IV. Erste Sprachstudien.

[32] Bitterer wird meine Stimmung, wenn ich daran denke, was Klippschule und Gymnasium mit meinem Sinne für Sprachen angefangen haben; und auch sonst wäre mancherlei zu sagen über die besonderen Verhältnisse, die das Interesse für eine Psychologie der Sprache bei mir bis zu einer Leidenschaft steigerten. Dieses Interesse war bei mir von frühester Jugend an sehr stark, ja, ich verstehe es gar nicht, wenn ein Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren ist, zur Sprachforschung nicht gedrängt wird. Er lernte damals (die Verhältnisse haben sich seitdem durch den Aufschwung der Slawen und durch die bessere Assimilierung der Juden ein wenig verschoben) genau genommen drei Sprachen zugleich verstehen: Deutsch als die Sprache der Beamten, der Bildung, der Dichtung und seines Umgangs; Tschechisch als die Sprache der Bauern und der Dienstmädchen, als die historische Sprache des glorreichen Königreichs Böhmen; ein bißchen Hebräisch als die heilige Sprache des Alten Testaments und als die Grundlage für das Mauscheldeutsch, welches er von Trödeljuden, aber gelegentlich auch von ganz gut gekleideten jüdischen Kaufleuten seines Umgangs oder gar seiner Verwandtschaft sprechen hörte. Der Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren war, mußte gewissermaßen zugleich Deutsch, Tschechisch[32] und Hebräisch als die Sprachen seiner »Vorfahren« verehren. Und die Mischung ganz unähnlicher Sprachen im gemeinen Kuchelböhmisch und in dem noch viel gemeineren Mauscheldeutsch mußte schon das Kind auf gewisse Sprachgesetze aufmerksam machen, auf Entlehnung und Kontamination, die in ihrer ganzen Bedeutung von der Sprachwissenschaft noch heute nicht völlig begriffen worden sind. Ich weiß es aus späteren Erzählungen meiner Mutter, daß ich schon als Kind die törichten Fragen einer veralteten Sprachphilosophie zu stellen liebte: warum heißt das und das Ding so und so? Im Böhmischen so, und im Deutschen so? Mein Vater, der in seiner Weise sich für einen musterhaften Gebrauch der deutschen Sprache einsetzte, würdigte mich manchmal einer Unterhaltung über solche »Belustigungen des Verstandes und des Witzes«, trotzdem er sonst nicht leicht ein persönliches Wort an eines seiner Kinder richtete. Er schien dadurch einige Achtung für meine »gelehrte Laufbahn« äußern zu wollen. Er verachtete und bekämpfte unerbittlich jeden leisen Anklang an Kuchelböhmisch oder an Mauscheldeutsch und bemühte sich mit unzureichenden Mitteln, uns eine reine, übertrieben puristische hochdeutsche Sprache zu lehren. So erinnere ich mich, daß er mir gegenüber einmal das Wort mischen als ein vermeintliches Wort der ihm verhaßten Judensprache heftig tadelte, man müßte gut deutsch melieren dafür sagen; mein Vater wußte nicht, daß sowohl mischen als melieren von dem lateinischen miscere stammt; diese Unkenntnis braucht dem eifrigen Sprachfreunde um so weniger angekreidet zu werden, als noch heute Forscher wie Kluge und Paul eine sogenannte Urverwandtschaft zwischen mischen und miscere für möglich halten.[33]

Ich kam in meiner kindlichen Sprachvergleichung hie und da zu überraschenden Entdeckungen. So hatte ich als Kind das Zeug, mit dem mir beim Waschen die Hände getrocknet wurden, in meinem Kuchelböhmisch hantuch genannt, das Wort in meine deutsche Sprache mit hinübergenommen und kam in meinem fünften Jahre auf den gelehrten Einfall: hantuch bedeute ein Tuch für die Hand, wäre also ein deutsches Wort1.

Man wird mir nun glauben, daß ich als achtjähriger Junge darauf brannte, in der Schule nicht nur ein tadelloses Deutsch zu lernen, sondern auch zu erfahren, warum die böhmischen Deutschen so oft anders redeten, als die richtigen Deutschen in der Gartenlaube schrieben, warum die böhmischen Juden ein noch schlimmeres Kauderwelsch sprachen. Meine Hoffnung wurde gröblich getäuscht. Ich lernte auf der Klippschule ebensowenig Deutsch und gar Tschechisch und Hebräisch, wie ich später auf dem Gymnasium Lateinisch oder Griechisch lernte. Endlos wurden Deklinationen und Konjugationen gebüffelt und wieder gebüffelt, alle Formen der Dingwörter und der Zeitwörter im Deutschen, im Tschechischen und im Hebräischen so behandelt, als ob die lateinische Grammatik die Mustergrammatik für alle Sprachen der Welt wäre. Ich muß daran erinnern, daß meine Klippschule eine von jüdischen und slawischen Tendenzen herumgezerrte Anstalt war; ich muß vorwegnehmen, daß mein erstes[34] Gymnasium wohl mit Recht eine besonders elende Mittelschule genannt werden konnte; aber das Wesentliche meiner Erfahrungen dürfte auch zu den Erfahrungen anderer Schüler gehören. Die geradezu idiotische Art, durch Paradigmen in die Sprachen einführen zu wollen, wird die Freude an jeder Sprache gerade dem begabten Kinde verekeln. Ich habe später oft geweint, als ich lateinische Paradigmen auswendig lernen mußte, anstatt die mit ahnungsvollem Zittern ersehnten lateinischen Autoren lesen zu dürfen. Und man weiß, wie auch heute noch und sogar auf bessern Gymnasien (nicht nur Cicero, der es verdient hat) selbst Homeros, der Köstliche, nur zu dem Zwecke gelesen wird, um an seinen Worten die grammatischen Regeln einzuüben. Neuerdings hat sich eine vernünftigere Art ausgebildet, wenigstens moderne fremde Sprachen den jungen Leuten beizubringen. Ich weiß nicht, ob in meiner Jugend die französische und die englische Sprache ebenso idiotisch gelehrt wurde wie die Muttersprache und wie die lateinische. Denn auch das muß ich gleich vorausschicken, daß auf den österreichischen Gymnasien damals kein englischer und kein französischer Sprachunterricht bestand; man konnte Französisch und Englisch, auch Italienisch treiben, wie man Tanzen oder Schwimmen lernte; verboten war es nicht. Ich habe später einige moderne Sprachen ohne Lehrerhilfe so gelernt, daß ich einen berühmten Dichter mit einem Wörterbuche in der Hand so lange langsam dechiffrierte, bis mir die Sprache geläufig wurde. Ich werde ja noch darauf zurückkommen, wie ich in all den Jahren der Volksschule und des Gymnasiums nicht ein Sterbenswörtchen über die Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Literatur vernahm, natürlich noch[35] weniger jemals ein Sterbenswörtchen über Schönheit und Kraft unserer deutschen Muttersprache; wie ich dagegen von fanatischen Tschechen doch einigermaßen in die Geschichte der tschechischen Sprache und in die philologische Kenntnis eines gefälschten tschechischen Literaturkleinods eingeführt wurde. Niemand von meinen Lehrern hat je daran gedacht, meinem Sprachhunger ein bißchen Futter zu reichen. Auf jener Klippschule zahlte mein Vater drei Jahre lang Schulgeld dafür, daß ich für die Zwecke des Besitzers wie ein Zirkuspferd abgerichtet wurde. Unser Hofmeister war nur kein Erzieher gewesen; der Besitzer der Privatschule war ein schlechter Schulleiter und ein schlechter Mensch: er verprügelte die unbegabten Kinder, mit denen kein Geschäft zu machen war, und versuchte die begabten Kinder aufzublasen, wie betrügerische Händlerinnen mageres Geflügel aufblasen.

1

Meine liebe und verehrte Freundin Lilli Lehmann hat ihre Jugend ebenfalls in Prag verbracht. Als ich ihr einmal von dieser meiner ersten etymologischen Entdeckung erzählte, gab sie mir lachend aus ihrer eigenen Erinnerung eine ähnliche Leistung zum besten. Sie war von ihrer Mutter oder erst im Ursulinerinnenkloster abgerichtet worden, jedesmal nach Landessitte kißt'hant zu sagen, wenn sie von einer Dame angesprochen wurde; auch sie hielt diese Formel lange für ein tschechisches Wort und kam erst viel später darauf, daß die Formel ich küß' die Hand bedeutete.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 37.
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