähnt – seine Härte bei körperlichen Strafen, die übrigens vom Vater immer gebilligt wurde, da dessen Erziehungsprinzip ebenfalls auf der Prügelstrafe beruhte. Trotzdem habe ich die beste Erinnerung an die Zeit dieses überhasteten und nüchternen Unterrichts. Wenn ich es heute recht bedenke, so hatte Herr Fröhlich den Auftrag und also die Pflicht, uns möglichst rasch für die Prüfungen irgendeiner öffentlichen Schule vorzubereiten. Da die meisten von uns aufgeweckte Kinder waren, etwa die Hälfte von uns sogar ungewöhnlich begabt, so tat die kleine Presse ihre Schuldigkeit. Meine ältesten Brüder gingen immer elegant durch die Prüfungen.

Ich kann nicht sagen, welche Erfolge unser Hofmeister mit mir hätte erzielen können. Denn schon etwa zwei Jahre nach unserer Übersiedelung verließ er uns, um eine höhere Mädchenschule zu leiten, die seine Schwester gegründet hatte. Unsere jungen Damen nahm er natürlich mit in die neue Anstalt. Wir Knaben wurden dahin und dorthin verstreut. Wer seine Prüfungen abgelegt hatte, der war gut daran; er trat eben in die nächst höhere Klasse einer öffentlichen Schule ein. Mir aber geschah damals etwas, woran ich noch heute, nach siebenundfünfzig Jahren, nicht anders als mit äußerster Erbitterung denken kann, ein Unrecht, das von keinem Lebenserfolge gesühnt werden kann. Ich schwanke nicht, es ein schweres, ruchloses Verbrechen zu nennen. Ich war reif fürs Gymnasium und mußte noch drei Jahre auf einer widerwärtigen Klippschule wiederkäuen, was ich bei Herrn Fröhlich gelernt hatte. Als ich die Geschichte dieses Verbrechens vor einigen Jahren einer Exzellenz vom Unterrichtsressort erzählte, konnte der hochmögende Herr die Sache gar nicht so[19] tragisch finden. Die Schulen seien für die Mittelmäßigkeit eingerichtet und das müsse so bleiben.

Ich hatte wirklich bei unserm Hofmeister binnen zwei Jahren genug gelernt, um in allen den kleinen positiven Kenntnissen die neun- und zehnjährigen Knaben zu übertreffen, die bereits in das heißersehnte Gymnasium eintreten durften. Und das Gymnasium sollte ich ja besuchen, zum eigenen Staunen der Eltern, weil der Hausarzt mich für ein Wunderkind erklärt hatte; und ein Wunderkind hieß ich, weil ich im Kopfrechnen stark war, weil ich Gedichte auswendig lernte, leicht und zu meinem Vergnügen.[20]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 17-21.
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