19. Von der Natur

[126] Es sagen unsere Meister, alles was erkannt wird oder geboren wird, ist ein Bild, und sie sagen folgendes: Wenn der Vater seinen eingeborenen Sohn gebären soll, so muss er sein in ihm selbst bleibendes Bild gebären, das Bild in dem Grunde, so wie es von Ewigkeit in ihm gewesen ist, formae illius, das heisst seine ihm selbst bleibende Form. Dies ist eine Naturlehre, und es dünkt mich recht unbillig, dass man Gott mit Gleichnissen, mit diesem oder jenem, aufzeigen muss. Dennoch ist er weder dies noch jenes, und damit begnügt sich der Vater nicht, sondern er zieht sich zurück in die Erstheit, in das Innerste, in den Grund und in den Kern der Vaterschaft, wo er ewig drinnen gewesen ist, in sich selbst in der Vaterschaft und wo er sich selbst verzehrt als Vater seiner selbst in dem einig Einen. Hier sind alle Grasblättlein und Holz und Stein und alle Dinge eins. Dies ist[126] das Allerbeste und ich habe mich ganz darein vernarrt. Darum fügt die Natur alles was sie leisten kann da hinein, das stürzt alles in die Vaterschaft, auf dass sie eins und ein Sohn sei und all dem andern entwachsen und allein in der Vaterschaft sei, und dass sie, wenn sie nicht darein sein könne, doch wenigstens ein Gleichnis des Einen sei. Die Natur, die von Gott ist, sucht nichts, was ausserhalb von ihr ist, ja, die Natur, wie sie in sich ist, hat nichts mit der Farbe zu tun, denn die Natur, die von Gott ist, die sucht nichts anderes als Gottes Gleiches.

Ich überlegte mir heute Nacht, dass nur Gleiches aufeinander wirken kann. Ich kann kein Ding sehen, das mir nicht gleich ist, und ich kann kein Ding erkennen, das mir nicht gleich ist. Gott trägt alle Dinge verborgen in sich selbst, aber nicht in dies oder das unterschieden, sondern eins in Einheit Das Auge hat auch Farbe in sich, das Auge empfängt die Farbe, und das Ohr nicht. Das Ohr empfängt das Getön und die Zunge den Geschmack. Es hat jedes das, mit dem es eins ist. Demnach hat das Bild der Seele und Gottes Bild ein Wesen: da wir Gottes Kinder sind. Und selbst wenn ich weder Augen noch Ohren hätte, so hätte ich doch noch das Wesen. Ich habe öfters gesagt: die Schale muss zerbrechen,[127] und was darinnen ist, muss herauskommen: denn willst du den Kern haben, so musst du die Schale zerbrechen. Und wenn du daher die Natur nackt finden willst, so müssen die Gleichnisse alle zerbrechen, und je weiter man hineintritt, um so näher ist man dem Wesen.

Vor ein paar Jahren war ich nichts; nicht lange nachher ass mein Vater und meine Mutter Fleisch und Brot und Kraut, das im Garten wuchs, und davon bin ich ein Mensch. Das konnte mein Vater oder meine Mutter nicht bewirken, sondern Gott machte meinen Körper unmittelbar und schuf meine Seele nach dem Allerhöchsten. Demnach besass ich mein Leben selbst (possedi me). Dies Korn zielt auf den Roggen ab, dem wieder liegt es in der Natur, dass er Weizen werden kann, darum ruht er nicht, bis er eben diese Natur erreicht. Dies Weizenkorn hat es in der Natur, dass es alle Dinge werden kann, darum geht es in sich und begibt sich in den Tod, auf dass es alle Dinge werde. Und dies Erz ist Kupfer, das hat in seiner Natur, dass es Gold werden kann, darum ruht es nicht, bis es eben diese Natur erreicht. Ja dies Holz hat in seiner Natur, dass es ein Stein werden kann; ich sage noch mehr, es kann wohl alle Dinge werden, es löst sich in ein Feuer und lässt sich verbrennen, damit es[128] in die Feuernatur verwandelt werde, und es wird eins dem Einen und hat ewig dieselbe Natur. Ja, Holz und Stein und Bein und alle Grashalme haben allesamt ein Wesen in der Erstheit. Und tut diese Natur das, was tut dann erst die Natur, die da so nackt in sich selbst ist, die da weder dies noch das sucht, sondern sie entwächst allem Anderssein und läuft alleins zur reinen Erstheit.[129]

Quelle:
Meister Eckharts mystische Schriften. Berlin 1903, S. 126-130.
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