III. Die Klippschule.

[21] Man muß es mir schon glauben, daß ich damals bereits reif für das Gymnasium war, und nicht erst drei Jahre später. Vielleicht fehlte im Lehrplan unseres Hofmeisters die eine oder die andere Kleinigkeit, die just in jenen Zeitläuften bei der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium verlangt wurde; aber diese Lücken hätte ich sicherlich binnen wenigen Wochen oder Monaten ausfüllen können. So zum Beispiel waren meine Kenntnisse in der tschechischen Sprache wahrscheinlich sehr mangelhaft. Ich mochte bis etwa zum vierten Lebensjahre tschechisch und deutsch gleich gut oder gleich schlecht geplappert haben; tschechisch gar noch etwas früher, weil in Böhmen (d.h. in den gemischten Bezirken des Landes) tschechisch als die gottgewollte Ammensprache angesehen wurde. Seitdem ich aber am Elterntische essen durfte, ging die Übung im Tschechischsprechen langsam verloren; und tschechisch richtig zu schreiben habe ich eigentlich niemals gelernt. Nun war aber tschechisch von Gesetzes wegen die zweite Landessprache geworden und von den armen Schulkindern wurde etwas tschechische Orthographie und etwas tschechische Grammatik verlangt. Wirklich nur ein wenig Sand in die Augen. Wie gesagt, binnen wenigen Wochen hätte ich das Verlangte nachholen[21] können. Ich aber wurde nach tagelangem Schwanken in die zweite Klasse einer vierklassigen Privatschule gesteckt und erst drei Jahre später auf das Gymnasium entlassen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich jetzt und später bei Erwähnung dieser einfachen Tatsache lebhaft oder gar pathetisch wie ein öffentlicher Ankläger werden sollte. Ich werde immer noch nicht heftig genug anklagen. Wie unser Strafrecht so ist unser ganzes Rechtsgefühl zu materialistisch; ernstliche Angriffe gegen das Geistesleben werden kaum so hart verurteilt wie Einbrüche, die dem Geldschrank gelten; der Erpresser, der der schlimmere ist, wird nicht so streng bestraft wie der Räuber.

Es ist mir gar nicht zweifelhaft, wer für dieses Verbrechen an einem Kinde verantwortlich war. Meine Eltern fügten sich, weil man ihnen sagte, ich wäre schwächlich und müßte im Lernen zurückgehalten werden. Als ob dem wißbegierigen und phantasievollen Knaben nicht anhaltende Arbeit gesünder gewesen wäre, als das fünfzehnjährige Lungern, das dann folgte. Die Sache wurde offenbar zwischen unserem Hofmeister und dem abscheulichen Direktor jener Privatschule abgemacht. Damit dieser Direktor drei Jahre lang ohne jeden Sinn das Schulgeld für mich bekam, darum wurde ich der Gefahr ausgesetzt, an Leib und Seele zu verkommen. Und da habe ich noch nicht einmal hervorgehoben, daß diese Privatschule nur von jüdischen Knaben besucht wurde, daß der Direktor oder der Besitzer ein völlig unkultivierter ungarischer Jude war; vielleicht war es nach dem damaligen Stande der österreichischen Gesetzgebung nicht möglich, das Kind religionsloser, aber jüdischer Eltern anders als in einem solchen Pferche unterzubringen. Ich kann auch heute[22] noch über die Marter nicht lachen, die ich damals zu erleiden glaubte; die ich also erlitten habe.

Nur selten haben Erwachsene ein Verständnis für die ernsten Qualen einer Kinderseele. Ich fühlte es damals noch lebhafter, als ich es heute nachfühle, daß mir ein Unrecht zugefügt wurde: daß ich unter einen Haufen von Schülern versetzt worden war, deren Lehrer ich hätte sein können; daß meine Lehrer tief unter dem Kulturniveau meines einfachen Elternhauses standen. Vielleicht nicht das Gesetz, jedenfalls aber die Praxis machte es unmöglich, auch auf Grund der ungewöhnlichsten Leistungen eine Schulklasse zu überspringen. So war ich verurteilt, die drei Jahre, um welche man mich bestohlen hatte, niemals wieder einbringen zu können. Immer blieb ich zu alt für den aufgezwungenen Studienplan, zwiefach zu alt: durch meine Jahre und durch meine Altklugheit.

Ich möchte nun bei keinem Leser in den Verdacht kommen, als beklagte ich mich über die gestohlenen drei Jahre deshalb, weil ich sonst zu siebzehn Jahren meine Maturitätsprüfung, zu einundzwanzig Jahren meinen Doktor gemacht hätte und ... es ist ja nicht auszudenken, was aus mir dann noch alles Ordentliche hätte werden können. So ist meine Klage wirklich nicht gemeint. Ich wäre auch dann ein freier Schriftsteller geworden, wenn ich zur richtigen Zeit so viel wie möglich gelernt hätte. Die Folgen des Unrechts, des Diebstahls von drei Jahren, die Folgen, die ich zu beklagen habe, sind ganz anderer Art. Ich hatte nichts, aber auch gar nichts zu lernen, um jahrelang immer der Erste unter meinen Schulkameraden zu sein; so gewöhnte ich mich an Faulheit und an Überhebung und blieb faul und überheblich, für die Schule wenigstens, auch dann noch,[23] als in den höheren Gymnasialklassen und auf der Universität Fleiß und Bescheidenheit nützlicher gewesen wären. Ich könnte noch mancherlei über die Folgen der Faulheit, der frühreifen Überhebung und der vollständigen Vereinsamung erzählen. Aber ich möchte nicht moralisieren. »Tetem« könnten mir die Menschen antworten, die Vischers »Auch einer« gelesen haben und darum lieben.

Daß die seelischen Nachteile der widerrechtlichen Einpferchung in jene Klippschule sich aber erst später einstellten und nicht auf jener Schule selbst, das lag an einigen gutartigen Lehrern und wieder an meiner damals noch nicht überwundenen Wunderkindschaft. Daß der Besitzer der Schule ein ekelhafter Geldmacher war, daß einzelne Schulmeister der Nebenfächer recht wurmstichige Persönlichkeiten waren, das kam mir damals nicht zum Bewußtsein und konnte mir darum kaum schaden. Nicht einmal die unsauberen Geschichten, die die Jungen aus dem Internat in die Klassen zu den »Externisten« brachten, machten sonderlichen Eindruck auf mich; ich hielt solche Zustände nicht für möglich und staunte höchstens über die schmutzige Sprache der Berichterstatter. Die Hauptlehrer waren gute und eifrige Menschen. So wurde tüchtig gearbeitet; und gar für die öffentliche Jahresprüfung, welche in Gegenwart des rundlichen Bezirkspfarrers und eines in seinen Kreisen berühmten hageren Rabbiners abgehalten wurde, mußte ein starkes Quantum auswendig gelernt und in sauberen Heften zusammengeschrieben werden. Da wurden die besseren Schüler nach Kräften herangezogen und meine Eitelkeit verhinderte mich, zu dem Gefühle des Müßiggangs zu kommen. Ich wurde bei diesen Prüfungen unaufhörlich vorgeritten, mußte[24] zu diesem Zwecke das ganze Jahr zugeritten werden, trainiert, so daß seltsamerweise die drei gestohlenen Jahre mit die fleißigsten meines Lebens waren. Was so die Lehrer Fleiß nennen. Es ist nicht zu sagen, was ich damals alles gewußt und gekonnt habe. Es ist ein Wunder, daß das unsinnige Auswendiglernen mich nicht blödsinnig gemacht hat. Ich gebe nur ein Beispiel von dem, was mir zugemutet wurde. Am ersten Tage einer solchen öffentlichen Prüfung waren von uns eine Unzahl Schillerscher Gedichte aufgesagt worden. Kurz vor der Mittagspause äußerte der rundliche Bezirkspfarrer den Wunsch, eines dieser wunderschönen Schillerschen Gedichte auch auf tschechisch deklamiert zu hören. In einer ebenso schönen Übersetzung. Wir seien doch gewiß gute Böhmen? Der Schuldirektor katzbuckelte: er (der ungarische Jude) sei ein sehr guter Böhme. Dann nahm mich dieser Mann beiseite, bedrohte mich mit geballter Faust, wenn ich nicht am Nachmittage, also binnen zwei Stunden, Schillers »Bürgschaft« in der tschechischen Übersetzung auswendig gelernt hätte, die in der Schulbibliothek nicht fehlte. Es gelang mir, den ehrenvollen Auftrag auszuführen. Ich sagte die Übersetzung, deren Wortlaut mir nicht völlig begreiflich war, mit Verstand auf und wurde vom Pfarrer und vom Direktor gelobt und gestreichelt. Ich weiß noch, daß ich am nächsten Morgen nicht mehr imstande war, auch nur den dritten Vers der Übersetzung aus dem Gedächtnisse wiederherzustellen.

Es sind aus so viel Wunderkindern später Dummköpfe und Subalternbeamte geworden, auch schlechte Musikanten, daß ich von dieser Art meiner Begabung gewiß unbefangen reden darf. Natürlich wurde meine Überheblichkeit, deren ich mich schon beschuldigt habe,[25] durch diese Art des Schulbetriebs sehr verstärkt, wenn nicht erst geweckt. Ich war der Schnittlauch auf allen Suppen. Der Himmel ist mein Zeuge, sogar im Singen (meiner partie honteuse) leistete ich nach dem Urteile der Lehrer Außerordentliches; als einmal ein zweistimmiger Gesang durch meine Schuld umkippte, bekam mein Banknachbar die Ohrfeigen dafür. Ich erinnere mich, daß einmal die Lehrer aus allen Schulstuben zusammengerufen wurden, um eine Karte von Europa anzustaunen, die ich aus dem Gedächtnisse und aus freier Hand mit der Kreide auf die Tafel gemalt hatte; auch das hatte ich früher bei unserm Hofmeister gelernt; und die Kunst, die Fjorde von Norwegen durch einen zitterigen Kreidestrich hübsch naturalistisch anzudeuten. Auf eine Anregung des rundlichen Pfarrers, dem meine Heldentat vom Direktor schnell gemeldet worden war, mußte ich für die nächste Jahresprüfung eine ebenso schöne Karte von Palästina auf die Tafel malen; ich ließ es auch da nicht an Fjorden fehlen und glaube fast, es war schon Übermut dabei. Diese Wunderkindschaft, welche sich außer in einem seltenen Gedächtnisse noch in einer gewissen Begabung für Mathematik, für Sprachen und für Zeichnen kundgab, hielt ungefähr bis zu meinem vierzehnten Lebensjahre an. Dann hat es sich ja wohl gegeben. Aber ich darf nicht unterlassen zu berichten, was die Schulen mit diesen Begabungen anzufangen gewußt haben.

Mein Sinn für alles Mathematische muß wirklich ursprünglich sehr stark gewesen sein; noch in meinem sechzehnten Jahre, auf dem Gymnasium, machte sich unser Mathematikprofessor, ein unwahrscheinlich dicker Piaristenpriester, an heißen Sommertagen mitunter den Spaß oder die Bequemlichkeit, mich statt seiner die[26] Stunde abhalten zu lassen. Aber ich habe von wissenschaftlicher Mathematik, ja eigentlich von der eigentümlichen mathematischen Logik in allen Schuljahren niemals etwas gehört und habe als vierzigjähriger und dann wieder als siebenundfünfzigjähriger Mann das bißchen Mathematik nachlernen müssen, das ich zu einer Annäherung an die höhere Analyse und zum Verständnis eines naturwissenschaftlichen Buches brauchte. Ich möchte gleich hier auf eine der schlimmsten Lügen unseres Gymnasialbetriebs hinweisen. Der seit der realistischen Gymnasialreform vorgeschriebene mathematische Stoff wird von allen Schülern verlangt; nun gibt es ganz brave Lateiner, die den mathematischen Begriffen völlig hilflos gegenüberstehen, die zwischen dem Logarithmus und dem Wurzelziehen nur unklar unterscheiden können. Soll so ein fleißiger Bursche der Primus in der Klasse bleiben, so muß das mathematische Pensum an allen Ecken beschnitten werden, die Prüfung darf nicht ernst genommen werden und die ganze Klasse lernt nichts. Unsere Klasse auf dem Obergymnasium der Prager Kleinseite war ein Musterbeispiel für diese Zustände. Der Primus, der übrigens seine Stellung durch seine wissenschaftlichen Leistungen und durch seine moralische Untadeligkeit wohl verdiente, war amathematisch geboren. Der Primus hätte nach dem Schulplane nicht versetzt werden dürfen. Der Zweite der Klasse, ein Jude, war in den alten Sprachen nahezu ebensogut, in Mathematik und auch sonst ein Musterschüler. Er blieb im Schatten, bis zu seinem Tode.

Daß ich auch im Zeichnen »ausgezeichnet« war, muß ich meinen Lehrern glauben. In unserer Klippschule gab es auch Zeichenunterricht. Ein heruntergekommener Kalligraph erteilte ihn, mit dem Staberl in der[27] Hand, mit dem Rohrstock. Es ist mir noch heute unverständlich, warum er so grimmig mit dem Staberl auf uns losschlug; es muß ihm wohl Vergnügen gemacht haben. Er teilte diese Leidenschaft übrigens mit dem Direktor, der noch vom Schuldiener regelrechte Schillinge (fünfundzwanzig Stockschläge) aufzählen ließ. Gott habe sie selig, den Direktor und seinen Zeichenlehrer. Sie ruhen beide in Frieden und haben es nicht um uns verdient. Ich war übrigens der Liebling auch dieses Lehrers und habe unter seiner Leitung und mit seiner Hilfe für die öffentlichen Jahresprüfungen Gräßliches zustande gebracht. Ich habe so etwas wie Parkettfußböden gezeichnet und koloriert, ich habe kämpfende wilde Tiere nach Vorlagen gezeichnet. Für ein solches Bild von meiner Künstlerhand soll die Schule einmal einen Preis bekommen haben; ich weiß nicht mehr, waren es Tiger oder Krokodile, oder war es eine gemischte Gesellschaft von Tigern und Krokodilen, oder waren es Bastarde von Tigern und Krokodilen. Niemals wurden wir angeregt, ein Blatt, eine Blume, ein Tier, einen Menschen oder auch nur einen Stein nach der Natur zu zeichnen. Niemals wurde uns auch nur angedeutet, daß es eine Freude sein könnte, die Natur mit eigenen Augen anzusehen. Und auch auf dem Gymnasium habe ich niemals Gelegenheit gehabt, auch nur einen Bleistiftstrich auf ein Blatt Zeichenpapier zu werfen. Nur ein einziges Mal kam die Leidenschaft über mich, als ein bildender Künstler zu schaffen. Das innere Erlebnis mag ein Licht werfen auf den Grad der Vereinsamung, die mich in meiner Jugend von allem Kunstgenießen schied.

Zu Hause erfuhr ich durch die Mutter mancherlei von Büchern und von Theateraufführungen; ich wurde[28] mitunter ins Theater mitgenommen, wo wir ein halbes Abonnement auf zwei Sperrsitze hatten, und die Bücher, die ich meiner Mutter aus der Leihbibliothek holte, verschlang ich gewöhnlich auf dem Heimwege: Dickens, Gerstäcker, Hackländer, Gutzkow, Spielhagen, Auerbach, die Mühlbach. So war für geistige Anregung immerhin gesorgt, wenn auch heimlich. Aber der Begriff Kunst war mir fremd geblieben. Ich kannte eine einzige Oper, allerdings den Freischütz, zu dem ich einmal ins Theater gehen durfte, weil die älteren Geschwister ihn nicht mehr hören wollten. Es gab in unserem Hause nicht einmal ein Klavier. Und gar von Architektur oder Malerei hatte ich in meinen begeisterungsfähigen Jugendjahren wohl niemals einen ganz klar bewußten Eindruck erhalten, trotzdem wir in dem schönen Prag wohnten. Niemals war ich zu Hause oder in der Schule auch nur auf eines der prächtigen alten Gebäude aufmerksam gemacht worden. Was ich von selbst an herrlichen Kirchenportalen und von den Türmen der Altstadt wahrnahm, das machte einen tiefen Eindruck auf mich; da ich aber nicht wußte, daß auch andere Menschen so etwas schön fanden, so sann ich dem Eindruck nicht weiter nach. Ich hielt solche Stimmungen wirklich und wahrhaftig eines gebildeten Menschen unwürdig, ich glaube fast, ich schämte mich ihrer, weil die andern sie nie einer Erwähnung wert erachteten. Ich wunderte mich höchstens darüber, daß die alten winkligen Gassen so viel heimlicher waren, als die geraden Straßen der Neustadt. Von Bildern bekam ich nichts zu sehen als die beiden Stahlstiche an der Wand, die als Prämien eines vaterländischen Kunstvereins in keinem bürgerlichen Hause fehlten. So gelangte ich kunstfremd bis in mein siebzehntes Jahr, als mir einmal[29] ein Schulkamerad das Kupferstichwerk zeigte, das ihm unter den Weihnachtsbaum gelegt worden war. Es brachte in guten Nachzeichnungen gegen sechzig der berühmtesten Gemälde alter Meister. Ich hatte bis dahin Namen wie Rembrandt, wie Tizian niemals vernommen. Ich weiß nicht mehr, ob beim Durchblättern des Werkes mein Entzücken größer war oder mein Neid. Der Mitschüler mußte mir das Werk borgen; zu Hause saß ich davor in einer zornigen Erschütterung. So etwas gab es und so etwas bekamen andere Knaben geschenkt! Das war ja das Höchste, dem ein Jüngling sein Leben widmen konnte! Nun kann ich nicht mehr sagen, ob ich mich in meiner Begeisterung selbst für einen begnadeten Maler hielt oder ob ich mir nur unbemerkt eine Kopie des herrlichen Buches anfertigen wollte. Jedenfalls ging ich, sooft ich mich unbeobachtet wußte, daran, die schönsten Kupferstiche auf kleinen Blättchen mit dem besten Bleistift nachzuzeichnen, den ich auftreiben konnte. Nach einigen Wochen hatte ich meine armselige Künstlermappe beisammen. Einige Rembrandts und Raffaels meiner Faktur existieren noch; nicht nur ein Künstler würde über diese ängstlichen, pedantischen, kümmerlichen Stricheleien lachen. Ich aber besaß eine Kunstgalerie für den heimlichen Gebrauch.

Ungefähr in die gleiche Zeit fällt der noch traurigere Versuch, mir für mein persönliches Kunstbedürfnis ein Leiblied zu komponieren; es läßt sich nicht leugnen, daß zwar der Text von mir war, aber die Melodie eine sehr schöne, liebe und alte Melodie.

Es ist mir oft zum Lobe nachgesagt worden, ich hätte mich beim Kritisieren stets als neidlosen Schriftsteller bewährt. Ich will nicht untersuchen, ob ich dieses Lob[30] gar nicht oder am Ende noch in viel höherem Maße verdient habe; ob ich vielleicht mitunter den Neid unterdrücken mußte, um dem glücklicheren Rivalen wenigstens gerecht zu werden. Sicher ist, daß Neid nicht zu meinen häßlichen Fehlern gehört. Neid aber, bitterer Neid erfüllt mich noch heute, wenn ich sehen muß, wie gut es die jungen Leute haben, wie ihr Interesse für Natur und Kunst geweckt oder gefördert wird. Wie die Lehrer mit ihren Wandervögeln ins Gebirge ziehen, im Walde lagern, abkochen und der Stadt entflohen sind! Wie sie mit offenen Herzen und offenen Augen das Straßburger Münster und die Alpen erblicken dürfen. Genießt, ihr prächtigen Jungen! Aber daß diese Burschen auch einen ernsthaften Unterricht im Singen und im Zeichnen erhalten, daß sie in Konzerte und in Galerien geführt werden, wonach wir durstig waren wie abgehetzte Hunde nach Wasser ... nein, da muß ich den Heutigen schon in die glücklichen Augen sehen, da muß ich schon Glück über Bach und Mozart und Raffael in diesen Augen erblicken, um des Neides Meister zu werden. Genießt, ihr Jungen! Uns wurde es schwerer die Schönheit zu entdecken.[31]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 21-32.
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