VIII. 1866.

[70] Der Krieg war ausgebrochen und wir waren dumme Jungen genug, uns darüber zu freuen, daß er uns Ferien von beinahe vier Monaten verschaffte. Man weiß, wie rasch die Ereignisse sich folgten. Schon am 8. Juli waren die Preußen in Prag; die Hauptstadt Böhmens war unmittelbar vorher, um überflüssiges Blutvergießen zu vermeiden, zu einer offenen Stadt erklärt worden. Prag war eine gar zu altmodische Festung gewesen; der Feind hätte sie, wenn an Verteidigung gedacht worden wäre, sehr bequem zusammenschießen können.

Unsere Stadt wurde ein preußisches Truppenlager. Wir lernten vom Kriege nichts kennen als: Truppendurchmärsche, den Transport von Verwundeten, das Treiben eines Trosses von Frauenzimmern und die Cholera. Alle öffentlichen Gebäude Prags waren zu Hospitälern umgewandelt worden und alle Schulen; auch das Piaristengymnasium. Dort wütete die Cholera furchtbar unter den österreichischen und unter den preußischen Verwundeten. Dann griff die Seuche nach dem Kloster hinüber. Der Klatsch der niedern Bevölkerung war so ungerecht, das unmäßige Leben der Geistlichen für ihre Erkrankung verantwortlich zu machen. Viele von den Piaristen starben; auch unser Direktor und zwei meiner Lehrer.[70]

Als der Krieg und die Seuchen (auch der Typhus hatte geherrscht) vorüber waren, als am 1. Oktober das neue Schuljahr beginnen sollte, da setzte ich meinen Willen durch. Auf meine Weise, die ich nicht loben will. Ich ließ dem Vater von der Mutter die Gefahren schildern, die den Schüler in dem verpesteten Gebäude bedrohten; ich verschwieg, daß es in den andern Gymnasien nicht anders ausgesehen hatte. Auch wäre ich jetzt alt genug, um den weiten Weg nach dem Kleinseitner Gymnasium viermal täglich machen zu können. Mein Vater willigte ein und ich ging mich anmelden. Ich sehe noch das verwunderte Gesicht des Direktors, als ich ihm auf seine Frage nach dem Grunde des Wechsels unbefangen und treuherzig meine Geschichte erzählte. Das Piaristengymnasium wäre mir zu schlecht gewesen. Er wies mich zurecht und verlangte meine Zeugnisse zu sehen. Ich hatte sie alle mitgebracht, auch das mit der Zensur »zur Not genügend«. Der Direktor ließ mich eine Seite Livius übersetzen, schüttelte den Kopf und ich war in das Gymnasium meiner Sehnsucht aufgenommen. Das verdankte ich also Bismarck und seinem Kriege.

An dieser Stelle darf ich wohl einige Worte über unser jugendliches Verhältnis zu dem Deutsch-Österreichischen Kriege sagen. Selbstverständlich nicht meine jetzige Meinung, sondern die Auffassung des Gymnasiasten von noch nicht siebzehn Jahren. Da war nun keine Rede von irgendeinem Verständnis für den weltgeschichtlichen Vorgang oder auch nur von der Möglichkeit eines Verständnisses. Deutsche Geschichte der letzten Jahrhunderte lernten wir eigentlich nur als eine Geschichte der Habsburger. Die Schule ließ uns die Bedeutung der Revolutionen und die Macht der Nationalitätsidee[71] nicht ahnen; von der Einigung Italiens wußten wir nur, daß wir während des Krieges 1859 die Schulstunden mit Scharpiezupfen ausgefüllt hatten; ich kann versichern, daß wir vor dieser Tätigkeit niemals angehalten wurden, etwa unsere Hände zu waschen. Auch was wir im Elternhause von politischen Dingen erfuhren, lag weitab von den Einheitsidealen des deutschen Volkes. So zum Beispiel wußte ich mancherlei aus dem Jahre 1848: in der Speisekammer hingen die Waffen und die Uniform, die mein Vater als Nationalgardist getragen hatte; auch einen Personenkultus gab es: einer der Abgeordneten der Paulskirche, der schöne und gute Dichter Moritz Hartmann, war Hofmeister bei meinem Onkel gewesen. (Er hat den Namen meiner Familie in einer seiner Novellen durch den ihm vielleicht wohlklingendern »Kirchner« ersetzt.) Ich wußte aber auch von den Aufständen in Prag und in Wien und von den blutigen Greueln der Sieger. Mein Vater sprach niemals über solche Dinge; meine Mutter aber flößte uns Bewunderung für die Revolution ein und begründete ihre Gesinnung mit Schillerschen Versen. Nur daß damals in Frankfurt über ein einiges Deutschland beraten worden war, davon hatte ich keine Ahnung; solche Dinge erfuhr ich erst etwas später aus Heinrich Heine, mit gläubiger Andacht. Wir hatten also keine politische Stellung zum Kriege von 1866; nicht einmal großdeutsch waren wir. Wir hatten 1859 gedankenlos Scharpie gezupft, wir hatten 1864 gedankenlos »Schleswig-Holstein meerumschlungen« gebrüllt; jetzt wußten wir nur, daß die Preußen wieder eine österreichische Provinz erobern wollten wie damals unter Maria Theresia. Und daß ihnen diese Gemeinheit diesmal schlecht bekommen würde. Benedek[72] war der Feldherr unseres Herzens; wir kannten auch seinen geheimen Feldzugsplan. Für die Darstellung dieses Planes hatten wir uns eine sehr einfache und sehr hübsche Pantomime eingeübt. Wenn wir – die Verwegensten unter uns schon bei einer Zweikreuzerzigarre – über den wahrscheinlichen Ausgang des Krieges redeten, dann legte der fünfzehnjährige Sohn eines pensionierten Hauptmanns die beiden Handwurzeln zusammen, so daß die beiden Handflächen in einem stumpfen Winkel voneinander abstanden. Er tat das sehr geheimnisvoll; denn niemand durfte diesen geheimen Plan erfahren. Aber wir verstanden die Pantomime. So stellte sich Benedek auf und die dummen Preußen rückten in Eilmärschen in den stumpfen Winkel hinein; nun bog der strategische Hauptmannssohn langsam, langsam die Finger zusammen und die Preußen waren gefangen. Wir wollten sie übrigens nicht schlecht behandeln. Nur besiegt mußten die Preußen werden. Wir Österreicher mußten die Herren von Deutschland bleiben (wir glaubten, wir wären es), um zu Hause mit den Tschechen fertig werden zu können; ich habe seitdem, wenn irgendwo auf der Erde ein Krieg ausbrach, Rauchzimmerstrategen kennengelernt, die in ähnlicher Weise die geheimen Pläne ihres Lieblingsgenerals vortrugen; und ich fürchte, auch ich bin ab und zu so ein Stratege gewesen. Sobald ich nämlich Partei nahm.

Als nun die ersten Schlachten geschlagen waren, kam für kurze Zeit der Zorn der Besiegten über uns. Wir glaubten acht Tage lang alle Gräßlichkeiten, die uns über die Preußen erzählt wurden, aber wirklich nicht länger. Nach der Besetzung Prags besiegten uns die Preußen moralisch.

Als die Schlacht von Königgrätz geschlagen war und[73] der Einmarsch bevorstand, flüchteten die vermögenden Leute mit Söhnen und Töchtern aus der Stadt; die Töchter sollten vor Vergewaltigung durch viehische Soldaten geschützt werden, die Söhne vor der Rekrutierung durch die Preußen. Daß die jungen Mädchen fortgeschafft waren, erwies sich bald als recht wünschenswert; die Preußen hielten zwar bekanntlich musterhafte Mannszucht und die gemeinen Soldaten (größtenteils ältere Jahrgänge) waren durchaus gutartig, aber der Zuzug von käuflichen Frauenzimmern war so ungeheuer, daß die Straßen, Gärten und Inseln Prags in diesen Sommermonaten wirklich einen etwas babylonischen Anstrich bekamen. Das Gerücht, daß die Preußen Jünglinge und Knaben mit Gewalt in ihre Regimenter steckten (das Gerücht trat sehr sicher auf), glaubten wir nur wenige Stunden. Mein achtzehnjähriger Bruder und ich widersetzten uns der Flucht, als ein aufgeregter Onkel schon mit einem Wagen vor der Türe hielt, um uns zu retten. Wenige Tage später lernten wir die Preußen kennen und konnten über die Greuelmären lachen.

Ich erinnere mich noch, als ob es heute geschehen wäre, an den Einmarsch. Ich saß am frühen Morgen des 8. Juli mit einem Buche im Canalischen Garten, der etwa eine Viertelstunde vor dem Roßtore lag und durch eine Mauer von der Heerstraße getrennt war. Ich saß lesend auf einer Bank. Plötzlich höre ich Pferdegetrampel und Kommandorufe. Die österreichische Garnison hatte Prag seit einer Woche verlassen; auch klangen die Kommandorufe fremdartig. Ich kletterte auf die Mauer und zwei Schritte vor mir stand ein Trupp preußischer Husaren; dahinter Artillerie und weiter Infanterie. Ein Offizier, der eine Landkarte in der Hand[74] hielt, rief mir die Frage zu, wie weit es noch bis zum Stadttor wäre. Schnell gab ich Auskunft und habe mich damit hoffentlich keines Landesverrates schuldig gemacht. Dann rannte ich spornstreichs durch den Garten nach dem Roßtor, um dabei zu sein.

Der Einmarsch vollzog sich in Formen, die sicherlich vorgeschrieben waren. Wir waren töricht genug, darüber zu staunen und sogar zu spotten, daß keine Vorsicht des Krieges gegen das friedliche Prag außer Acht gelassen wurde. Die Preußen konnten ja nicht wissen, daß es einen totbereiten österreichischen Patriotismus in Prag nicht gab, weder bei den Deutschen, noch bei den Tschechen. So sahen wir die Feinde in kriegerischer Haltung, die Hand an dem gespannten Hahn, durch die dunkle Wölbung des Roßtors auf den Roßmarkt (jetzt: Wenzelsplatz) einreiten, sahen sie dann mit der bekannten »affenartigen Geschwindigkeit'' die Hauptstraßen besetzen1. Noch tagelang beobachteten wir, wie die Soldaten in der Hauptstadt der eroberten Provinz sich's behaglich[75] machten in Bierkneipen, in Cafés plaudernd, essend und trinkend truppweise beisammen saßen, das berüchtigte Zündnadelgewehr immer in der Hand. Unvergeßlich ist mir der Anblick einer solchen Szene im Landestheater; es wurde ja weiter gespielt und unsere Sperrsitze standen meinem Bruder Gustav und mir jedesmal zur Verfügung, weil doch mein älterer Bruder Ernst und unsere Schwester gleich nach Ausbruch des Krieges nach Wien »geflüchtet worden« waren; den preußischen Offizieren waren die Fauteuils eingeräumt, den übrigen Soldaten die erste Galerie. Dort saßen und standen preußische Landwehrmänner dicht gedrängt, lachten aus vollem Halse über die Posse, die gespielt wurde; und jeder hielt seine Flinte in der Hand und viele unterstützten ihr Beifallrufen, indem sie mit dem Kolben auf den Boden trommelten.

Es war nicht eben verwunderlich, machte auf uns Knaben aber dennoch einen seltsamen Eindruck, daß in diesen Kriegswochen fast ausschließlich Possen gespielt wurden. Natürlich. Ich erinnere mich, daß zwischen 1864 und 1866 wohl einmal eine politische Komödie über die Bretter ging, daß da Schleswig-Holstein, meerumschlungen, aus der Hand des bösen Bismarck, der leibhaftig auf der Bühne erschien, gerissen werden sollte. Nicht einmal so etwas gab es 1866, um die Kampflust der Österreicher zu reizen. Es gab kaum in Deutschland, gewiß nicht in Österreich, eine patriotische Dramaturgie. Und daß die preußischen Truppen weniger nach Tragödien verlangten als nach Possen, war ja wirklich auch den Gebildeten unter ihnen nicht zu verdenken. Sie bekamen eine recht gute Nachahmung der berühmten Wiener Volksbühne zu sehen und zu hören. Auch zu hören. Die herrschende Mundart des[76] Prager Landestheaters war in Possen durchaus wienerisch; auch einige Tschechen und unser erster Komiker, der vortreffliche Eichenwald, der aus Norddeutschland stammte, mußten wohl oder übel Wienerisch reden. Und gerade in den ersten Wochen nach der Okkupation gab es gar ein Gastspiel des berühmten Matras aus Wien. Die Preußen konnten in Prag Offenbachs »Orpheus in der Unterwelt« in einer ganz vorzüglichen Darstellung genießen. Den Höhepunkt der Theaterfreude bildete jedoch die Aufführung einer Berliner Posse, der »Maschinenbauer von Berlin«. Eichenwald selbst war glücklich, seine Berliner Schnauze gehen lassen zu können und die übrigen bemühten sich nach Kräften um eine norddeutsche Aussprache. Und als in einem der Couplets gar die Definition einer Köchin lautete: »eine Kommißbrot-mit-Leberwurst-Belegungs-Maschine«, da blickten die Leutnants von ihren Fauteuils lachend nach der Galerie, wo die preußischen Soldaten in ihrem verständnisinnigen Behagen Beifall tobten, daß das Haus wackelte.

Ein ganz anderes kleines Theatererlebnis hat sich meiner Erinnerung eingeprägt. Es war wenige Tage nach dem Einmarsch. Kaiser Franz Josef hatte einen Aufruf »An meine Völker« erlassen, in welchem – wenn mir recht ist – die Niederlagen zugestanden wurden und schon vom möglichen Frieden die Rede war. Dieses Blatt war von den Preußen mit Beschlag belegt worden. Im Theater aber, wo sich unsere Plätze dicht hinter den Fauteuils befanden, drehte sich ein hübscher junger Offizier während des Zwischenaktes um und reichte mir den Aufruf mit einer Miene, die man verbindlich nennen konnte, die aber vielleicht doch ein bißchen spöttisch war. Ich las den Aufruf im Zwischenakte[77] durch und schämte mich fürchterlich, weil der Offizier mich für ungefährlich genug hielt, um mir das konfiszierte Blatt zu geben.

Unsere Gefühle gegen die Preußen waren anfangs aus Neugier und Haß gemischt. Wir liefen überallhin, wo sie zu sehen waren und flüsterten einander dann unsere kindischen Urteile zu. Wir fanden es »feige«, daß die Sieger keine Waffen in den Häusern duldeten; zu meinem großen Schmerze mußte ich den wuchtigen Nationalgardistensäbel des Vaters (den aus dem Jahre 1848) auf dem Rathause abliefern. Dann lasen wir einander das Plakat vor, in welchem vorgeschrieben war, wieviel an Nahrungsmitteln jeder Mann der Einquartierung zu fordern hatte. Das Schlagwort »Hungerpreuß« war auch zu uns gedrungen. Wir nahmen uns vor, die Preußen zu verachten um ihrer Feigheit und um ihrer Gefräßigkeit willen.

Aber noch waren nicht viele Tage vergangen und wir Prager waren, ich habe kein anderes Wort, in die Preußen verliebt. Wie diese bärtigen Landwehrleute in gestickten Pantoffeln vor den Haustüren saßen und mit den Kindern ihrer Wirtsleute spielten, das wurde uns ein unerwartetes und freundliches Erlebnis. Eine Ungebühr kam nicht vor. Von überall hörte man, daß die einfachen Soldaten nicht einmal streng einforderten, was ihnen nach dem Befehl zukam; sie aßen und tranken mit ihren Wirten, was die Kelle gab; dem einen ging es besser, dem andern schlechter, aber alle schienen zufrieden. Wenn ich meiner Erinnerung trauen darf, so waren die Tschechen in die preußischen Landwehrleute fast ebenso verliebt wie wir. Vielleicht kam bei den Tschechen dazu, daß sie bei dem großen Kriegsbrande ihre politische Suppe zu kochen hofften: Österreich[78] hätte in Deutschland nichts mehr zu suchen, also könnte es zwischen Magyaren und Slawen aufgeteilt werden. Sicherlich kam ferner dazu, daß der Krieg so rasch sein Ende erreichte; Freund und Feind waren froh, einander wieder menschlich begegnen zu können. Blutdurst ist ja doch nicht der Normalzustand der Menschen. So viel kann ich bezeugen: von Revanchegelüsten war vier Wochen nach der Schlacht von Königgrätz im Volke nicht mehr die Rede.

Wir deutschen Gymnasiasten hatten viel zu sehen und zu hören, als die Preußen nach Beginn der Friedensverhandlungen sich's in Prag bequem einrichteten und wie zu Hause exerzierten. Da gab es etwas, was uns, mich und meinen kleinen Kreis, jedesmal elektrisierte. Trommeln und Pfeifen war der kriegerische Klang, der uns bisher unvorstellbar aus der deutschen Dichtung entgegengetönt hatte. In der Schule freilich hatten wir von der deutschen Dichtung so gut wie nichts erfahren; wußten auch nicht, daß die deutsche Dichtung noch vor wenigen Jahrzehnten das einzige einigende Band Deutschlands gewesen war; wußten nicht, was die Regierung gar wohl fühlte, daß die Begeisterung für die großen deutschen Dichter und auch die Liebe zu Heine und Uhland uns zu Deutschen gemacht hatte. Wie der Kerl bei Molière Prosa sprach, ohne es zu wissen, so waren wir Deutsche, ohne es zu wissen. In der Schule war uns größtenteils glatter Mist oder pedantisches Zeug empfohlen worden; wir aber hatten den Tell gelesen, den Götz und den Egmont. Trommeln und Pfeifen gehörten für uns zu den Freiheitskämpfen der Niederlande wie zu den Schlachten Friedrichs des Großen. Wie mag diese Musik geklungen haben? Jetzt erfuhren wir's. Für meinen kleinen Kreis wurde der[79] Klang von Trommeln und Pfeifen der preußischen Infanterie zum Symbole eines neuen deutschen Nationalgefühles. Es war verrückt, aber es war so. Besonders der Dessauer Marsch machte uns wirblig, ich weiß nicht mehr warum. Er erklärte uns auf einmal die Weltgeschichte. Es ist mir heute noch nicht zum Lachen, wenn ich daran denke, wie wir einmal – drei oder vier Freunde – hinter einem Bataillon herzogen, immer in der Hoffnung, von den Pfeifen den Dessauer Marsch zu vernehmen und die Trommeln dazu. Und als endlich jenseits von Libussas Burg die himmlische Melodie wirklich einsetzte, da heulten wir vor Wonne; das heißt, wir gestanden uns unsere Tränen nicht zu und schlichen uns in den Schloßgarten von Nusle und fühlten uns deutsche Helden, Schill oder Andreas Hofer oder Hermann den Cherusker, und tranken zum ersten Male in einem öffentlichen Lokal Bier, aus großen Krügen. In solcher Stimmung mochte Karl Moor seine Räuberbande gebildet haben. Wir wußten, wie tapfer wir waren; auch war ja Krieg und keiner unserer Lehrer konnte uns sehen. Und wenn auch ... Solange die Pfeifer den Dessauer Marsch bliesen, solange waren wir sicher, aus Deutschland eine Republik machen zu können, gegen die Sparta und Rom Nonnenklöster gewesen waren. Einer von uns hatte den verwegenen Gedanken, der Kellnerin die Hand küssen zu wollen; es geschah nicht; aber schon der Gedanke war kühn und herrlich gewesen und mochte irgendwie mit dem Dessauer Marsch zusammenhängen.

So wurden wir durch die Erlebnisse des Jahres 1866 aus unserm nationalitätslosen Österreichertum und aus unserm kosmopolitischen Liberalismus aufgerüttelt; und wenn man uns bald darauf auf unsere politische[80] Gesinnung geprüft hätte, so wäre ungefähr herausgekommen: Deutschlands Einheit und Freiheit, aber ohne Preußen. Oder: der König von Preußen sollte die Sache machen und dann großmütig zurücktreten. Wir sahen zur Zeit des Friedensschlusses Bismarck und den König Wilhelm; sie gefielen uns so gut, daß wir ihnen eine so edle Gesinnung zutrauten.

Die Gestalt des Königs Wilhelm ruft eine kleine Geschichte in mein Gedächtnis zurück, die ich hier einschalten möchte. Der Vater meiner Mutter, der ein seltenes Alter erreichen sollte und damals schon nahe an hundert Jahre alt war, flüchtete aus Horzitz, als das Städtchen unmittelbar vor der Schlacht bei Königgrätz von preußischen Heeresmassen überflutet worden war; in seinem eigenen Hause war eine Ambulanz eingerichtet worden und solche Dinge liebte er nicht. Er gelangte fast ohne Abenteuer nach Prag und zu uns. Ich war ihm als Schlafgenosse zugeteilt und er erzählte mir viel aus seinen zivilistischen Kriegserinnerungen, wobei es dem alten Herrn, der beim Plaudern oft für einige Minuten einnickte, einmal passierte, daß er den Einmarsch der Preußen in Horzitz schilderte und dann plötzlich – nach einem kurzen Einnicken oder »Knappen« (wie er's nannte) – von einer Truppenrevue Napoleons bei Dresden oder bei Leipzig weitersprach. Als nun König Wilhelm und Bismarck in Prag angekommen waren, wollte mein Großvater die beiden Männer sehen. Ich begleitete ihn vor den Gasthof zum Blauen Stern, wir faßten Posto neben dem alten Pulverturm und da harrte der steinalte Mann an die zwei Stunden aus. Endlich kam ein Wagen aus dem Gasthof heraus, König Wilhelm und Bismarck fuhren an uns vorüber. Mein Großvater, für den es nicht leicht einen alten Mann gab, versetzte[81] mir einen Puff zwischen die Rippen, wies auf den König und sagte mit Überzeugung: »Ein prächtiger junger Mann!« Der König stand in seinem siebzigsten Jahre. Etwa zwanzig Jahre später ließ sich Kaiser Wilhelm in Ems die kleine Geschichte von einem Herrn seiner Umgebung, der sie von mir erfahren hatte, erzählen und freute sich des impulsiven »Kompliments«; freute sich noch mehr, zu hören, daß ein Mann in voller Rüstigkeit über hundert Jahre alt werden konnte.

Am nächsten Morgen, als ich mir mein Glas Kränchenbrunnen holte, trat der General-Adjutant an mich heran. Die erste Frage des Kaisers wäre gewesen: wie alt dieser Mann geworden sei. – Ich mußte antworten, wir wüßten das selbst nicht bestimmt; nach einer bescheidenen Rechnung 104 Jahre, nach einer anderen, die übrigens meine Mutter als die richtige annahm, 111 Jahre. – Und ob es wahr wäre, daß dieser Mann noch eine halbe Stunde vor seinem Tode Karten gespielt hätte. – Das konnte ich bestätigen. – »Ich werde also sagen, daß er 111 Jahre alt geworden ist und noch eine halbe Stunde vor seinem Tode einen Grand mit Vieren gemacht hat. Das freut Majestät.«

Zur Zeit der Prager Friedensverhandlungen hatte ich endlich doch eine bessere Gelegenheit, diese merkwürdigen Preußen kennenzulernen, als im Theater oder auf der Straße. Ich durfte den Erzählungen der Verwundeten zuhören. Mein Schwager, vielmehr damals nur erst der Verlobte meiner Schwester, hatte die Leitung eines kleinen Privathospitals übernommen, das ein wohlhabender Fabrikant – wie viele seinesgleichen – für etwa ein Dutzend Verwundeter eingerichtet hatte. Selbstverständlich wurden Preußen und Österreicher[82] aufgenommen, wie es sich eben traf. Das Hospital befand sich hart an der Stadtmauer, nicht weit von dem sagenberühmten Wyschehrad. Mein Schwager, der seinen ärztlichen Beruf mit Hingebung und einer besonderen Begabung ausübte, nahm mich mehr als einmal zu den Verwundeten mit. Es war kein schwerer Fall darunter. Ich durfte einige kleine Handreichungen leisten und sogar für einen jungen Unteroffizier, dem eine preußische Kugel just mitten durch einen Finger der rechten Hand hindurchgegangen war, Briefe schreiben. In diesem Hospitale ging es sehr gemütlich zu; niemand schien daran zu denken, daß man noch vor wenigen Tagen aufeinander scharf geschossen hatte. Höchstens daß ein Österreicher, ein wilder Schlesier, unaufhörlich auf die Regierung schimpfte, die von den preußischen Hinterladern gewußt haben mußte und dennoch ihre Leute mit den veralteten Vorderladern dem Feinde entgegengestellt hätte. Dem Manne war eine Kugel durch den Hals gegangen, hart an der Schlagader vorüber. Ein Preuße neckte ihn damit, die größere österreichische Kugel hätte ihn gewiß umgebracht; dann läge man nicht so freundlich nebeneinander. Derselbe Preuße hatte während der wenigen Tage des Feldzugs slawische Sprachstudien gemacht; er wußte nicht nur wie alle Preußen »heská holka« (hübsches Mädchen) und »dej mně hubicku« (gib mir einen Kuß) nachzusprechen; er erzählte auch, daß in jedem Dorfe ein Hostineck wäre, ein Wirtshaus. Ich belehrte ihn, das Wort hostinec würde Hostinetz ausgesprochen. Da kam ich aber gut an. »Hostineck heißt es. Das hat mir mein Leutnant selber gesagt. Und mein Leutnant wird das doch besser wissen, als so ein Prager Grünschnabel.« Und ich konnte mich nicht einmal ärgern. Es tat so[83] wohl, diese Menschen mit Achtung von ihren Vorgesetzten sprechen zu hören. Da steckte irgendein Unterschied dahinter, ein Unterschied zwischen dem österreichischen Raunzen und dieser freien Freude am Staate. Ich habe erst sehr viel später einige Vorzüge der österreichischen raunzenden Schlamperei und einige Nachteile der preußischen schneidigen Staatsfreudigkeit gegeneinander abwägen gelernt.

1

Ich habe meine Darstellung stehen lassen, trotzdem ich nach der ersten Veröffentlichung dieses Stücks in einigen geharnischten Zuschriften (der Prager »Bohemia«) darauf gestoßen wurde: der erste Einzug der Preußen hätte am genannten Tage nicht durch das Roßtor, sondern durch das Porzitscher Tor stattgefunden; ich hätte offenbar einen späteren Einmarsch beobachtet. Ich zweifle nicht daran, daß die heftigen Einsender im Rechte sind. Ich lasse meinen Irrtum dennoch stehen, als ein Beispiel für die bekannte Unsicherheit ehrlicher Zeugenaussagen. Ich könnte heute noch darauf schwören, daß die vom Roßtor die ersten Preußen waren, die nach Prag kamen. Wenigstens die ersten, die mir zu Gesichte kamen. Wahrscheinlich rückte gleichzeitig mit der Haupttruppe, die am Porzitscher Tor feierlich vom Bürgermeister und vom Erzbischofe begrüßt und um Schonung der Einwohner angefleht wurde, meine kleine Abteilung durch das östlicher gelegene Roßtor ein. Sollte dem nicht so gewesen sein, so hätte ich einfach mit dem besten Gewissen eine falsche Zeugenaussage abgegeben; über einen unwesentlichen Nebenumstand. Und ich habe meine Darstellung nicht verändert, damit sie an die Möglichkeit erinnere, daß im Gerichtsale beim Streite um ein Menschenleben, daß beim Urteile über wichtigere Ereignisse leicht falsche Aussagen behauptet und beschworen werden können.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 70-85.
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