Einleitung.

Mit dem Zuge an den Jaxartes und der Einrichtung der nördlich an Baktrien grenzenden transoxianischen Mark (zwischen Syr und Amu) hatte Alexander der Grosse die Besitzergreifung des Perserreiches vollendet. Aber seine Eroberungsgelüste waren bei weitem noch nicht gestillt, vielmehr durch die grossen Erfolge erst recht rege geworden, und so richtete er, durch eine Bitte des Fürsten von Taxila (Takshaçilā) veranlasst, seinen begehrenden Blick auf Indien und begann nach grossen Vorbereitungen im Frühjahr 327 mit ca. 100000 Mann (grösstenteils Asiaten) von Baktra aus den Feldzug nach dem alten Wunderland. Nichts Geringeres hatte der König im Sinn, als das ganze Land, von dessen Ausdehnung man offenbar nur eine schwache Vorstellung hatte, bis an die Grenzen des Ostmeeres unter sein Szepter zu bringen. Dieser Plan gelang nun freilich nicht. Nach der Eroberung des Kophen-(Kabul-) Gebietes und der Besiegung des tapferen[7] Poros (Paurava) war die Erstürmung und Zerstörung von Sangala (indisch Sāgala) die letzte grosse Waffentat Alexanders auf seinem Zuge gen Osten. Nur wenig weiter, bis an den Hyphasis (etwas jenseits des heutigen Lahore), folgten ihm noch die Truppen: dann forderten die Makedonen die Umkehr, und der grosse König musste sich fügen. Er ging an den Akesines zurück, liess eine Flotte erbauen, wie die Inder sie noch nicht gesehen, und fuhr, von Landheeren begleitet, den Indus abwärts bis zum Ozean, alle anwohnenden Völker, soweit sie sich nicht freiwillig unterwarfen, durch Waffengewalt bezwingend. Der Schluss war der schreckliche Marsch durch die gedrosische Wüste im heutigen Belutschistan, von dem nur der vierte Teil des Heeres mit Alexander nach Pura und weiter nach Susa gelangte, und die nicht minder schreckliche Seefahrt des Nearchos, während Krateros, glücklicher als jene beiden, vorschriftsmässig durch Arachosien und Drangiane die Heimkehr bewerkstelligte.

Das Ergebnis des indischen Feldzuges war, dass dem Reiche drei neue Provinzen gewonnen waren: 1) das »diesseitige Indien«, das von dem schon früher unterworfenen, im Norden an Baktrien grenzenden Paropanisadenland an längs des Kabul-Flusses bis zum oberen Indus sich erstreckte; 2) das »jenseitige Indien«, von den Hängen des Himālaya nach Süden bis an die Mündung des Akesines (Pandjnad) in den Indus reichend, im Osten durch den Hyphasis (Vjāsa) begrenzt, im Westen durch den Oberlauf des Indus vom »diesseitigen Indien« und weiterhin durch die Gebirge hinter dem rechten Indus-Ufer von der Satrapie[8] Arachosien getrennt; 3) das Gebiet des unteren Indus von der Akesines-Mündung bis zum Meer.

In allen drei Ländern waren hellenistische Städte gegründet und beträchtliche Teile des Heeres zurückgelassen worden. Die Verwaltung führten makedonische Satrapen, doch nicht überall in gleichem Umfange, da eine Reihe einheimischer Fürsten in ihren Reichen belassen worden war. Unter diesen war der mächtigste der greise Poros, dessen Reich Alexander bedeutend erweitert hatte: es bildete jetzt das Kerngebiet des Siebenstromlandes.

Der grosse König war noch nicht gestorben, da begannen schon die Unruhen in den indischen Satrapien. Sie führten zunächst dazu, dass nach dem Tode Alexanders König Poros als Verwalter nicht nur seines bisherigen Reiches, sondern auch noch der Satrapie des unteren Indus anerkannt werden musste (Teilungsurkunden von Babylon und Triparadeisos). Zwar fiel kurz darauf der König durch die Hand eines Meuchelmörders, den der Stratege Eudemos gedungen hatte. Aber mit der makedonischen Herrschaft war es jetzt doch vorbei, und fast anderthalb Jahrhunderte sollte es dauern, bis Hellas sich noch ein zweites und letztes Mal in Indien festsetzte.

Gleich nach der Ermordung des Poros nämlich, und wohl durch diese veranlasst, erhob ein Mann aus dem Volke namens Candragupta (gespr.: Tschandragupta), von den Griechen Sandrakottos genannt, die Fackel des Aufruhrs, eroberte in schnellem Siegeszug das ganze Indus-Gebiet (317) und war zwei Jahre später sogar im Besitz des Ganges-Landes und damit des ganzen nördlichen Indiens. Er wählte Pātaliputra[9] (Patna) zu seiner Residenz und wurde der Begründer der Dynastie der Mauryas.

Um dieselbe Zeit kamen die erbitterten Kriege, die nach dem Tode Alexanders zwischen dessen Feldherren ausgebrochen waren, allmählich zu Ende, und es stellten sich, neben einer Reihe kleinerer Staaten, drei Grossmächte dauernd fest: Makedonien, Ägypten und Asien. Der erste König des neuen asiatischen Reiches war Seleukos Nikator (312–280). Er residierte anfangs in der von ihm selbst gegründeten Hauptstadt Seleukia am Tigris, später im syrischen Antiochia, setzte mit grossem Eifer, besonders durch Städtegründungen, das Kulturwerk Alexanders fort und trug sich sogar mit dem Phantom einer Wiederherstellung der alten Monarchie in ihrem ganzen Umfange. Hiermit hängt es zusammen, dass er um das Jahr 302 sich gegen Candragupta wandte, den Indus überschritt und ein tüchtiges Stück in Indien eindrang. Zum Schluss aber blieb doch Candragupta der Sieger: Seleukos musste ihm nicht nur seinen bisherigen Besitz bestätigen, sondern ihm sogar noch die östlichsten Teile des Paropanisadenlandes, Arochosiens und Gedrosiens abtreten1. Doch schieden die beiden gleichwohl nicht als Feinde von einander, sondern als Verbündete. Eine Verschwägerung besiegelte den Frieden, und von nun an fanden dauernde freundschaftliche[10] Beziehungen zwischen den beiden Königshäusern statt, die ihren Ausdruck u.a. darin fanden, dass ein ständiger griechischer Gesandter in Pātaliputra weilte und dass die buddhistischen Missionare Açokas im Seleukidenreich freie Hand erhielten2.

König Açoka nämlich, der Enkel der Candragupta, war nicht nur selbst zum Buddhismus übergetreten, sondern hatte auch eine rege Missionstätigkeit ins Leben gerufen, zu deren Früchten die Bekehrung Ceylons und die Kaschmirs gehörten: der beiden Länder, die später die Hauptsitze des Buddhismus wurden. Ausserdem war er politisch ausserordentlich tätig: niemals zuvor hatte es in Indien ein Reich von der Ausdehnung des seinigen gegeben. Vom östlichen bis zum westlichen Meer und vom Himālaya bis zur Godāvarī war alles Land ihm untertan.

Mit Açoka aber war auch die Grösse der Mauryas bereits zu Ende. Das Reich zerfiel nach seinem Tode nach der Zahl seiner Söhne in drei kleinere, von denen nicht eines länger als ein Menschenalter bestanden zu haben scheint.

Und wie das Maurya-Reich nach dem Tode Açokas, so begann noch zu den Lebzeiten des letzteren das Reich der Seleukiden sich aufzulösen. Auf Seleukos Nikator (312–280) und Antiochos Soter (280–261), die beide nach besten Kräften sich um das Reich bemüht[11] hatten, folgte der schlaffe und ausschweifende Antiochos II. Theos (261–246). Dieser konnte es nicht verhindern, dass der Statthalter von Baktrien, Diodotos, aus seiner bisherigen Satrapie nebst Sogdiane und Margiane ein selbständiges Königreich machte (256), und sein Nachfolger, Seleukos II. Kallinikos (246–226), musste dazu auch noch Parthien einbüssen, in das der Parnerhäuptling Arsakes Teridates, der erste der künftigen Partherkönige, eingefallen war. Zwar kam Parthien noch einmal vorübergehend unter makedonische Oberhoheit, in Baktrien dagegen erkannte Antiochos III. der Grosse (223–187) nach der vergeblichen Belagerung der Hauptstadt Baktra den Euthydemos aus Magnesia (der Diodotos enttront hatte) als König an, schloss ein Schutz- und Trutzbündnis mit ihm und gab seinem Sohne Demetrios eine seiner Töchter zur Frau (206).

Das baktrische Reich, das wir nunmehr für sich zu betrachten haben, nahm nach diesem Ereignis einen mächtigen Aufschwung: durch Euthydemos wurde ihm Arachosien (Afganistan) und durch Demetrios nicht nur das Pendjab, sondern auch das ganze Gebiet des unteren Indus und – hiermit beginnen die griechischen Erobererungen in Indien über das von Alexander Erreichte hinauszuführen – sogar noch die grosse Halbinsel Gudjerat einverleibt.

Die Folge dieser Eroberungen3 aber war, dass das Schwergewicht des Reiches von Demetrios, als[12] derselbe seinem Vater in der Herrschaft nachgefolgt war, nach dem Süden verlegt wurde (sowie Otto II sich fast ausschliesslich in Italien aufhielt) und dass daher im Norden alsbald ein Usurpator namens Eukratides die Herrschaft über Baktrien an sich riss (ca. 175). Demetrios, der gegen diesen nichts ausrichten konnte, begann sich nun als indischer Fürst zu fühlen: er nannte sich »König der Inder«, liess zweisprachige Münzen prägen, oben mit griechischer, unten mit indischer Umschrift, von denen uns eine erhalten ist, und machte das, an der Stelle des alten oder nicht weit davon neuerbaute Sāgala, das er, zur Erinnerung an seinen Vater, in Euthydemeia umtaufte, zur Hauptstadt seines Reiches. Aber der energische Eukratides, unter dessen Herrschaft Baktrien mehr als jemals blühte, liess ihm keine Ruhe: er rückte über den Indus und eroberte das Pendjab (ca. 159).

Und jetzt wiederholte sich, was unter Demetrios geschehen war: durch die Inanspruchnahme des Königs im Süden geht der Norden verloren, dieses Mal aber endgültig. Der Partherkönig Mithridates bemächtigte sich, trotz der heftigen Gegenbemühungen des Eukratides, des westlichen Baktriens, dazu Areias und Arochosiens, und fast gleichzeitig (ca. 159) nahm das aus China verdrängte, den Tibetern verwandte Nomadenvolk der Yuetshi von Sogdiane Besitz. Als vollends Eukratides bald darauf (ca. 155), nach der Unterwerfung Indiens heimkehrend, von seinem Sohne und Mitregenten Heliokles ermordet wurde, war der Zusammenbruch nicht mehr aufzuhalten. Aber trotz der beständigen Bürgerkriege dauerte es noch zwei[13] volle Jahrzehnte, bis die Todeszuckungen des griechisch-baktrischen Reiches zu Ende waren: erst um das Jahr 135 v. Chr. fiel das Kernland Baktrien endgültig den Yuetshi zur Beute.

Im Süden war durch den Einfall des Eukratides das indische Reich des Demetrios nach etwa fünfzehnjährigem Bestehen gänzlich aus den Fugen gegangen. Einige Jahre lang tobten, zumal im Gebiet des oberen Indus, das Eukratides niemals vollständig besessen zu haben scheint, heftige innere Kämpfe. Dann gelang es dem Apollodotos (Apaladata), der schon gegen Eukratides sich erhoben hatte, die meisten der inzwischen entstandenen kleineren griechischen Reiche4 unter seine Herrschaft zu bringen und so der Wiederhersteller des von Demetrios begründeten griechisch-indischen Reiches zu werden.

Das griechisch-indische Reich umfasste unter Apollodotos ausser den indischen Gegenden auch noch Arachosien. Dieses aber ging sehr bald an die Parther verloren, und seitdem blieb das Reich, von der Herrschaft des Menandros abgesehen (s.u.), im wesentlichen auf das Kabul-Tal, das Pendjab mit der Hauptstadt Sāgala (Euthydemeia), und (?) das Gebiet des unteren Indus beschränkt.

Über das ganze Reich oder doch den grössten Teil desselben haben nach dem Ausweise der Münzfunde sowie nach einem indischen Text, dem Vāyu-Purāna, acht Könige geherrscht: Demetrios, Eukratides, Apollodotos, Straton I., Straton II., Zoilos, Menandros[14] und Dionysios5. Dazu kommen einundzwanzig Könige6 (und eine Königin7), die nur in bestimmten Gegenden des Landes geherrscht haben. Von sämtlichen neunundzwanzig Herrschern8, die in der Zeit von ca. 175 bis ca. 30 v. Chr. regiert haben (!), enthält die griechisch-römische Litteratur ausser über Demetrios, Eukratides und Heliokles9 nur über Apollodotos und Menandros, die indische über Menandros und die chinesische über den letzten König, Hermaios, einige dürftige Nachrichten, denen sich, unter Zuhülfenahme der Münzen, ungefähr das Folgende entnehmen lässt.[15]

Von den griechisch-indischen Königen ist der bei weitem bedeutendste Menandros gewesen. Bei den Indern hiess er Menandra oder, indem die letzten beiden Silben als die bei indischen Namen häufige Endung indra, vulgär inda, »König« verstanden wurden, Milinda. Er hat mindestens dreissig Jahre, etwa von 130 bis 100 v. Chr., regiert und nicht nur das ganze Indus-Land nebst Gudjerat, sondern auch das Gebiet des oberen (und des mittleren) Ganges besessen, so dass zu seiner Zeit das Reich ungefähr doppelt so gross wie das heutige Deutschland war. Auf seinem Eroberungszug in das Ganges-Tal belagerte und erstürmte er nach einander die alten Städte Mathurā (bei Delhi), Sāketa (= Ayodhyā, Oudh) und selbst Pātaliputra (Patna). Von den zweiundzwanzig Arten seiner Münzen werden einige noch beständig in so grosser Zahl gefunden, dass sie in Indien für wenig mehr als den Silberwert zu haben sind. Er führte eine milde und gerechte Regierung, trat zum Buddhismus über10 und genoss bei seinem Volke eine derartige Verehrung, dass, als er im Feldlager gestorben war und die Vertreter der Städte gemeinsam die Leichenfeier begangen hatten, dasselbe geschah, was beim Tode des Buddha sich ereignet hatte: ein Streit über den Besitz seiner Asche erhob sich und wurde in der Weise geschlichtet, dass jede Stadt einen Teil derselben erhielt mit der Bestimmung, darüber ein Denkmal zu errichten.[16]

Nach dem Tode des Menandros haben sich die Griechen am Ganges nicht halten können. Ein schrecklicher Bürgerkrieg, so berichtet eine indische Schrift aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, sei unter ihnen ausgebrochen und habe ihre Verdrängung aus dem »Mittellande« (zwischen Himālaya und Vindhya) zur Folge gehabt.

Und in der Tat sind die Münzen der folgenden etwa neun Könige nur im Kabul-Tal und im Pendjab gefunden worden.

Der letzte König, Hermaios (von den Indern Heramaya, von den Chinesen In-mo-fu genannt), kam um das Jahr 55 v. Chr. als Verbündeter Wen-tschung's, des chinesischen Befehlshabers der Grenze, in den Besitz des nördlich vom Kabul-Fluss gelegenen Reiches der (skytisch-parthischen) Sse, die seit der Zeit um 161 Nachbaren der Griechen gewesen und schon früher unter den Einfluss der griechischen Kultur gekommen waren, und regierte ungefähr zwanzig Jahre lang. Schliesslich, zwischen 39 und 27 v. Chr., wurde er von einem skythischen Eroberer, der sich auf seinen Münzen (indisch) Kujula-Kaso und (griechisch) Kozulo-Kadphizu nennt und bei dem chinesischen Historiker, der auch hier wieder von den Yue-tschi redet, Kieu-tsieu-khio heisst, auf nicht näher bekannte Weise (es gibt Münzen mit beider Namen) aus der Herrschaft verdrängt.

Seitdem ist in Indien kein Grieche wieder zur Herrschaft gelangt. Das griechische Volk ging in das der Eingeborenen und das der asiatischen Eindringlinge auf, und von dem Hinschwinden seiner[17] Kultur11 reden die Münzen der bald über das ganze nördliche Indien herrschenden Nachfolger des Kadphizu eine deutliche und traurige Sprache. – – –

In Indien hat von jeher ein einziges, glühendes Interesse alle Bestrebungen in Wissenschaft und Kunst beherrscht: das religiöse Interesse. Das ist der Grund dafür, dass in diesem Lande, das grösser und stärker bevölkert ist als das ganze nichtrussische Europa, trotz der zahllosen politischen Stürme, die darüber hingebraust sind, und trotz der hohen und vielseitigen Kultur, die es hervorgebracht hat, eine Geschichtsschreibung bis heute so gut wie unbekannt geblieben ist. Denn eine Religion, die, wie das kirchliche Christentum, auf Geschichte sich gründet oder mit der Geschichte Kompromisse eingeht, wird in Indien als eine irrige Vermengung des Ewigen mit dem Vergänglichen empfunden. Hier reichen sich die äusserlich verschiedensten Religionen die Hand in der unablässigen Forderung, alles Irdische als das Vergängliche zu verachten und fest auf das Unvergängliche den Blick gerichtet zu halten, mag dieses Brahman oder Nirvāna oder anders genannt werden. Das weltliche Geschehen wird hier durchaus nur vom Standpunkte der Seelenwanderung oder Wiederverkörperung12 aus betrachtet: es geschieht nichts wesentlich Neues; in immer anderen und doch niemals neuen Masken treten dieselben Personen immer wieder auf, bis endlich eine nach der anderen im Laufe ihrer unzähligen Wanderungen die Erkenntnis gewinnt, dass alles eitel ist, und dem Welttreiben ein[18] für alle Male den Rücken kehrt. Sein Herz an das Wohl oder Wehe eines einzelnen Volkes zu hängen, ist »Unwissenheit«. Denn wie für alles Entstandene, so kommt auch für jedes Volk notwendig einmal die Zeit des Verfalles und Unterganges, und überdies besteht ja das Volk als ein besonderes Wesen überhaupt nicht, sondern nur etwa in dem Sinne wie eine Versammlung besteht. Es macht die zufällige Summe der Individualitäten aus, die sich gerade hier für dieses eine Leben verkörpert haben. Im nächsten Leben, wenn andere an ihrer Stelle stehen, sind sie in alle Winde zerstreut: der eine als Mönch in Magadha, der andere als Kaufmann in Pāndya, ein dritter als Indra im Himmel der Dreiunddreissig, und so fort, wie es das Karman13 eines jeden verlangt.

Bei einem Volke wie dem indischen, das diese Auffassung mit solcher Überzeugung vertritt, dass ihm die historische Betrachtungsweise des Abendländers ein vollkommenes Rätsel ist, bei einem solchen Volke, und nur bei einem solchen, ist es verständlich, dass die Literatur aus dem Laufe der Ereignisse immer nur das hervorhebt, was ihr eine mehr als historische, eine unvergängliche Bedeutung zu haben scheint; dass sie die gewaltigen Kriegstaten eines Alexander und seiner indischen Nachfolger mit fast völligem Schweigen überging und nur dem Menander ein Denkmal setzte, und bezeichnenderweise nicht den bedeutenden politischen Werken dieses Fürsten, sondern seinem Interesse für die Religion des Landes. Dieses Denkmal ist der Milinda-Panha »Die Fragen des Menandros«.[19]

Den Text dieses berühmten Werkes hat im Jahre 1880 V. Trenckner in London veröffentlicht, und eine englische Übersetzung desselben nebst zwei umfangreichen Einleitungen hat in den Jahren 1890 bis 1894 der bekannte Pāli-Forscher Professor Rhys Davids herausgegeben. Ausser dem Letztgenannten hat dann noch Professor Garbe über das Werk gehandelt in einem »Ein historischer Roman aus Altindien« betitelten Essay14 sowie Dr. Arthur Pfungst in einem beachtenwerten Referat der englischen Übersetzung.15

Auch ich betrachte wie Garbe und im Gegensatz zu Rhys Davids den Milinda-Panha als den Reflex einer historischen Begebenheit, und zwar nicht nur, weil der Bericht des Plutarch über den Tod des Menandros (s. oben) unverständlich bleibt, wenn man nicht annimmt, dass der König sich zum Buddhismus bekehrt oder mindestens dem Orden ausserordentliche Dienste geleistet habe, sondern auch, weil ich nicht einsehen kann, wie ein buddhistischer Mönch, und von einem solchen stammt doch natürlich das Werk, auf den Gedanken gekommen sein sollte, einen griechischen König über buddhistische Lehren diskutieren zu lassen, wenn nicht dieser König tatsächlich zum Buddhismus in engen Beziehungen gestanden hat. Ich halte es sogar für möglich, dass das zweite Buch, der ursprüngliche Bestandteil unseres Werkes (s.u.), die Fragen und Antworten ungefähr so wiedergibt, wie sie wirklich stattgefunden haben in einem Gespräch des grossen Königs mit dem grössten Weisen seines Reiches.[20]

Hiergegen spricht durchaus nicht, dass in dem Werke spezifisch griechische Gedanken schlechterdings nicht zu finden sind. Denn die Tatsache, dass die philosophische und religiöse Literatur der Inder nicht eine Spur griechischen Einflusses aufweist, während ein solcher in den meisten übrigen Literaturzweigen sowie in der indischen Kunst längst entdeckt worden ist und während andererseits die hellenistische Philosophie wenigstens der späteren Zeit unverkennbar indischen Einfluss zeigt16 – diese Tatsache, meine ich, beweist, dass die Griechen sich auf diesem Gebiete als die Schwächeren gefühlt und den Indern untergeordnet haben. Aber auch, wer hiervon ganz absieht, wird zu dem gleichen Ergebnis kommen, wenn er sich vergegenwärtigt, wie gewaltig dem eindrucksfähigen Griechen (man denke an die ägyptischen Reisen Herodots und Platons) die Geschlossenheit, die Fertigkeit, die metaphysische Tiefe der indischen Systeme, vor allem des Buddhismus, der ja in jenen Gegenden herrschte, imponiert haben muss. Wenn er diese Literatur mit der seinigen verglich, so konnte ihm unmöglich entgehen, dass sie an metaphysischem Gehalt der griechischen ebensosehr überlegen war, wie sie in formeller Hinsicht hinter ihr zurückstand. Wie dilettantenhaft und salonmässig müssen ihm z.B., wenn er sie mit den Gesprächen Buddhas verglich, die platonischen Dialoge vorgekommen sein! In Griechenland überall das Suchen nach Wahrheit, überall ein Tasten, ein Niederreissen[21] und Aufbauen von Meinungen – hier das Jahrhunderte alte, feste Lehrgebäude des Buddhismus, getragen von der unerschütterlichen Überzeugung seiner Anhänger, dass man hiermit im vollen Besitze der Wahrheit sei, dass in allen Zeiten nichts wesentlich Neues mehr gefunden werden könne und daher die einzige Aufgabe sei, zum Verständnis der »Lehre« sich durchzuringen. Und wissen wir denn überhaupt, dass Menander von griechischer Bildung soviel mehr hatte als von indischer? Nur durch die Fortsetzung der Politik Alexanders, durch Verschwägerung mit den Eingeborenen und möglichste Anpassung an ihre Sitten17, konnte das Häuflein Griechen, das mit Demetrios und Eukratides in Indien eingedrungen war, sich dauernd zu behaupten hoffen, und erst recht war man hierzu gezwungen, als der Untergang des baktrischen Reiches die Verbindung mit dem Mutterlande abgeschnitten hatte. Im Reiche Menanders kann es nur noch wenige Griechen gegeben haben, die nicht, wie der König[22] selbst18, in Indien geboren und aufgewachsen waren. Die meisten hatten zweifellos schon mit der Muttermilch indische Anschauungen eingesogen. Ist es da ein Wunder, dass der König, für dessen Indianisierung übrigens auch seine Münzen mit ihren indischen Emblemen zeugen19, sich auf indisch und wie ein Inder mit seinen Untertanen unterhalten konnte?20

Durch aufmerksame Analyse des Pāli-Textes und Vergleichung desselben mit der chinesischen Version des Milinda-Panha21 bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass, abgesehen von späteren Übersetzungen22, mindestens sieben oder, wenn wir die chinesischen Drucke besonders rechnen, neun verschiedene Fassungen unseres Werkes anzunehmen sind. Bezeichnen wir diese nach ihrer Sprache und historischen Reihenfolge als A, B, C (buddhistisches Sanskrit), a, b, c (Pāli) und α, β, γ (Chinesisch), so ergibt sich für die[23] Geschichte unseres Textes, zunächst in Indien selbst, dann in Ceylon und in China, das folgende Bild.


Einleitung

Ich will diesen Stammbaum, der natürlich nur ein Versuch sein soll, zuerst in Worte fassen und darauf begründen.

A. Einst hatte der König Menandros mit dem berühmtesten buddhistischen »Senior« seines Reiches ein Gespräch über einige Hauptpunkte der Lehre des Buddha. Diese erste, vielleicht einzige, Unterredung des grossen Königs mit dem grossen Weisen fand anfangs in Gegenwart eines zahlreichen Hofstaates sowie vieler buddhistischer Mönche in der Sankheyya-Einsiedelei bei Sāgala, darauf in einem kleineren Kreise im Palaste statt und wurde, zumal man in ihr von vornherein den Anfang der Bekehrung des längst buddhistenfreundlichen Königs sah, vom Orden als ein grosses Ereignis gefeiert und Jahrzehnte lang getreu überliefert23. Diese älteste Fassung des Werkes umschloss[24] eine kleine Einleitung, in der lediglich die Begegnung der beiden Hauptpersonen so, wie sie wirklich stattgefunden, erzählt wurde, und das jetzige zweite Buch mit Ausnahme der später hinzugefügten letzten beiden Fragen (II, 3, 15 und 16) sowie die Abschnitte 7, 17 und 7, 18 des jetzigen dritten Buches.

B. Nachdem das indo-griechische Reich untergegangen und die Erinnerung an die Personen und den Ort des Dialoges verblasst war, wuchs die Einleitung durch umfangreiche Charakteristiken, die Beschreibung der Musterstadt Sāgala, die Āyupāla-Episode (s. S. 104) und vor allem dadurch, dass man ihr, einer unüberwindlichen Neigung der buddhistischen Erzählungslitteratur nachgebend, eine Vorgeburtgeschichte vorausschickte. Dieses »Jātaka«24 erzählte, wie Menandros und Nāgasena schon in ihrem vorletzten Leben als brāhmanische Waldeinsiedler durch Freundschaft mit einander verbunden gewesen waren. Ferner kamen zum zweiten Buche die Nachträge 3, 15/16, und zwischen dieses und den Schluss (III, 7, 17/18) wurde der Hauptbestandteil des jetzigen dritten Buches einschoben.

C. Vor die Geschichte der brāhmanischen Waldeinsiedler tritt, zur Erklärung des Namens Nāgasena, ein Elefanten-Jātaka (s.u. S. 119 fg.). Sonst alles wie in B.

α. Chinesische Übersetzung von C.

β. Koreanische (unvollständige) Ausgabe von α.

γ. Ausgabe der Sung-, Ming- und Yen-Dynastie,

a. Die brāhmanischen Wald-Einsiedler werden[25] durch buddhistische Mönche ersetzt. Hervortreten des mirakulösen Elementes in der Einleitung: Einschiebung des Mahāsena-Jātaka (s. S. 101), Interesse der Götter für die Fortschritte Nāgasenas, praktische Magie der Arhats. Dispute des Königs mit Pūrana-Kassapa, Makkhali-Gosāla u.s. w (Zeitgenossen Buddhas!). Bücher II und III wie in B. Die Sprache schon dieser Bearbeitung war wahrscheinlich das Pāli.

b. Poetische Bearbeitung des Stoffes in einem Pāli-Gedicht, das mit der Bekehrung des Königs geschlossen haben dürfte.

c. Unter Benutzung von a und b wird der Stoff nochmals überarbeitet und um die Bücher IV, V, VI und die Bekehrungsgeschichte bereichert. Die Sprache ist Pāli.

Nun zur Besprechung der Gründe, die mir die obigen Annahmen zu empfehlen, zum Teil unerlässlich zu machen scheinen!

Sehen wir einstweilen von der Einleitung ab, so zerfällt das Werk in zwei äusserlich sowohl wie inhaltlich scharf geschiedene Abteilungen. Am Ende des dritten Buches wird Nāgasena reich beschenkt entlassen, und es findet sich, im Gegensatz zur Unterbrechung der ersten Unterredung (II, 1, 3), nicht der geringste Hinweis auf eine abermalige Zusammenkunft, vielmehr erhält man durch die letzten Worte des Königs, dass er zu seinem Leidwesen nur ein Laie bleiben könne, und erst recht durch den abschliessenden Charakter von 7, 18 durchaus den Eindruck, dass hier das Werk zu Ende sei. Und in der Tat geht die chinesische Übersetzung des Werkes, in γ sowohl wie in β, gerade bis hier und nicht weiter. Dazu[26] kommt, wie Professor Garbe zeigt, ein schwerwiegender innerer Grund, die beiden Teile auseinanderzuhalten. Während in dem ersten lauter Fragen besprochen werden, die ein gebildeter Laie, der eine oberflächliche Kenntnis des Buddhismus hat – und eine solche dürfen wir dem König eines buddhistischen Landes doch zutrauen! – recht wohl aufwerfen kann, sind die Probleme des zweiten Teiles fast durchweg »der Art, dass ihre Behandlung nur noch innerhalb eines Kreises von buddhistischen Gelehrten denkbar ist. Es handelt sich da um Zweifel, die sich nur aus einem umfassenden Studium der kanonischen buddhistischen Schriften ergeben konnten«.25 Wer in der literarhistorischen Beurteilung indischer Texte geübt ist, muss schon beim Lesen der Einleitung des vierten Buches auf den Gedanken kommen, dass hier eine der beliebten Erweiterungen beginnt, von denen so wenige berühmte Texte verschont geblieben sind. Es ist, wie wenn ein angenehmer Traum, der zu Ende ist, künstlich weiter geträumt wird. Der Verfasser beginnt damit, uns zu erzählen, dass der König sich Nacht für Nacht in die heilige Schrift versenkt, dass er das achtfache Gelübde auf sich genommen, das gelbe Mönchsgewand angelegt habe u.s.w.26 Kein Zweifel,[27] dass dieser ganze Teil bis zum Schluss des Werkes (Buch IV bis VI nebst Schlussbetrachtung) spätere Zutat ist.27

Aber auch das dritte Buch kann, mit alleiniger Ausnahme der letzten beiden Stücke (III, 7, 17 u. 18), der ältesten Fassung nicht angehört haben. Denn in unserem Pāli-Text stehen, obwohl hier noch fünf Sechstel des Werkes übrig sind, am Schlusse des zweiten Buches die Worte: »Ende der Befragung des Nāgasena durch den König Menandros.« Ausserdem sticht der Inhalt des dritten Buches gegen den des zweiten stellenweise erheblich ab durch direkte, zum Teil wörtliche Wiederholungen aus diesem (vergl. III, 5, 6 mit II, 3, 6; III, 5, 7 mit II, 2, 6; III, 5, 9 mit II, 2, 2), durch Verbesserungsversuche (vergl. III, 7, 15 mit II, 3, 6), schiefe Vergleiche (III, 4, 4; 6, 3), Albernheiten (III, 5, 4) und Wortklaubereien (III, 7, 3). Hingegen die Schlusserzählung dieses Buches (III, 7, 17; 18) die, ohne als ein besonderes Kapitel gerechnet zu werden, auf die Worte »Ende des siebenten Kapitels« folgt, scheint sowohl durch diesen äusseren Umstand wie durch ihren Inhalt darauf hinzudeuten, dass sie den ursprünglichen Abschluss des Werkes in seiner ältesten Fassung bildete. Das dritte Buch (bis 7,16 incl.)[28] wäre demnach zwischen das jetzige zweite Buch und diese Schlusserzählung eingeschoben worden.

Wir kommen zur einleitenden Erzählung, dem ersten Buche unseres Pāli-Textes. Der Umfang dieses Teiles beträgt fast zwei Drittel des zweiten Buches, ist also ganz unverhältnismässig gross, wenn man ihn zusammen mit dem zweiten Buch und dem Schluss des dritten (oder, wie Garbe, dem Schluss des letzten) Buches als den Urbestand des Textes ansehen will. Rhys Davids fragt, ob es wahrscheinlich sei, dass eine so grosse Vorhalle in ein so kleines Zimmer geführt habe, und schliesst aus der Verneinung dieser Frage, dass nicht allein das zweite Buch, sondern – ungeachtet der erwähnten Schlussnotiz des letzteren (die also später hinzugefügt wäre, aber aus welchem Grunde?) – auch alle folgenden Bücher dem ursprünglichen Texte angehört hätten. Auch ich verneine die Frage, im Gegensatz zu Garbe28, aber hieraus folgt für mich nur, dass die Vorhalle ursprünglich kleiner gewesen sein oder ganz gefehlt haben muss. Das letztere ist nun, wenn man andere Pāli-Texte vergleicht, wenig wahrscheinlich: eine kleine Einleitung, ungefähr so gross wie das Schlusskapitel des jetzigen dritten Buches, in der die Begegnung der beiden Personen erzählt wurde, dürfte[29] von Anfang an bestanden haben. Dass aber die gegenwärtige Einleitung nicht für die ursprüngliche gelten kann, zeigt schon der Umstand, dass sie (jedoch nicht im chinesischen Text) die. Disposition zu dem ganzen Werke, d.h. die Inhaltsangabe zu den sechs Büchern gibt.

Meiner Ansicht nach ist die ganze Vorgeschichte bis zur Begegnung des Königs mit Nāgasena als unursprünglich zu streichen. Von Anfang an kann sie, wenn das zweite Buch in der oben angenommenen Weise, nämlich als der unmittelbare Reflex einer wirklichen Begebenheit, entstanden ist, ihres unhistorischen Charakters wegen ja ohnehin nicht existiert haben. In einer Zeit, in der man weder über den König noch über den Senior Genaues mehr wusste, ist sie etwa folgendermassen nach und nach erfunden und in die alte Einleitung hineingearbeitet worden.29

Zuerst entstand die unvermeidliche Geschichte des vorletzten Lebens der beiden Hauptpersonen. Diese werden als brāhmanische Waldeinsiedler eingeführt, offenbar mit der Absicht, das Brāhmanentum als eine blosse Vorstufe, wenn auch die letzte und höchste, zum Buddhismus hinzustellen. Hier hat die chinesische Überlieferung zweifellos das Ursprünglichere bewahrt. Denn dass der Pāli-Bearbeiter aus den brāhmanischen Einsiedlern buddhistische Mönche machte, ist zu verstehen, nicht aber der umgekehrte Fall. Eine Spur des Alten findet sich übrigens auch im Pāli-Text in[30] der Person des brāhmanischen Hauslehrers, über den sein Schüler hinauswächst.

Vor diese Geschichte trat dann noch aus schon erwähntem Grunde das Elefanten-Jātaka, womit, da dieses im Pāli-Text fehlt, die Notwendigkeit gegeben ist, eine Fassung C anzunehmen (s. S. 122).

Da ferner das Mahāsena-Jātaka und die anderen, auf S. XXVI genannten Züge der Einleitung in der chinesischen Version sich nicht finden, sind diese einer Fassung a zuzuweisen, die ich von der uns allein erhaltenen Fassung c deshalb trennen möchte, weil ich nicht glauben kann, dass die sämtlichen Zusätze der letzteren von nur einem Verfasser herrühren,30 und weil mir b leichter auf einen Pāli- als auf einen anderen Text zurückführbar scheint.

Aus der Vorgeschichte bliebe also allein noch die Āyupāla-Episode als möglicherweise ursprünglich zurück. Denn diese steht sowohl im chinesischen als auch im Pāli-Text und hat an sich nichts Unwahrscheinliches. Dennoch wird man auch wohl sie als ein Einschiebsel betrachten müssen, und zwar auf die folgende Weise.

Die Begegnung des Königs mit Nāgasena hatte nach dem Bericht der alten Prosa-Einleitung (wie auch der poetischen Version) in der Sankheyya-Einsiedelei stattgefunden. Um nun die Spannung zu erhöhen, lässt der erste Bearbeiter (Verfasser von B) unmittelbar vorher an demselben Orte eine erfolglose Unterredung[31] des Königs mit dem »Senior« Āyupāla stattfinden, fährt aber dann, indem er vergisst, dass der König inzwischen hätte heimkehren müssen, mit dem alten Text fort: »Und der König .... begab sich nach der Sankheyya-Einsiedelei zu dem ehrwürdigen Nāgasena.« Der König geht also von der Sankheyya-Einsiedelei zur Sankheyya-Einsiedelei! Freilich könnte hier die Bezeichnung des Ortes eine bloss formelhafte Wiederholung sein. Aber auch diese Annahme beseitigte keineswegs den Eindruck, dass die Āyupāla-Episode lediglich auf den dramatischen Effekt berechnet ist. Denn welchen andern Zweck kann es haben, wenn der König von seinen Mannen zu Āyupāla geführt wird, obwohl ihnen, wie sich hinterher zeigt, die Anwesenheit des allen überlegenen Nāgasena durchaus bekannt ist?!

Eine weitere Frage ist, wie wir die auf die Unterredung und deren Personen bezüglichen Verspartien aufzufassen haben, die in unserem Texte begegnen. Für die Beurteilung derselben kommt in Betracht: 1. dass sie nirgends einen integrierenden Bestandteil des Textes bilden, und 2. dass sie, ausser am Kapitelanfang, wie Zitate, nämlich durch ten'āhu »Mit Bezug hierauf heisst es (sagen sie)«, eingeführt werden.31 Ich möchte deshalb glauben, dass wir es hier mit den Resten eines in Ceylon entstandenen Gedichtes zu tun haben, das neben der Fassung a so lange für sich bestand, bis es mit dieser in die letzte Bearbeitung aufging.[32]


Die erste dieser poetischen Partien eröffnet das Werk und beginnt mit den Worten:


»Milinda, jener mächt'ge Fürst in Sāgala, der Städte Zier,

An Nāgasena wandte sich, gleichwie die Gangā seewärts strebt.«32


Der uns erhaltene Pāli-Text des Milinda-Panha ist also nichts weniger als ein einheitliches Werk: von den zahlreichen kleineren Einschiebseln abgesehen, ist in ihm die Arbeit von mindestens fünf Autoren vereinigt. Aber auch seine Sprache ist zweifellos nicht die des Originals. Denn nur in Ceylon wurde und wird noch heute das reine Pāli, in dem der Milinda-Panha geschrieben ist, gebraucht (als Kirchensprache), und nur im nordwestlichen Indien als dem Kernbestande des alten Griechenreiches kann der Urtext entstanden sein, und ebenso können die Fassungen B und C nicht aus dem Süden stammen, weil die Wanderung des Werkes nach China sonst unverständlich wäre. Es ist mithin, da die buddhistischen Gelehrten des nördlichen Indiens sich des Sanskrit bedienten, wahrscheinlich, dass die genannten drei Fassungen (A, B, C) in Sanskrit geschrieben waren. Hierfür spricht auch, dass der Name des Königs im chinesischen Milinda-Panha (Nā-Sien-Bhikshu-King) Mi-lan und in einer Sammlung buddhistischer Erzählungen (Tsâ-pâo-Tsâng-King), die u.a.[33] eine Paraphrase unserer Unterredungsgeschichte enthält, Nanda ist: beides Wörter, die nur auf das sanskritische Menandra (Melandra), nicht auf Milinda zurückzuführen sind.33

Nach alledem ist so gut wie ausgeschlossen, dass eine genaue Wiederherstellung des Urtextes jemals gelingen wird. Denn wenn schon Bearbeitungen stattgefunden haben, so ist durch nichts mehr zu erweisen, dass irgend ein Abschnitt unseres Werkes davon gänzlich unberührt geblieben ist. Andrerseits aber dürfte eine vollständige Übersetzung des uns vorliegenden, sehr umfangreichen Pāli-Textes einem grösseren Publikum kaum erwünscht sein. Für eine solche spräche allein die Vollständigkeit dieser grossen Apologie des Buddhismus, in der kaum eine einzige Lehre des alten Buddhismus und der heutigen süd-buddhistischen Kirche nicht besprochen oder nicht wenigstens berührt wird, dagegen, dass nur die ersten drei Bücher auch von der nördlichen Kirche34 unbedingt anerkannt und ebenso hochgeschätzt werden wie das ganze Werk von den Buddhisten des Südens, dass ferner selbst diese Bücher, wie wir gesehen haben, nur zum Teil echt sind, und schliesslich, dass in den letzten drei Büchern und auch schon im dritten Buche eine Menge[34] unwesentlicher und solcher Fragen behandelt wird, die höchstens den gelehrten Erforscher des Buddhismus interessieren können. Dem Für wie dem Wider hoffe ich nun auf dem folgenden Wege gerecht geworden zu sein.

Vollständig übersetzt, weil unzweifelhaft dem Urtext angehörig, habe ich allein das zweite Buch.

Aus den Büchern III bis VI wird nur das ungekürzt mitgeteilt, was religionsgeschichtlich wertvoll, von allgemeinerem Interesse und nicht blosse Wiederholung ist, alles übrige dagegen in der Form einer kurzen Inhaltsangabe, die auf die Übersetzung folgt. (S. 107 ff.)

Von der Einleitung (Buch I) endlich habe ich nur einen Auszug gegeben, der alles umfasst, was die ursprüngliche Einleitung, und das meiste von dem, was ihre erste Bearbeitung enthielt, jedoch den grössten Teil der Vorgeschichte (vor allem die ganze Geschichte der früheren Geburten) unberücksichtigt lässt. Den Inhalt dieses unübersetzten Teiles findet man auf S. 99 ff.

Es bildet also bereits dieser erste Band meiner Übersetzung, da er die alte Einleitung, das zweite und das dritte Buch und die alte Schlusserzählung umfasst, ein in sich abgeschlossenes Ganze, nämlich das Wesentliche der Fassung B und zugleich, in ihm enthalten und nur in der Einleitung nicht davon zu trennen, den vollständigen Urtext der »Fragen des Menandros«.

1

Nach der abendländischen Tradition, der auch von Gutschmid (Geschichte Irans etc., p. 24) folgt, hätte Seleukos jene Teile gegen ein Geschenk von fünfhundert Kriegselefanten freiwillig abgetreten, was man doch schwer glauben kann. Das Bündnis mit C. war gewiss nur ein Akt der Klugheit des Seleukos, als er sein Unternehmen gescheitert sah.

2

Besonders in der Erbauung von Krankenhäusern für Menschen und für Tiere und in der Anlegung von Brunnen und der Pflanzung von Bäumen an den Heerstrassen, aber selbstverständlich auch, obwohl die Inschriften dies nicht besonders erwähnen, in der Verkündigung der Lehre des Buddha.

3

bezw. Erwerbungen, da Arachosien möglicherweise von Antiochos dem Grossen als Mitgift seiner Tochter an Demetrios freiwillig abgetreten worden war (Gutschmid, loc. cit. p. 47, 48).

4

Deren bedeutendstes, wie es scheint, das des »Inderkönigs« (hinduja-sāme) Agathokles im östlichen Afganistan war.

5

Die indischen Namen, im Vāyu-Purāna nicht genannt, aber auf der Rückseite der Münzen, sind: Demetriya, Evukrātida, Apaladata, Strata, Jhoila, Menandra, Dianisiya.

6

Agathokles, Antialkides, Antimachos Theos, Euthydemos II., Heliokles, Lysias, Pantaleon, Platon [alle diese wahrscheinlich Zeitgenossen Apollodots]; Amyntas, Antimachos Nikephoros, Apollophanes, Archebios, Artemidoros, Diomedes, Epandros, Hermaios, Hippostratos, Nikias, Philoxenos, Telephos, Theophilos.

7

Agathokleia, die eine Zeit lang für Straton I. oder Straton II. regiert zu haben scheint.

8

Nur griechische Münzen haben wir von Antimachos Theos, Euthydemos II. und Platon; griechische neben indo-griechischen von Demetrios, Eukratides, Heliokles, Pantaleon und Antialkides; von allen anderen nur indo-griechische, d.h. solche mit griechischer Umschrift auf der einen, indischer auf der andern Seite. Am zahlreichsten sind die Münzen Menanders [22 Arten]; dann folgen: Eukratides mit 20 Arten [13 rein griechisch], Apollodotos mit 14, Hippostratos und Hermaios mit je 11 u.s.w. Vielleicht verdient Beachtung, dass ausser auf einer Münze des Eukratides auch auf einer des Straton II. der Titel »König der Könige« sich findet.

9

Cunningham vermutet, dass nicht Heliokles, sondern Apollodotos der Vatermörder gewesen sei.

10

Vgl. Garbe, Deutsche Rundschau, Bd. CXII, S. 268. Für mich folgt diese Tatsache ausser aus dem Berichte des Plutarch und dem von Gutschmid angeführten Grunde nicht sowohl aus der Schlusserzählung des Milinda-Panha, als vielmehr aus der Existenz dieser Schrift überhaupt.

11

Soweit nicht dieselbe in die indische Eingang gefunden hatte: vgl. S. XXI.

12

Über den Unterschied der beiden Begriffe vergl. S. 80.

13

S. Anm. p. 144

14

Deutsche Rundschau, August 1902.

15

Abgedruckt in A. Pfungst, Aus der indischen Kulturwelt, (Stuttgart, Frommann).

16

Dass bereits die Entstehung der Stoa unter indischem Einflüsse stattfand, hat Dahlmann wahrscheinlich gemacht in dem Appendix zu seinem Werke »Die Sāmkhya-Philosophie« (Berlin 1902).

17

Wie schnell in dem benachbarten Baktrien dieser Prozess sich vollzogen hat, zeigt »das Fehlen aller und jeder Kunde von einem Unterschied zwischen den herrschenden Hellenen und der beherrschten iranischen Bevölkerung« in der ausführlichen Landeskunde des Tshang-kien, der wenige Jahre nach dem Falle des Reiches als chinesischer Gesandter sich dort aufhielt (128–127). In diesem Schweigen sieht von Gutschmid den Beweis, »dass das hellenische Element numerisch sehr abgenommen hatte, sich wohl auch, wie wir das in anderen hellenistischen Reichen beobachten können, mehr und mehr orientalisiert hatte, so dass es dem fremden Beobachter wenig in die Augen fiel« (Alfred von Gutschmid, Geschichte Irans und seiner Nachbarländer von Alexander dem Grossen bis zum Untergange der Arsaciden, S. 72, 73).

18

Vgl. S. 87 u. Anm.

19

»Neben der Pallas und der Nike finden wir hier den Elephanten, den Elephantentreibstock, das Kameel, den Stierkopf, den Eberkopf, das Rad, den Palmenzweig und einiges andere.« Garbe, loc. cit. p. 264.

20

Anders Garbe: Eben deshalb habe die Erinnerung an den griechischen König sich so lange in Indien gehalten, weil derselbe unter den Fremden eine ebenso seltene Ausnahme bildete wie heutzutage Ausländer, die mit Indern auf indisch über philosophische Fragen sich unterhalten können (loc. cit. p. 267). Ich halte den Vergleich in mehr als einer Hinsicht für unzutreffend.

21

Näheres über diese s. S. 117 fg.

22

Aufschluss über die Geschichte des Werkes ist vielleicht noch von der tibetischen Übersetzung zu erwarten, über die Genaueres leider noch nicht bekannt ist.

23

Das Gedächtnis ist von jeher in Indien in hervorragendem Masse gepflegt worden. Der ganze buddhistische Kanon wurde anfangs nur mündlich überliefert.

24

Zu jāti »Geburt, Geschlecht«, verwandt mit lat. gens genus, griech. γένος, γόνος, deutsch Kind.

25

Garbe, loc. cit. p. 281.

26

Nachdem eine kurze, für sich dastehende metrische Partie (Zitat? s.u.) uns auf das Kommende schon vorbereitet hat, nimmt der Prosa-Text wie folgt den Faden der Erzählung wieder auf: »Als nun die Nacht zu Ende und die Sonne aufgegangen war, wusch sich der König Menandros das Gesicht, hob die gefalteten Hände an die Stirn und erinnerte sich der vergangenen, zukünftigen und gegenwärtigen heiligen Buddhas und nahm alsdann das achtfache Gelübde auf sich mit den Worten: Von heute an« u.s.w. Der König ist also über Nacht Buddhist geworden! Wie stimmt hierzu, dass er erst nach dem Schluss des sechsten Buches sich als Laienjünger bekennt?

27

Die Besprechung dieses späteren Teiles behalte ich mir für die Einleitung des zweiten Bandes meiner Übersetzung vor.

28

»Gerade der Sinn für das richtige Mass fehlt ja selbst denjenigen Indern, die auf künstlerischem Gebiet in ihrer Art das Beste geleistet haben« (Garbe, loc. cit. p. 281). So richtig dies ist, so wenig vermag ich zu glauben, dass ein buddhistischer Mönch die dankbarste und interessanteste Arbeit, die es für ihn gibt, so schnell abbrechen kann, nachdem er einen so grossen Anlauf dazu genommen hat.

29

Man vergleiche mit dem Folgenden die Appendices auf S. 99 fg. und S. 119 fg.

30

Auch die letzten drei Bücher haben wahrscheinlich mehr als einen Verfasser, so dass also c möglicherweise noch in mehrere Schichten zu zerlegen sein wird.

31

Eigene Verse des Autors würden ein ten'āha »Mit Bezug hierauf sagt er (der Autor)« erwarten lassen.

32

Wie der grösste und tiefste Strom Indiens, der Ganges, zum unabsehbaren und unergründlichen Ozean, so verhält sich der Geist des Menandros zu dem des Nāgasena. Vgl. Vers 420 des Dhammapada, wo es vom Arhat heisst, dass weder Menschen noch Götter seinen Pfad kennen.

33

»Bei der Umschreibung sanskritischer Wörter [ins Chinesische] wird lan niemals für lin gebraucht, sondern fast ausschliesslich für lan oder ran.« J. Takakusu, Journal of the Royal Asiatic Society, Januar 1896.

34

Das im nördlichsten Indien, in Tibet, der Mongolei, China und Japan verbreitete Mahāyāna oder »grosse Fahrzeug« (zur Erlösungsfahrt durch das Meer des Samsāra) ist eine Weiterbildung der noch heute im südlichen Asien herrschenden alten Buddha-Lehre (Hīnayāna »kleines Fahrzeug«).

Quelle:
Die Fragen des Königs Menandros. Berlin [1905], S. V5-XXXV35.
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