XVI. Erläuterung der Begriffe von Nothwendigkeit, Zufälligkeit, Unabhängigkeit und Abhängigkeit. – Versuch eines neuen Beweises für das Daseyn Gottes, aus der Unvollständigkeit der Selbsterkenntnis.

[138] Wenn von einem Dinge erwiesen ist, daß es vorhanden sey; so ergiebt sich die Möglichkeit von selbst. Alles, was wirklich ist, muß auch gedacht werden können. Nun haben wir einräumen müssen, daß ein zufälliges abhängiges Wesen vorhanden sey; denn unser eignes Daseyn ist von der höchsten Evidenz; das Bewußtseyn unsrer Eingeschränktheit von der unläugbarsten Evidenz. Wir haben ferner zugeben müssen, daß das Abhängige, ohne etwas Unabhängiges nicht denkbar sey, und also auch nicht vorhanden seyn könne, und hierdurch sahen wir uns gezwungen, die Würklichkeit eines nothwendigen, unabhängigen Wesens zuzugeben, ohne welches wir zufällige, abhängige Wesen nicht würden vorhanden seyn können. Wer war es von euch, der letzthin von diesen Kunstwörtern abhängig, zufällig, und ihrem Gegensatze, unabhängig und nothwendig, eine deutlichere Auseinandersetzung verlangte? W. Ich erinnere mich, Sie hier um ersucht zu haben. Das Wort abhängig scheint bey mir noch zu sehr an der Metapher zu kleben; das Wort nothwendig etwas von einer Noth, von einem Zwange mit sich zu führen, davon es in dem Sinne, in welchem es hier gebraucht wird, befreyet werden muß. Sodann schienen Sie mir auch diese beide Redensarten synonymisch zu gebrauchen, und ich ersuchte sie, mich ihren Unterschied bemerken zu lassen.

Laß sehen mein Sohn! wenn ein Ding A. würklich seyn soll; muß nicht der Satz: A ist würklich vorhanden, zur Wahrheit werden?

Allerdings!

Muß er also nicht mit der Vernunft begreiflich seyn?

W. Mit der Vernunft oder mit dem Sinne. Wahrheit muß durch positive Kraft unsers Denkungsvermögens erkennbar seyn. Die Sinne aber sind nicht weniger positive Seelenkraft, als die Vernunft.

Wohl! Haben wir aber nicht gesehen, daß beides, vernünftige und sinnliche Erkenntniß aus eben derselben Quelle fließe, und daß alle sinnliche Erkenntniß sich in Vernunfterkenntniß auflösen lasse?[138] Wenn wir einen Satz vermittelst der Sinne für wahr erkennen; so muß das Subject desselben, mit solchen individuellen Bestimmungen gedacht werden, aus welchen das Prädikat unausbleiblich fließet. Die Sinne entwickeln diese Bestimmungen nicht und umfassen sie durch den Begriff des Raums oder der Zeit, auf welche sie das Factum anweisen; aber der Vernunft muß es möglich seyn, diese individuellen Bestimmungen zu entwickeln, auseinander zu setzen, und den sinnlich erkannten Satz dadurch in einen Vernunftsatz zu verwandeln. Hier ist ein Baum! Wir erkennen dieses vermittelst der Sinne, und es ist also eine sinnlich erkannte Wahrheit: ein Baum ist hier würklich vorhanden. Alle Bestimmungen, die zu dem Begriffe eines Baums hinzukommen müssen; der Boden, in welchem er eingepflanzt ist; das Saamenkörnlein, aus welchem er hervorgewachsen; Luft, Sonnenschein, Regen und alles, was sonst dazu beygetragen, daß der Baum würklich geworden, umfassen wir durch das Wort hier, durch die Beziehung auf einen Ort im Raume, in welchem alle diese Bestimmungen zusammengetroffen haben. Unsrer subjectiven Vernunft ist es zwar nicht möglich, alle diese Umstände und nähere Bestimmungen zu entwickeln; aber der Vernunft, objective betrachtet, muß es gar wohl möglich seyn, sie aus einander zu setzen und in deutliche Begriffe zu verwandeln. – Wir haben heute einen heitern Frühlingsmorgen. Die Zeitbestimmung heute umfasset abermals alle Individualumstände, die vorhergegangen sind, und dazu beygetragen haben, daß dieser Frühlingsmorgen würklich heiter geworden ist. Wenn aber die Erkenntnißquelle der Seele eine und eben dieselbe seyn soll; so muß die Vernunft, objective betrachtet, auseinandersetzen und deutlich angeben können, welche nähere Bestimmungen vorangegangen, und in wie weit sie zur Heiterkeit dieses Morgens beygetragen haben. Mit einem Worte, jeder sinnlich erkannte Satz muß an und für sich in eine Vernunftwahrheit aufgelößt werden können, dessen Subject alle die Individualbestimmungen enthält, unter welchen das Prädicat der Würklichkeit ihm zugeschrieben wird; ist dieses nicht deutlich?

Vollkommen!

Wenn also auch der Satz: A ist würklich vorhanden, eine sinnlich erkannte Wahrheit ist, so muß es der Vernunft möglich seyn, zu dem Subjecte A solche Bedingungen hinzuzudenken, unter welchen ihm das Prädicat der Würklichkeit zukömmt, unter welchen die Verbindung des Subjects mit dem Prädicat begreiflich wird. Nun[139] kann dieses auf zweyerley Art geschehen. Entweder die Bedingungen, unter welchen der Satz zur Vernunftwahrweit wird, enthalten selbst die Würklichkeit eines von A verschiedenen Dinges, und setzen das Daseyn desselben voraus, wie hier der Fall war, bey der Wirklichkeit des Baums, oder dieses schönen Tages. Ohne Voraussetzung aller Würkursachen, die den Baum oder den heitern Morgen hervorgebracht haben, läßt sich die Würklichkeit derselben an und für sich nicht begreifen. Dinge dieser Art werden abhängig genennt; in so weit die Würklichkeit derselben nicht ohne Voraussetzung anderer würklichen und von ihnen verschiedenen Dinge vernünftig zu begreifen ist. Ihr Daseyn fließet also nicht aus ihrer Dankbarkeit; sondern aus der damit verbundenen Würklichkeit eines andern Dinges. In so weit ihr würkliches Vorhandenseyn, keine Folge von ihrer Denkbarkeit ist, werden sie zufällig gennennet; in so weit aber das Daseyn eines andern Dinges ihre Würklichkeit begründet, sagt man, sie sind abhängig; ihr Daseyn hängt vom Daseyn eines von ihnen verschiedenen Dinges ab, ohne welches es nicht vernünftig zu begreifen ist.

Nun haben wir ferner zugeben müssen, daß der Inbegriff aller zufälligen Wesen, selbst in einer Unendlichkeit zusammengenommen, kein würkliches Daseyn auf eine der Vernunft genugthuende Weise begreiflich machen könne. Die Frage wird verschoben, aber nicht aufgelöst. Wir müssen am Ende, so wie im Anfange, noch immer unter den Bedingungen des Subjects die Würklichkeit anderer Dinge voraussetzen, die, wenn sie eben so abhängig, eben so zufällig seyn sollen, die Vernunft nicht einen Schritt weiter bringen, und die Begreiflichkeit des Satzes mehr verwickeln, als auflösen. Wir sind also genöthiget gewesen, zum Daseyn eines unabhängigen und nothwendigen Wesens unsere Zuflucht zu nehmen. Eines unabhängigen, dessen Würklichkeit ohne Voraussetzung eines von ihm verschiedenen Dinges denkbar ist; eines nothwendigen, dessen Denkbarkeit allein hinreichend ist, sein würkliches Vorhandenseyn zu begründen; ein Wesen, das würklich ist, weil es gedacht werden kann; weil es möglich ist; und dieses war der zweyte Fall, in welchem der Satz: A ist würklich vorhanden, Wahrheit seyn kann, wenn zu den Bedingungen des Subjects keine Würklichkeit eines von ihm verschiedenen Wesens gehöret, wenn die bloße Denkbarkeit hinreichet, sein Daseyn zu begründen.[140]

Die Kennzeichen des Zufälligen, Abhängigen, Nothwendigen und Unabhängigen sind auf diese Weise, wie mich dünkt, deutlich genug auseinander gesetzt. In so weit zur Würklichkeit eines Wesens die Würklichkeit eines andern von ihm verschiedenen Dinges nicht vorausgesetzt werden darf, wird es unabhängig genennt: in so weit aber die Würklichkeit desselben aus seiner Denkbarkeit fliesset; in so weit das Gegentheil, ein solches Wesen sey nicht würklich vorhanden, an und für sich nicht: gedacht werden kann, wird demselben Nothwendigkeit zugeschrieben, und wir sagen: Gott sey ein nothwendiges Wesen, d.h. das Daseyn Gottes fließet aus seiner Denkbarkeit, und das Gegentheil oder das Nichtvorhandenseyn desselben ist an und für sich nicht denkbar. Ist ein solches Wesen möglich? Hiervon kann weiter die Frage nicht seyn, nachdem wir durch die augenscheinliche Ueberzeugung von unserm eigenen Daseyn durch eine richtige Schlußkette auf das Daseyn eines solchen Wesens geführt worden sind. Der Begriff muß Wahrheit enthalten, auf welchen wir durch die positive Kraft unsres Denkungsvermögens gebracht werden. Wenn Zufälliges vorhanden ist; so muß auch Nothwendiges vorhanden, und um so vielmehr denkbar seyn.

Ich werde es versuchen, diesen Beweis auch auf eine Art zu führen; auf eine Art, die so viel ich weiß, noch von keinem Weltweisen berührt worden ist. Merket also auf meine Söhne! und erinnert mich, so oft ich etwa aus Vorliebe für meinen Gedanken, mir einen Fehltritt erlauben möchte.

Außer der unmittelbaren Empfindung meines eigenen Daseyns, das, wie wir gesehen, über alle Zweifel hinweg ist, setze ich noch folgende Wahrnehmung, als ungezweifelte, voraus: Ich bin nicht blos das, was ich von mir deutlich erkenne, oder, welches eben so viel ist: Zu meinem Daseyn gehört mehr, als ich mit Bewußtseyn von mir einsehe, und auch das, was ich von mir erkenne, ist an und für sich einer großem Entwickelung, großem Deutlichkeit und großem Vollständigkeit fähig, als ich ihm zu geben vermag. Diese Beobachtung ist, wie mich dünkt, nicht weniger von der unleugbaren Evidenz. Als Wahrnehmung des innren Sinnes, hat sie ihre subjective Gewißheit; und da in Absicht auf mich selbst, mein eigenes ich auch das Subject der Gedanken ist; so kann mir auch das unmittelbar erkannte, als Prädicat, zugeschrieben werden. Daß ich nicht alles weiß, was zu meinem Daseyn gehöret, kann kein Betrug der Sinne,[141] keine Täuschung seyn; denn wir tragen erstlich, nichts innerlich Erkanntes in ein äußerliches Object; wir wollen keine Beschaffenheiten verschiedener Sinne in Verbindung bringen, nicht von oft auf immer schliessen; welches alles Quellen der Sinnentäuschung waren, wie wir in der Vorerkenntniß gesehen: und sodann würde diese Täuschung ja selbst beweisen, daß wir uns nicht recht kennen, und also manches in uns würklich sey, dessen wir uns nicht bewußt sind. In der That würde weder unser Leib, noch unsre Seele vorhanden seyn können, wenn sie blos das wären, was wir von ihnen mit Deutlichkeit einsehen.

Nun behaupte ich, nicht nur alles mögliche müße als möglich, sondern auch alles Würkliche müße als würklich, von irgend einem denkenden Wesen gedacht werden. Was sich kein denkendes Wesen als möglich vorstellet, ist auch in der That nicht möglich, und eben also kann dasjenige, was von keinem denkenden Wesen als wirklich gedacht wird, auch in der That nicht würklich vorhanden seyn. Dem gesunden Menschenverstande scheinen diese Sätze schon einzuleuchten. Jeder mögliche Begriff wird, als die Abänderung eines Subjects gedacht, als Gedanke in einem denkenden Wesen. Er muß also wenigstens idealisches Daseyn haben, d.h. irgend eines denkenden Wesens wahrer Begriff seyn, und dieses war die erste Hälfte unsers Satzes: jede Möglichkeit muß als Möglichkeit gedacht werden.

Aber auch jede Würklichkeit, wenn sie wahr seyn soll, muß von irgend einem Wesen als Wahrheit erkannt und begriffen werden. Der Sache muß ein Begriff entsprechen; jedes Object muß in irgend einem Subjecte dargestellt; jedes Vorbild in irgend einem Spiegel nachgebildet werden. Sache ohne Begriff hat keine Wahrheit, Wahrheit, ohne daß irgend ein Wesen von ihr versichert sey, führt nicht den mindesten Grad von Evidenz mit sich, ist also keine Wahrheit.

Werden diese Sätze eingeräumt, so folget auf eine handgreifliche Weise, daß ein Wesen vorhanden seyn müsse, welches alles, was zu meinem Daseyn gehöret, auf das allerdeutlichste, reinste und ausführlichste sich vorstellet. Jede eingeschränkte Erkenntniß würde nicht alles enthalten, was zu meinem würklichen Daseyn gehört. Das Bewußtseyn und die deutliche Einsicht eines zufälligen Wesens, ja aller zufälligen Wesen zusammen genommen, reichet nicht so weit, als das Daseyn eines einzigen Sonnenstäubleins. In seiner[142] Würklichkeit liegen unendlich viele Merkmahle, die von allen zufälligen Wesen zusammen genommen, weder der Ausbreitung noch der Stärke nach, auf das allerdeutlichste begriffen werden. Mit einem Worte, keine Wahrheit kann von zufälligen Wesen mit dem höchsten Grade der Erkenntniß, als möglich, keine Würklichkeit auf das allervollkommenste, als würklich, gedacht werden. Es muß also ein denkendes Wesen, einen Verstand geben, der den Inbegriff aller Möglichkeiten, als möglich, den Inbegriff aller Würklichkeiten, als würklich, auf das vollkommenste denket, d.h. in ihrer möglichsten Entwicklung, der Coordination sowohl, als der Subordination nach, auf das deutlichste, vollständigste und ausführlichste sich vorstellt. Es giebt einen unendlichen Verstand u.s.w.

Was in dieser Schlußkette noch undeutlich seyn könnte, ist etwa der Satz, daß alles würkliche von einem denkenden Wesen gedacht werden müße. Ich sehe wohl ein, dürfte mancher sagen, daß alles Würkliche nicht anders, als denkbar seyn könne. Wie folgt aber hieraus, daß es irgend von einem Wesen in der That müsse gedacht werden? Heißt dieses nicht von Möglichkeit auf Würklichkeit, von Können auf Geschehen schliessen? Man scheinet also das zu erbetteln oder zu erschleichen, was erst erwiesen werden soll. Ist es nicht etwa dieses, das euch noch einiges Bedenken macht?

Eben dieses, war die Antwort einstimmig.

Mich dünkt, das Wort können bringe uns hier abermals, durch seine Vieldeutigkeit, die Begriffe in Verwirrung. Wir müßen dem Worte ausweichen, wenn wir seine Schlinge vermeiden wollen. – – Wenn von einem Dinge gesagt wird, daß es etwas könne; etwas thun oder etwas leiden könne, daß es Vermögen, Fähigkeit, Anlage wozu habe, bedeutet dieses nicht eine gewisse Möglichkeit, die wir ihm zuschreiben?

Nichts anders! aber man unterscheidet entfernte, nahe und nächste Möglichkeit –

Ganz recht! aber so nahe und nächst sie auch immer sey; so bleibt sie doch immer noch eine bloße Möglichkeit, wie die Logiker sie nennen; eine Möglichkeit, davon noch nichts würklich geworden ist. Der Luft, die uns umgiebt, z.B. wird die Elasticität, oder die Fähigkeit ausgedehnt zu werden, da sie es noch nicht ist, beygelegt. Mir, der ich hier sitze, wird das Vermögen aufzustehen, bevor ich es würklich ausübe, zugeschrieben. In allen diesen Fällen also werden[143] von den Subjecten bloße Möglichkeiten als Prädicate ausgesagt. Wie können aber bloße Möglichkeiten als würkliche Prädicate vorhanden seyn?

Dieses scheint allerdings unbegreiflich.

Widersprechen wir uns nicht selbst, wenn wir einem würklich vorhandenen Dinge etwas, das nicht würklich vorhanden, als Beschaffenheit beylegen; wenn wir eine bloße Möglichkeit für ein Prädicat des Würklichen halten?

Dem Anscheine nach allerdings.

Und gleichwohl ist der Inbegriff aller menschlichen Kenntnisse voll von diesen anscheinenden Widersprüchen, von Möglichkeiten, Anlagen, entfernten oder nahen Vermögen, großem oder kleinem Fähigkeiten, Talenten u.s.w. wodurch würklich vorhandene Dinge bezeichnet und von einander unterschieden werden. Wie gehet dieses zu? Sollen wir dieserhalb die ganze Masse menschlicher Erkenntniß, als ungereimt, verwerfen?

Dieses freylich nicht; es scheint bloß eine Wortschwierigkeit sich im Hinterhalte verborgen zu haben, die wir aufzusuchen vor jetzt, (um mich eines ähnlichen verdächtigen Ausdrucks zu bedienen) vielleicht die Fähigkeit nicht haben.

Getroffen mein Sohn! Eine bloße Wortschwierigkeit ist es, die wir aus dem Wege zu räumen haben, um allen Anschein des Widerspruchs verschwinden zu lassen. Im Grunde ist alles Mögliche, in so weit es blos möglich ist, kein objectives Prädikat der Dinge. Wenn wir irgend einem Gegenstande eine Möglichkeit zur Beschaffenheit geben; so sagen wir blos, daß aus der gegenwärtigen Beschaffenheit desselben, sich auch begreifen laße, wie es unter andern Umständen, jene ihm, als möglich, zugeschriebene Eigenschaft annehmen würde. Dem Golde Dehnbarkeit, der Luft Elasticität, und einem sitzenden Menschen die Fähigkeit zu gehen zuschreiben heißt blos von dem Golde erklären, daß aus der gegenwärtigen würklichen Beschaffenheit desselben sich begreifen laße, wie es unter andern Umständen würklich gedehnt seyn würde; oder von der Luft aussagen, daß ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit das Ausgedehntwerden nicht widerspreche; so wie von dem sitzenden Menschen behaupten, daß seine jetzt zum Sitzen angewandte Bewegungs-Werkzeuge, von andern Bewegursachen gelenkt, ihn aufstehen oder gehen machen würden. Immer noch liegt bey dergleichen Behauptung das würklich[144] Vorhandne zum Grunde, und die ihm zugeschriebene Möglichkeit ist der Gedanke, daß unter andern Umständen die gegenwärtige Beschaffenheit desselben anders modificirt seyn würde. Ist dieses nunmehr deutlich?

Ohne Widerrede, wie mich dünkt.

Bloße Möglichkeiten also können den Dingen nicht, als objective Beschaffenheiten oder Prädikate zugeschrieben werden; wenn bloße Möglichkeiten nicht zugleich würklich vorhanden seyn sollen, welches doch offenbar ungereimt ist. Aber aus dem gegenwärtigen Zustande, aus der würklichen Beschaffenheit eines Dinges kann bey einem denkenden Subject der Gedanke entstehen, daß unter andern Umständen ihm eine andre Beschaffenheit zukommen würde, und daß also diese andre Beschaffenheit von ihm denkbar sey. Alle Möglichkeiten also haben ihr idealisches Daseyn in dem denkenden Subject und von diesem werden sie als denkbar dem Gegenstande zugeschrieben. Eine nicht gedachte Möglichkeit ist ein wahres Unding. Wenn in einem würklichen Dinge etwas Denkbares von keinem denkenden Wesen würklich gedacht, etwas zu Unterscheidendes von Niemanden würklich unterschieden, etwas Angebliches von keinem denkenden Subject würklich angegeben seyn soll; so wird entweder das blos Mögliche zugleich als würklich vorhanden angenommen, oder man verbindet Worte, deren Begriffe einander widersprechen.

Wohl! nun scheinet sie glücklich gehoben, die Bedenklichkeit, die uns ihren Satz noch zweifelhaft machte.

Also muß alles Würkliche nicht nur denkbar seyn; sondern auch von irgend einem Wesen gedacht werden. Jeder Realexistenz entspricht in irgend einem Subjecte eine Idealexistenz; jeder Sache eine Vorstellung. Ohne erkannt zu werden, ist nichts Erkennbares; ohne bemerkt zu werden, kein Merkmal; ohne Begriff kein Gegenstand würklich vorhanden. Wird dieses zugegeben?

Wie können wir anders?

Diese Uebereinstimmung zwischen Sache und Begriff kennet keine Ausnahme. Jedes Merkmal, jedes Unterscheidungszeichen der Sache muß so, wie es in derselben anzutreffen ist, von irgend einem denkenden Wesen, in aller seiner Wahrheit, mit der höchstmöglichen Deutlichkeit, Vollständigkeit und Ausführlichkeit gedacht werden. So lange noch ein Merkmal zurück bleibt, das nirgend bemerkt wird,[145] ein Grad der Entwickelung unentwickelt bleibt, etwas zu unterscheidendes nicht unterschieden wird; mit einem Worte, bey dem geringsten Mangel der Uebereinstimmung zwischen Sache und Begriff, gerathen wir abermals auf die Ungereimtheit, etwas blos Mögliches für ein objectives Prädicat des Würklichen anzunehmen.

Alles dieses ward eingeräumt.

Und nunmehr ist nichts leichter, als die Anwendung hievon auf die vorhin bezweifelten Schlußfolgen. Meine eigene Existenz ist mir unleugbar. Eben so unleugbar ist mir, daß zu meinem wirklichen Daseyn Merkmale und Beschaffenheiten gehören, die ich nicht mit Bewußtseyn erkenne, und daß selbst diejenigen, deren ich mir bewußt bin, in meinem Begriffe bey weitem die Vollkommenheit nicht haben, die ihnen in der Sache zukommt. Sie sind weder so wahr, noch so rein, noch so vollständig, ausführlich, adäquat; mit einem Worte, zwischen Begriff und Sache ist, wenn ich blos auf meine Erkenntniß von mir selbst sehe, die vollkommenste Harmonie nicht anzutreffen, deren Nothwendigkeit wir so eben erwiesen. Ich kann ferner nicht in Abrede seyn, daß ein eingeschränktes Wesen, ja, daß der Inbegriff aller eingeschränkten Wesen, sie mögen endlich oder der Zahl nach unendlich seyn, meine Beschaffenheit auf eine mit der Sache harmonische Weise zu erkennen, nicht hinreichen.

Wer den Zusammenhang der Wahrheiten, wer die unergründliche Tiefe aller Erkenntniß nur einiger Maaßen kennet, wird eingestehen, daß keine derselben in ihrer größten Vollkommenheit, mit dem deutlichsten Bewustseyn erkannt werden kann, ohne daß der ganze Inbegriff derselben in eben dem Maaße, mit eben der Wahrheit, Gewißheit, Deutlichkeit und Vollständigkeit eingesehen werde.

Es muß also nothwendig ein denkendes Wesen, einen Verstand geben, der nicht nur mich, sammt allen meinen Beschaffenheiten, Merkmalen und Unterscheidungszeichen, sondern den Inbegriff aller Möglichkeiten, als möglich, den Inbegriff aller Würklichkeiten, als würklich, mit einem Worte, den Inbegriff und den Zusammenhang aller Wahrheiten, in ihrer möglichsten Entwickelung, auf das deutlichste, vollständigste und ausführlichste sich vorstellet. Es giebt einen unendlichen Verstand.

Daß aber Einsicht nicht ohne Thätigkeit, Erkenntniß nicht ohne Billigung oder Mißbilligung, unendlicher Verstand nicht ohne den[146] vollkommensten Willen seyn könne, ist bereits im Vorhergehenden zur Gnüge ausgeführet worden.

Wir hätten also auf diese Weise einen neuen wissenschaftlichen Beweis für das Daseyn Gottes aus der Unvollkommenheit unserer Selbsterkenntniß. Prüfet ihn wohl, diesen Gedanken, meine Trauten! Er scheinet mir so fruchtbar, als gründlich. Die Schlußkette, deren wir uns bedient haben, bestehet etwa aus folgenden Gliedern. –

Alles Würkliche ist in seiner ganzen Vollständigkeit würklich. –

Der Vollständigkeit der Sache entspricht in irgend einem denkenden Wesen, Ausführlichkeit des Begriffs. –

Vollständige und ausführliche Begriffe können nur in einem vollkommenen Verstande anzutreffen seyn, und vollkommener Verstand ist nicht ohne vollkommenen Willen; die höchste Einsicht nicht ohne die freyeste Wahl und würksamste Kraftäußerung.[147]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.2, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 138-148.
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