Erstes Buch1

Die Aussen-Erzählung2

Es gibt im Lande der Griechen3 eine grosse Handelsstadt namens Sāgala4, in herrlicher Lage zwischen Flüssen und Bergen, ein entzückender Fleck Erde. Trefflich angelegt sind ihre Strassen, Kreuzwege, Plätze und Märkte, und sie ist geschmückt durch hundert und tausend wie Gipfel des Himālaya in die Höhe ragende, prächtige Häuser. Von Elefanten, Rossen, Wagen und Fussgängern sind die Strassen gefüllt, Scharen schöner Männer und Frauen wandern auf und ab, und Krieger sieht man und Priester und Handwerker und Diener: ein Gewimmel von Menschen aller Stände. Auch mancherlei Çramanen5 und Brāhmanen hört man einander begrüssen. Denn die Stadt ist ein Sammelpunkt von Philosophenhäuptern aller Art.

Dort6 in Indien in der Stadt Sāgala herrschte ein König namens Menandros, ein gelehrter, redegewandter, einsichtiger, fähiger Monarch, der stets darauf bedacht war, alle Vorschriften seines Glaubens, sie mochten sich auf Vergangenes, Zukünftiges oder Gegenwärtiges beziehen, zur rechten Zeit auszuführen. Viele Lehrbücher und Wissenschaften hatte er studiert: die heilige Schrift, das Gesetz, Sāmkhya, Yoga, Nyāya, Vaiçeshika7, Arithmetik, Musik, Medizin, die vier Veden, die Purānen,[3] die Erzählungen, Astronomie, Zauberei, Prophetie, Beschwörungen, Kriegskunst, Poetik, Urkundenlehre, – in einem Wort, alle neunzehn8. Als Disputant war es schwer, ihm gleichzukommen, schwer, ihn zu besiegen, und den Schulhäuptern galt er als die höchste Autorität. In ganz Indien war niemand, der dem König Menandros glich, auch nicht in Kraft, Schnelligkeit und Mut. Dazu war er reich an Geld und Gütern, und Heere ohne Ende waren seines Befehls gewärtig.

Eines Tages nun gelüstete es den König Menandros, die ausserordentlich starke vierfache Schlachtreihe9 seines Kerntruppenheeres zu mustern, und er begab sich hinaus vor die Stadt. Und als er draussen die Heerschau abgehalten hatte, da sprach der König, der Redeturniere liebte und begierig war, mit einem 10Kasuisten, Sophisten oder dergleichen in einen Disput einzutreten, mit einem Blick auf die Sonne zu seinen Ministern: »Noch ein grosser Rest des Tages ist übrig; was sollen wir beginnen, wenn wir jetzt in die Stadt kommen? Gibt es nicht irgend einen gelehrten Çramanen oder Brāhmanen, ein Schulhaupt, Ordenshaupt oder einen Ordenslehrer, und sollte er zum verehrenswerten, höchsten Buddha sich bekennen, der mit mir diskutieren und meine Zweifel lösen kann?«

Zu jener Zeit nun war der, als Schulhaupt, Ordenshaupt und Ordenslehrer bekannte, berühmte und weithin hochgeschätzte ehrwürdige Nāgasena, der damals in der Begleitung seiner Çramanenschar predigend und Almosen sammelnd durch die Dörfer, Städte und Residenzen wanderte, gerade bei der Stadt Sāgala angekommen und hielt sich dort mit seinen zahllosen Mönchen in der Sankheyya-Einsiedelei auf. Er war[4] im Besitz der höchsten Weisheit, vollkommen vertraut mit der heiligen Überlieferung, Herr der höheren Geisteskräfte11. Die Lehre des Meisters (Buddhas) in ihren neun Teilen12 wusste er vollkommen13 auswendig und gleich befähigt war er, im Worte des Ueberwinders (Buddhas) den tieferen Sinn und die äussere Lehre zu erfassen. Unerschöpflich waren seine Einfälle aller Art, wechselreich seine Rede, schön seine Sprache, und schwer war es, mit ihm Schritt zu halten, schwer, ihn zu übertreffen, schwer, ihm zu antworten, schwer, ihm zu widersprechen, schwer, ihn abzubringen von seinem Ziel. Unerschütterlich wie der Ozean, standhaft wie der König der Berge (der Himālaya): so schlug er seine Schlachten (gegen die Zweifler), die Finsternis zerstreuend, Licht verbreitend. Den Weisen und Verständigen, die mit willigem Ohr zu ihm kamen, erklärte er das neunfache Juwel der Buddha-Lehre, zeigte er den Weg der Wahrheit, brachte er die Fackel der Wahrheit. Und wie mit Löwengebrüll und dem Donnern Indras, und doch mit lieblich klingender Stimme brachte er volle Sättigung aller Welt durch die, von den trefflichen Blitzen seines Wissens umringte, das Wasser des Mitleids tragende, grosse Nirvāna-Wolke der Wahrheit.

Und Devamantiya sprach zum König Menandros: »Freilich, Grosskönig, freilich. Da ist, o Grosskönig, ein Senior14 namens Nāgasena, ein gelehrter, beredter, weiser, zurückhaltender, selbstbewusster Mann, ein Meister der Rede, nie verlegen um eine treffende Antwort, im vollendeten Besitz15 der höheren Geistesfähigkeiten: den Sinn, den Gehalt, den Ursprung und die wirksame Auslegung des Wortes zu erkennen16. Der[5] hält sich jetzt in der Sankheyya-Einsiedelei auf. Geh, o Grosskönig, und lege dem ehrwürdigen Nāgasena deine Frage vor. Der ist fähig, mit dir zu diskutieren und deine Zweifel zu lösen.«

Kaum hatte der König Menandros den Namen Nāgasena gehört, da ergriff ihn Furcht und Verwirrung, und die Haare seines Körpers sträubten sich17. Aber er fragte Devamantiya: »Sage, mein Lieber, ist der Mönch Nāgasena wirklich imstande, mit mir zu diskutieren?«

»Der kann, o Grosskönig, sogar mit den Wächtern der Welt: mit Indra, Yama, Varuna, Kuvera, Prajāpati, Suyāma und Santushita und selbst mit dem grossen Vater der Welt, dem grossen Brahman, diskutieren18, wie viel leichter mit einem menschlichen Wesen!«

Darauf sprach der König Menandros zu Devamantiya: »So schicke denn du, Devamantiya, einen Boten zu Hochwürden.«

»Sehr wohl, Majestät,« sprach Devamantiya und liess einen Boten dem ehrwürdigen Nāgasena bestellen: »Der König Menandros, o Meister, wünscht den Ehrwürdigen zu sehen.«

Und der ehrwürdige Nāgasena erwiderte: »So möge er kommen.«

Und der König Menandros, begleitet von seinen fünfhundert Griechen, bestieg seinen Staatswagen und zog mit einem grossen Gefolge zur Sankheyya-Einsiedelei, wo der ehrwürdige Nāgasena weilte.

Zu der Stunde sass gerade der ehrwürdige Nāgasena in der Gesellschaft seiner zahllosen Mönche in der offenen Halle vor der Einsiedelei19. So erblickte der König Menandros die um den ehrwürdigen Nāgasena versammelte Gesellschaft schon von weitem und sprach[6] zu Devamantiya: »Wer ist es denn, Devamantiya, der dieses grosse Gefolge hat?«

»Das ist, o Grosskönig, das Gefolge des ehrwürdigen Nāgasena.«

Da ergriff den König Menandros, während er das Gefolge des ehrwürdigen Nāgasena von weitem sah, Furcht und Verwirrung, und seine Körperhaare sträubten sich. Es war ihm zu Mute wie dem Elefanten, dem ein Nashorn in den Weg tritt, wie dem Frosch, den eine Schlange, wie dem Reh, das ein Panther verfolgt, wie der Schlange vor ihrem Beschwörer, wie der Ratte, mit der die Katze spielt, wie der Schlange im Korb, dem Vogel im Käfig, wie einem Gott, dessen Götterdasein zu Ende geht20.

Aber trotz seiner Furcht, Angst, Aufregung, Qual, Verwirrung, Betrübtheit und Mutlosigkeit dachte er: »Diese Leute sollen mich nicht verachten« und sprach zu Devamantiya: »Du brauchst mir, Devamantiya, den ehrwürdigen Nāgasena nicht zu zeigen. Ich werde ihn von selbst herausfinden.«

»Wohl, Grosskönig, suche ihn herauszufinden«.

Nun war der ehrwürdige Nāgasena als Mitglied des Ordens jünger als die vor ihm sitzende Hälfte jener grossen Schar von Mönchen, dagegen älter als die hinter ihm sitzende Hälfte. Und während der König Menandros über jene ganze Mönchsversammlung von vorne nach hinten und über die Mitte sein Auge schweifen liess, da erblickte er aus der Ferne den ehrwürdigen Nāgasena, wie er inmitten seiner Mönchsgemeinde dasass, einem zottigen Löwen gleich, dem alle Furcht und alles Erschrecken, alles Haarsträuben, alle Angst und Schüchternheit vollkommen fremd sind.[7] Und als er ihn erblickt und an seinem Äusseren als Nāgasena erkannt hatte, da sprach der König Menandros zu Devamantiya: »Fürwahr, Devamantiya, der da ist der ehrwürdige Nāgasena.«

»Ja, Grosskönig, das ist Nāgasena. Gut hast du, Grosskönig, Nāgasena herausgefunden.«

Da freute sich der König, dass er ohne Hilfe Nāga sena entdeckt hatte. Aber zugleich ergriff den König Menandros, als er den ehrwürdigen Nāgasena ins Auge gefasst hatte, Furcht und Verwirrung, und die Haare seines Körpers sträubten sich. Und so heisst es im Liede21:


»Als den tugendsamen und weisen,

höchster Zucht sich erfreuenden

Nāgasena sah der König,

diese Rede entfuhr ihm da:

›Philosophen sprach ich gar viele,

viele Reden auch führte ich:

Niemals solche Furcht ergriff mich,

wie sie heute mich überkommt.

Niederlage, das ist sicher,

hat das Schicksal mir heut bestimmt

Und den Sieg dem Nāgasena.

Denn nicht fassen kann sich mein Herz.‹«


Ende der äusseren Erzählung.[8]

Quelle:
Die Fragen des Königs Menandros. Berlin [1905], S. 3-9.
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