Anhang zur 3. Auflage

Anhang, einige Einwürfe betreffend, die dem Verfasser gemacht worden sind.


Verschiedene Freunde der Wahrheit haben die Gewogenheit gehabt, mir ihre Erinnerungen und Anmerkungen über obige Gespräche, theils in Privatbriefen und theils in öffentlichen Blättern, zu Gesichte kommen zu lassen. Nicht wenige derselben habe ich bey dieser zwoten Auflage mit Nutzen gebraucht. Ich habe hier und da verändert, an einigen Stellen mich deutlicher erklärt, und andere durch Noten erläutert. Dieses ist der einzige Dank, den diese würdige Männer von mir erwarten. Aber alles habe ich nicht aus dem Wege räumen können, was meinen Richtern anstößig geschienen. Zum Theil haben mich ihre Gründe nicht überzeugt, und zum Theil giengen ihre Anforderungen über meine Kräfte. Man erlaube, daß ich mich hier über einige Erinnerungen von dieser Art erkläre.

Ueberhaupt muß ich bekennen, daß die Kunstrichter in Ansehung meiner eher nachsichtsvoll, als strenge gewesen sind. Ich habe mich über keinen unbilligen Tadel zu beschweren, vielleicht eher über unbilliges Lob, davon mich die Selbsterkenntniß versichert, daß es übertrieben ist. Unmäßiges Lob pflegt mehr die Absicht zu haben andere zu demüthigen, als den Gegenstand desselben anzuspornen. Ich habe mir niemals in den Sinn kommen lassen, Epoche in der Weltweisheit zu machen, oder durch ein eigenes System berühmt zu werden. Wo ich eine betretene Bahn vor mir sehe, da suche ich keine neue zu brechen. Haben meine Vorgänger die Bedeutung eines Worts festgesetzt, warum sollte ich davon abweichen? Haben sie eine Wahrheit ans Licht gebracht, warum sollte ich mich stellen, als wüßte ich es nicht? Der Vorwurf der Sektirerey schreckt mich nicht ab, von andern mit dankbarem Herzen anzunehmen, was ich bey ihnen brauchbares und nützliches finde. Ich gestehe es, der Sektiergeist hat dem Fortgange der Weltweisheit sehr geschadet,[143] aber er kann, meines Erachtens, von Liebe zur Wahrheit eher im Zaume gehalten werden, als die Neuerungssucht.

Jedoch ich soll, selbst in dem ersten Gespräche, allwo ich genauer beym Plato geblieben zu seyn vorgebe, Sätze aus Wolf und Baumgarten ohne Beweis vorausgesetzt haben, die nicht jeder Leser so schlechterdings annimmt. – Welches sind denn diese Sätze? Etwa, daß die Kräfte der Natur stets wirksam sind? Ich glaube, dieser Satz sey so alt, als die Weltweisheit selbst. Man hat von je her gewußt, daß ein wirksames Ding, wenn es nicht gehemmet wird, die ihm angemessene Wirkung hervorbringt, und wenn es Wider stand findet; so wirkt es in diesen Widerstand zurück. Es ist also niemals in Ruhe. Das Wort würklich seyn, wodurch man das Daseyn andeutet, giebt nicht ohne Grund zu verstehen, daß alles, was da ist, auch würklich seyn, d.i. etwas thun müsse. Eine Kraft, die nicht wirkt, ist eine Kraft, die nicht vorhanden ist, denn das Können, Vermögen, u.s.w. sind bloße Möglichkeiten, Begriffe, die nicht eher einen Gegenstand haben, als wenn von würklichen Kräften die Rede ist, die auf eine gewisse Art angewendet sind, in so weit sie ihrer Natur nach auch andern Anwendungen nicht widersprechen. Man sagt z.B. von einem Manne in Geschäften, er könne auch dichten, er besitze das Vermögen dazu in einem vorzüglichen Grade. Wenn in dieser Redensart Wahrheit seyn soll, so muß sie folgende Bedeutung haben; die Seelenkräfte dieses Mannes, die itzt mit der Verwaltung eines bürgerlichen Amts, u.s.w. beschäftiget sind, widersprechen auch einer Anwendung nicht, wodurch gute Gedichte hervorkommen würden. Wenn von einer Kraft gesagt wird, sie würke nur bey einer gewissen Gelegenheit; so ist die Frage: und wenn diese Gelegenheit fehlet, was geschiehet? – Würkt die Kraft alsdann gar nichts? – So ist sie ja in Abwesenheit der Gelegenheit eine bloße Möglichkeit zu würken, und diese bloße Möglichkeit soll doch auch vorhanden seyn? – Die Gelegenheit kann nur die Anwendung der Kräfte ab ändern, indem diese Anwendung nicht von der Kraft selbst; sondern von der Verbindung, in welcher sie mit andern Dingen stehet, abhänget, aber die Gelegenheit kann keine Kraft erwecken, die aufgehört hat zu wirken, auch keine Kraft vernichten, die einmal vorhanden ist. Wenn also gesagt wird: eine jede Kraft müsse beständig wirksam seyn; so verstehet es sich von selbst, daß blos von[144] ursprünglichen Kräften die Rede ist, nicht von ihrer Anwendung auf besondere Arten von Gegenständen, wodurch Fähigkeiten entstehen. Diese werden zuweilen, wiewohl etwas uneigentlich, auch Kräfte genennt; allein von ihnen ist es offenbar, daß sie nicht immer wirksam seyn dürfen, und dieses geschiehet, wie vorhin schon berühret worden, so oft sich von der ursprünglichen Kraft begreiffen läßt, daß sie ihrer Natur nach auf eine gewisse Art von Gegenständen zwar anwendbar, aber nicht immer angewendet seyn müsse. So kann das Nachdenken bey einem Schlafenden, die Erfindungskraft bey einem sinnlich Beschäftigten, und die Urtheilskraft bey einem Bethörten, eine Zeitlang ganz unthätig seyn. Aber alsdann ist die ursprüngliche Kraft, von welcher diese Fähigkeiten, die zuweilen auch Kräfte heißen, bloße Ableitungen sind, nichts weniger als unthätig. Diese Begriffe leuchten der gesunden Vernunft so sehr ein, daß sie keines Beweises bedürfen, und die Weltweisen aller Zeiten müssen sie gedacht, nur zuweilen in Worten anders ausgedrückt haben.

Ist etwa dieser Satz Wolfisch: daß alles Veränderliche keinen Augenblick unverändert bleibe? – Nicht doch, die Schriften des Plato sind voll davon. Alle vergängliche Dinge, sagt dieser Weltweise im Theätetus und an vielen andern Stellen, sind in beständigem Wechsel von Gestalten, und bleiben keinen Augenblick sich selbst ähnlich. Er schreibt ihnen daher kein wirkliches Daseyn; sondern ein Entstehen zu10. Sie sind nicht vorhanden, spricht er, sondern entstehen durch die Bewegung und Veränderung, und vergehen. Dieses ist ein Hauptgrundsatz der platonischen Lehre, und hierauf gründet sich seine Theorie von dem wahren Daseyn der allgemeinen unveränderlichen Begriffe, sein Unterschied zwischen Wissenschaft und Meynung, seine Lehre von Gott, und von der Glückseligkeit, seine ganze Philosophie.

Alle Schulen der Alten sind beschäftiget gewesen, diesen Satz zu bestätigen, oder zu widerlegen. Man weiß das Gleichniß von einem Baume, der seinen Schatten auf ein vorbeyfließendes Wasser wirft. Der Schatten scheinet immer derselbe zu seyn, obgleich der Grund,[145] auf welchem er gezeichnet ist, sich beständig fortbewegt. So, sagten die Anhänger des Plato, scheinen uns die Dinge Beständigkeit zu haben, ob sie gleich in stetem Wechsel sind. Daß diese Lehren auch im Wolf und Baumgarten vorkommen, ist kein Wunder, da sie seit den Zeiten des Heraclitus und Pythagoras von jedem Weltweisen haben untersucht werden müssen. Ich würde durchaus antik geblieben seyn, wenn ich keine neueren Sätze hätte brauchen dürfen, als diese.

Ich soll aber meine ganze Demonstration auf den Satz gegründet haben, daß empfinden, denken und wollen die einzigen Wirkungen der Seele sind, und dieser Satz soll ausser der Schule, der ich anhänge, nicht angenommen werden. Ja, setzt ein Kunstrichter hinzu, wenn er auch von der Seele, als Seele, zugegeben wird; so kann er doch nicht von der Seele als Substanz gelten. Als Substanz muß sie auch noch eine bewegende und widerstehende Kraft haben, die mit der denkenden gar nichts gemein hat. Durch diese Unterscheidung soll einer von meinen Hauptbeweisen über den Hauffen fallen, denn die Seele kann nach dem Tode als Substanz wirksam bleiben, ohne als Seele zu empfinden, zu denken und zu wollen.

Wir wollen sehen! Mein Beweis, sagt man, gründe sich auf einen Satz, der nicht wahr ist, und ich? ich glaube, der Satz sey wahr, aber mein Beweisgründe sich nicht darauf. Ob eine Substanz nur eine Grundkraft, oder mehrere haben könne, ob denken und wollen aus einer, oder mehrern Grundthätigkeiten fließen, ob die Seele den Leib bewege, oder nicht bewege, ob die Seele nach dem Tode ganz körperlos seyn werde; diese und mehrere dahin einschlagende Untersuchungen kann ich als unausgemacht dahin gestellt seyn lassen. Für mich habe ich zwar Partey genommen; allein die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele sollen mit so wenig andern Streitfragen, als möglich, verwickelt bleiben. Das Vermögen oder die Kraft zu denken und zu wollen nenne ich Seele, und mein ganzer Beweis gründet sich auf folgendes Dilemma: Denken und wollen sind entweder Eigenschaften des Zusammengesetzten, oder des Einfachen. Jenes wird im zweyten Gespräche untersucht. In dem ersten betrachte ich sie als Eigenschaften des einfachen Wesens. Die Eigenschaften des einfachen Wesens sind entweder Grundthätigkeiten, oder Modifikationen anderer Thätigkeiten. Man gestehet ein, daß denken[146] und wollen nicht bloße Modifikationen anderer Kräfte; sondern ursprüngliche Thätigkeiten seyn müssen. Eine, oder mehrere, das thut nichts; die einfachen Wesen mögen auch ausser dem Denken und Wollen noch andere Kräfte haben, bewegende, widerstehende, stoßende oder anziehende, so viel man nur will, und Namen erdenken kann. Genug, daß denken und wollen nicht bloße Abänderungen dieser ungenannten Kräfte; sondern von ihnen unterschiedene Grundthätigkeiten sind. Nun können alle natürliche Kräfte nur Bestimmungen abändern, nur Modifikationen mit einander abwechselnd machen, niemals aber Grundeigenschaften und für sich bestehende Thätigkeiten der Dinge in Nichts verwandeln; daher kann die Kraft zu denken und zu wollen, oder können die Kräfte zu denken und zu wollen, niemals durch natürliche Veränderungen vernichtet werden, wenn sie auch noch so viel von ihnen verschiedene Kräfte zurücklassen. Eine wunderthätige Allmacht gehört dazu, ein solches Vermögen hervorzubringen, oder zu zernichten.

Daß durch alle Kräfte der Natur nichts wahrhaftig zernichtet werden könne, ist, so viel ich weiß, von keinem Weltweisen noch in Zweifel gezogen worden. Eine natürliche Handlung, hat man von je her gesagt, muß Anfang, Mittel und Ende haben, das heißt, es muß ein Theil der Zeit verstreichen, bevor sie vollendet wird. Dieser Theil der Zeit mag so klein seyn, als man will, er verläugnet doch niemals die Natur der Zeit, und hat aufeinanderfolgende Augenblicke. Sollen die Kräfte der Natur eine Wirkung hervorbringen; so müssen sie sich dieser Wirkung allmälig nähern, und sie vorbereiten, bevor sie erfolget. Eine Wirkung aber, die nicht vorbereitet werden kann, die in einem Nu erfolgen muß, hört auf natürlich zu seyn, kann nicht von Kräften hervorgebracht werden, die alles in der Zeit thun müssen. Alle diese Sätze sind den Alten nicht unbekannt gewesen, und sie schienen mir in dem Raisonnement des Plato11 von den entgegengesetzten Zuständen und den Uebergängen von einem auf den andern, nicht undeutlich zu liegen. Darum suchte ich sie meinen Lesern nach Platons Weise, aber mit der unsern Zeiten angemessenen Deutlichkeit, vorzutragen. Sie leuchten zwar der gesunden Vernunft ziemlich ein; allein durch die Lehre von der Stetigkeit erlangen sie meines Erachtens einen[147] hohen Grad der Gewißheit. Ich ergriff auch nicht ungern die Gelegenheit, meine Leser mit dieser wichtigen Lehre bekannt zu machen, weil sie uns auf richtige Begriffe von den Veränderungen des Leibes und der Seele führet, ohne welche man Tod und Leben, Sterblichkeit und Unsterblichkeit nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachten kann.

Wie aber? fragte man, kann wohl irgend eine Veränderung ohne alle Zernichtung vorgehen? Muß nicht die Bestimmung einer Sache zernichtet werden, wenn die entgegengesetzte Bestimmung an ihr wirklich werden soll? Und wie ist dieses möglich, wenn die Kräfte der Natur nichts zernichten können? – Ich glaube, man misbraucht hier das Wort zernichten. Wenn ein harter Körper weich, oder ein trockener feuchte wird; so darf nicht etwa die Härte oder Trockenheit zernichtet, und die Weichheit oder Feuchtigkeit dafür hervorgebracht werden. So kann auch ohne die geringste Zernichtung das Lange kurz, das Kurze lang, das Kalte warm, und das Warme kalt, das Schöne häßlich und das Häßliche schön werden. Alle diese Modifikationen sind durch allmälige Uebergänge mit einander verbunden, und wir sehen gar deutlich, daß sie ohne die geringste Zernichtung oder Hervorbringung mit einander abwechseln können. Ueberhaupt sind die entgegengesetzten Bestimmungen, die durch natürliche Veränderungen an einer Sache möglich sind, alle von der Art, daß zwischen beiden äussersten auch ein Mittel statt findet. Im Grunde sind sie nur durch das Mehr und Weniger von einander unterschieden. Verändert gewisse Theile in ihrer Lage, bringet diese näher zusammen, jene weiter von einander; so wird das Schöne häßlich, das Lange kurz, u.s.w. Verdunkelt diese Begriffe, und heitert jene auf, schwächet diese Begierden, stärket jene Neigungen, so habet ihr die Einsichten und den Charakter eines Menschen verändert. Alles dieses kann durch einen allmäligen Uebergang, ohne die geringste Zernichtung, geschehen, und solche Veränderungen sind der Natur allerdings möglich. Aber zwo entgegengesetzte Bestimmungen, zwischen welchen es kein Mittel giebt, können niemals natürlicher Weise auf einander folgen, und ich kenne kein Gesetz der Bewegung, das diesem Satz zuwider seyn sollte. Hierüber verdienet der Pater Boscovich12 nachgelesen zu werden,[148] welcher das Gesetz der Stetigkeit in ein vortrefliches Licht gesetzt hat.

Allein wozu alle diese stachelichten Untersuchungen in einem sokratischen Gespräche? Sind sie nicht für die einfältige Manier des atheniensischen Weltweisen viel zu spitzfündig?

Ich antworte: man scheinet zu vergessen, daß ich dem Plato, und nicht dem Xenophon nachahme. Dieser letztere vermied alle Spitzfündigkeiten der Dialektik, und lies seinen Lehrer und Freund dem gesunden ungekünstelten Menschenverstande folgen. In sittlichen Materien ist diese Methode unverbesserlich; allein in metaphysischen Untersuchungen führet sie nicht weit genug. Plato, der der Metaphysik hold war, machte seinen Lehrer zum pythagorischen Weltweisen, und lies ihn in den dunkelsten Geheimnissen dieser Schule eingeweihet seyn. Wenn Xenophon auf ein Labyrinth stößt; so läßt er den Weisen lieber schüchtern ausweichen, als sich in Gefahr begeben. Plato hingegen führet ihn durch alle Krümmungen und Irrgänge der Dialektik, und läßt ihn in Untersuchungen sich vertiefen, die weit über die Sphäre des gemeinen Menschenverstandes sind. Es kann seyn, daß Xenophon dem Sinne des Weltweisen, der die Philosophie von dem Himmel herunter geholt, treuer geblieben ist. Ich mußte nichts destoweniger der Methode des Plato folgen, weil diese Materie, meines Erachtens, keine andere Behandlung leidet, und ich lieber subtil seyn, als von der Strenge des Beweises etwas vergeben wollte. Die Sophisterey hat sich in unsern Tagen unter gar verschiedenen Gestalten gezeigt. Bald mit Spitzfündigkeiten gewaffnet, bald unter der Larve der gesunden Vernunft, bald als Freundin der Religion, jetzt mit der Dreistigkeit eines vielwissenden Thrasymachus, dann wieder mit der unschuldigen Laune eines nichtswissenden Sokrates. Mit allen diesen Proteuskünsten hat sie gesucht, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ungewiß zu machen, und die Gründe jetzt zu verspotten, jetzt im Ernste zu widerlegen. Wie sollen die Freunde dieser Wahrheit sie vertheidigen? Durch sokratische Unwissenheit kann man den Dogmatiker rasend machen, aber nichts festsetzen. Durch Gegenspott wird niemand überzeugt. Ihnen bleibt also kein anderer Weg, als die Gaukeleyen der Zweifelsüchtigen für das zu halten, was sie sind, und nach Vermögen zu beweisen.

Daß ich dem Sokrates Gründe in den Mund gelegt, die ihm zu seiner Zeit, nach dem damaligen Zustande der Weltweisheit, nicht[149] haben bekannt seyn können, gestehe ich in der Vorrede mit ausdrücklichen Worten. Ich nenne so gar die neueren Weltweisen namentlich, von denen ich das mehreste entlehnt habe. Es konnte also meine Absicht nicht gewesen seyn, den Neuern etwas von ihren Verdiensten um die Lehre von der Unsterblichkeit zu entziehen, und es den Alten zuzulegen. Ueberhaupt ist mein Sokrates nicht der Sokrates der Geschichte. Jener lebte in Athen, unter einem Volke, welches das erste sich um wahre Weltweisheit bekümmerte, und zwar damals noch seit nicht langer Zeit. Weder die Sprache, noch die denkende Köpfe, waren noch zur Philosophie gebildet. Er war ein Schüler von Weltweisen, die selten einen Blick auf ihre Seele zurückgeworfen, die alles eher als sich selbst zum Vorwurfe ihrer Betrachtungen gemacht haben. Daher mußte in der Lehre von der menschlichen Seele und ihren Bestimmungen noch die größte Dunkelheit herrschen. Die hellesten Wahrheiten sahe man nur in der Ferne schimmern, ohne die Wege zu kennen, die zu ihnen hinführen. Ein Sokrates selbst konnte in solchen Zeiten nicht mehr thun, als die Augen unverrückt auf diese einzelne Wahrheiten richten, und sich in seinem Lebenswandel von ihnen leiten lassen. Die Evidenz philosophischer Begriffe und ihr vernünftiger Zusammenhang ist eine Wirkung der Zeit und der anhaltenden Bemühung vieler nachdenkenden Köpfe, die die Wahrheit aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachten, und dadurch von allen Seiten ins Licht setzen.

Nach so manchen barbarischen Jahrhunderten, die auf jenen schönen Morgen der Philosophie gefolgt sind, Jahrhunderte, in welchen die menschliche Vernunft dem Aberglauben und der Tyranney hat fröhnen müssen, hat die Weltweisheit endlich bessere Tage er lebt. Alle Theile der menschlichen Erkenntnis haben durch eine glückliche Beobachtung der Natur ansehnliche Progressen gemacht. Unsere Seele selbst haben wir auf diesem Wege besser kennen lernen. Durch eine genauere Beobachtung ihrer Wirkungen und Leiden hat man mehrere Data festgesetzt, und daraus ließen sich, vermittelst einer bewährten Methode, auch richtigere Folgen ziehen. Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion haben durch diese Verbesserung der Philosophie eine Evidenz erlangt, die alle Einsichten der Alten verdunkelt, und wie in den Schatten zurückwirft. Noch hat zwar die Philosophie ihren hellen Mittag nicht erreicht, in welchem sie vielleicht unsere Enkel dereinst erblicken werden; allein man müßte[150] auf die Verdienste seiner Zeitgenossen sehr neidisch seyn, wenn man den Neuern nicht in Absicht auf die Philosophie große Vorzüge einräumen wollte. Ich habe niemals den Plato mit den Neuern, und beide mit den düstern Köpfen der mittlern Zeiten vergleichen können, ohne der Vorsehung zu danken, daß sie mich in diesen glücklichern Tagen hat gebohren werden lassen.

Als ich über die Unsterblichkeit der Seele nachzudenken hatte, und es mir einige Mühe kostete, Glauben von Ueberzeugung zu unterscheiden, fiel mir der Gedanke ein: durch welche Gründe würde ein Sokrates in unsern Tagen sich und seinen Freunden die Unsterblichkeit beweisen können? Ein Freund der Vernunft, wie er war, würde ganz gewis von andern Weltweisen mit Dank angenommen haben, was in ihrer Lehre auf Vernunft gegründet ist, sie möchten übrigens einem Lande, oder einer Religionspartey zugehören, welcher sie wollten. Man kann in Absicht auf Vernunftwahrheiten mit jemanden übereinstimmen, und dennoch verschiedenes unglaubwürdig finden, das er auf Glauben annimmt. Da die brüderliche Duldung der politischen Welt so sehr empfohlen wird; so müssen sie Freunde der Wahrheit billig zuerst unter sich hegen. Was des Glaubens ist, wollen wir dem Gewissen und der Beruhigung eines jeden überlassen, ohne uns zu Richtern darüber aufzuwerfen. Aus wahrer Menschenliebe wollen wir da nicht streiten, wo das Herz lauter spricht, als die Vernunft, und zu dem allgnädigen Gott das Zutrauen haben, daß er uns alle rechtfertigen wird, wenn uns unser Gewissen rechtfertiget. Aber die Vernunftwahrheiten wollen wir mehr als brüderlich theilen, wir wollen sie, wie das Licht der Sonne, gemeinschaftlich genießen. Hat es dich, Bruder! eher beleuchtet, als mich; sey vergnügt, aber nicht stolz darauf, und, was noch unmenschlicher wäre, suche mir es nicht gar zu verstellen. – –

Der diese, oder jene Wahrheit ins Licht gesetzt hat, war deines Vaterlandes, deines Glaubens? Gut! Es ist angenehm, mit den Wohlthätern des menschlichen Geschlechts in einem engem Verhältnisse zu stehen. Aber deswegen ist das, was deine Landsleute, deine Glaubensgenossen herausgebracht, nicht minder eine Wohlthat, die uns allen beschieden ist. Die griechische Weisheit hat auch Barbaren genützt, und euch, die ihr erst seit kurzer Zeit diesen Namen nicht mehr verdienet, euch selbst hat sie aus der Barbarey befreien helfen. Die Weisheit kennet ein allgemeines Vaterland, eine allgemeine Religion,[151] und wenn sie gleich Abtheilungen duldet; so billiget sie doch das Unholde, Menschenfeindliche derselben nicht, das ihr zum Grunde eurer politischen Einrichtungen gelegt habet. – So würde, dünkt mich, ein Mann wie Sokrates in unsern Tagen denken, und aus diesem Gesichtspunkte angesehen, dürfte ihm der Mantel der neuem Weltweisheit, den ich ihm umgehangen, so unschicklich nicht lassen.

Den Beweis, daß die Materie nicht denken könne, im zweiten Gespräche, haben folgende Betrachtungen veranlasset. Cartesius hat gezeigt, daß Ausdehnung und Vorstellungen von ganz verschiedener Natur sind, und daß die Eigenschaften des denkenden Wesens sich nicht durch Ausdehnung und Bewegung erklären lassen. Ihm war dieses Beweises genug, daß sie nicht eben derselben Substanz zugeschrieben werden können, denn nach einem bekannten Grundsatze dieses Weltweisen kann eine Eigenschaft, die sich nicht durch die Idee einer Sache deutlich begreifen läßt, dieser Sache nicht zukommen. Allein dieser Grundsatz selbst hat vielfältigen Widerspruch gefunden, und was die Eigenschaften des ausgedehnten und denkenden Wesens betrifft; so hat man den Beweis gefordert, daß sie nicht nur von disparater Natur sind, sondern sich einander widersprechen. Von Eigenschaften, die sich einander schnurstraks widersprechen, sind wir versichert, daß sie nicht eben dem Subjekte zukommen können; allein von Eigenschaften, die nichts mit einander gemein haben, schien dieses so ausgemacht noch nicht.

Als ich die Immaterialität zu erweisen hatte, stieß ich auf diese Schwierigkeit; und ob ich gleich der Meynung bin, daß der Grundsatz des Cartesius, dessen ich vorhin erwähnt, gar wohl ausser Zweifel gesetzt werden könnte; so sahe ich mich dennoch nach einer Beweisart um, die mit weniger Schwierigkeit nach der sokratischen Methode abgehandelt werden könnte. Ein Beweis des Plotinus, den einige Neuere weiter ausgeführt haben, schien mir diese Bequemlichkeit zu versprechen.

»Einer jeden Seele, schließt Plotinus13, wohnet ein Leben (ein inneres Bewußtseyn) bey. Wenn nun die Seele ein körperliches Wesen seyn sollte; so müßten die Theile, aus welchen dieses körperliche Wesen bestehet, entweder ein jeder, oder nur einige, oder gar[152] keine derselben ein Leben (inneres Bewußtseyn) haben. Hat nur ein einziger Theil Leben; so ist dieser Theil die Seele. Mehrere sind überflüßig. Soll aber jeder Theil insbesondere des Lebens beraubt seyn; so kann solches auch durch die Zusammensetzung nicht erhalten werden; denn viele leblose Dinge machen zusammen kein Leben aus, viele verstandlose Dinge keinen Verstand.«

In der Folge wiederholet Plotinus denselben Schluß, mit einiger Veränderung: »Ist die Seele körperlich, wie stehet es um die Theile dieses denkenden Körpers? Sind sie auch Seelen? Und die Theile diese Theile? Gehet dieses anders immer so fort; so siehet man ja, daß die Größe zum Wesen der Seele nichts beyträgt, welches doch geschehen müßte, wenn die Seele eine körperliche Größe hätte. In unserm Fall würde jedem Theile die Seele ganz beywohnen, da bey einer körperlichen Größe kein Theil dem Ganzen an Vermögen gleich seyn kann. Sind aber die Theile keine Seelen; so wird auch aus Theilen, die keine Seelen sind, keine Seele zusammengesetzt werden können.« – Diese Gründe haben allen Schein der Wahrheit; allein zur völligen Ueberzeugung fehlt ihnen noch vieles. Plotinus setzet als unzweifelhaft voraus, daß aus unlebenden Theilen kein lebendes Ganze, aus undenkenden Theilen kein denkendes Ganze zusammengesetzt werden könne. Warum aber kann aus unregelmäßigen Theilen ein regelmäßiges Ganze, aus harmonielosen Tönen ein harmonisches Concert, aus unmächtigen Gliedern ein mächtiger Staat zusammengesetzt werden?

Ich wußte auch, daß nach dem System jener Schule, der ich zu sehr anhängen soll, die Bewegung aus solchen Kräften, die nicht Bewegung sind, und die Ausdehnung aus Eigenschaften der Substanzen, die etwas ganz anders, als Ausdehnung sind, entspringen sollen. Diese Schule also kann den Satz des Plotinus gewiß nicht in allen Fällen gelten lassen, und gleichwohl scheinet derselbe in Absicht auf das denkende Wesen seine völlige Richtigkeit zu haben. Ein denkendes Ganze aus undenkenden Theilen dünkt einem jeden der gesunden Vernunft zu widersprechen.

Um von diesem Satze also überzeugt zu seyn, war noch zu untersuchen, welche Eigenschaften dem Ganzen zukommen können, ohne daß sie den Bestandtheilen zukommen, und welche nicht. Zuerst fiel in die Augen, daß solche Eigenschaften, welche von der Zusammensetzung und Anordnung der Theile herrühren, den Bestandtheilen[153] nicht nothwendig zukommen. Von dieser Art ist Figur, Größe, Ordnung, Harmonie, die elastische Kraft, die Kraft des Schießpulvers u. d. g. – Sodann fand sich auch, daß öfters Eigenschaften der Bestandtheile Erscheinungen im Ganzen hervorbringen, die, unserer Vorstellung nach, von ihnen völlig unterschieden sind. Die zusammengesetzten Farben scheinen uns den einfachen unähnlich zu seyn. Wir fühlen die zusammengesetzten Gemüthsbewegungen ganz anders, als die einfachen, aus welchen sie bestehen. Wohlriechende Theile, die gehäuft werden, erzeugen einen ganz verschieden scheinenden, zuweilen sehr unangenehmen Geruch, so wie im Gegentheil durch Vermischung übelriechender Glimmen ein angenehmer Geruch erhalten werden kan (s. Halleri Physiol. T. V. p. 169. 170.). Der Dreyklang in der Tonkunst, wenn er zugleich angestimmt wird, thut eine ganz andere Wirkung, als die einzelnen Töne, aus welchen er bestehet.

Die Eigenschaften des Zusammengesetzten also, die den Bestandtheilen nicht nothwendig zukommen, fliessen entweder aus der Anordnung und Zusammensetzung dieser Theile selbst, oder sind bloße Erscheinungen, nehmlich die Eigenschaften und Wirkungen der Bestandtheile, die unsere Sinne nicht aus einander setzen und unterscheiden können, stellen sich uns im Ganzen anders vor, als sie wirklich sind. Nunmehr machte ich die Anwendung von dieser Betrachtung auf den Satz des Plotinus.

Das Vermögen zu denken kann keine Eigenschaft von dieser Art seyn; denn alle diese Eigenschaften sind offenbar Wirkungen des Denkungsvermögens, oder setzen dasselbe zum voraus. Die Zusammensetzung und Anordnung der Theile erfordert ein Vergleichen und Gegeneinanderhalten dieser Theile, und die Erscheinungen sind nicht so wohl in den Sachen ausser uns, als in unserer Vorstellung anzutreffen. Beide Arten sind also Wirkungen der Seele, und können das Wesen derselben nicht ausmachen. Daher kann aus undenkenden Theilen kein denkendes Ganze zusammengesetzt werden.

Auch der andere Theil des Beweises erforderte eine weitere Ausführung. Es hat Weltweise gegeben, die den Atomen der Körper dunkele Begriffe zugeschrieben, woraus denn, ihrer Meynung nach, im Ganzen klare und deutliche Begriffe entspringen. Hier war zu beweisen, daß dieses unmöglich sey, und daß wenigstens einer von diesen Atomen so deutliche, so wahre, so lebendige u.s.w. Begriffe[154] haben müßte, als der ganze Mensch. Ich bediente mir zu diesem Behufe den Satz, den Hr. Plouquet so schön ausgeführt, daß viele geringere Grade zusammen keinen stärkern Grad ausmachen. Es giebt nehmlich eine Größe der Menge (quantitas extensiva), die in der Menge der Theile bestehet, aus welcher sie zusammengesetzt ist, und eine Größe der Kraft (quantitas intensiva), die auch Grad genennt wird. Wenn mehrere Theile hinzukommen, so nimmt die Größe von der ersten Art zu, aber der Grad erfordert eine innerliche Verstärkung, keine größere Ausbreitung. Man gieße lauliches Wasser zu laulichem Wasser; so wird die Menge des Wassers, aber nicht der Grad der Wärme vermehret. Viele Körper, die sich mit einer gleichen Geschwindigkeit bewegen, machen, wenn sie zusammenhangen, eine grössere Masse, aber keine grössere Geschwindigkeit aus. Der Grad ist in jedem Theile so groß, als im Ganzen, daher kann die Menge der Theile den Grad nicht verändern. Wenn dieses geschehen soll; so müssen die Wirkungen der Menge in Eine concentrirt werden, da denn an innerer Stärke so viel gewonnen werden kann, als die Ausdehnung abgenommen. So können viele schwache Lichter Eine Stelle stärker beleuchten, viele Brennspiegel Einen Körper stärker in Brand setzen. Je mehr Merkmale ein und eben dasselbe Subject an einem Gegenstande wahrnimmt, desto klarer wird die Vorstellung dieses Subjects von diesem Gegenstande. Es folget hieraus sehr natürlich, daß alle dunkele Begriffe der neben einander seyenden Atomen zusammen keinen deutlichen, ja nicht einmal einen minder dunkeln Begriff ausmachen können, wenn sie nicht in einem Subjecte concentrirt, von eben demselben einfachen Wesen gesammelt und gleichsam übersehen werden.

Die mehresten Gründe meines dritten Gesprächs sind aus Baumgartens Metaphysik und Reimarus vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion entlehnt. Von dem Beweise aus der Harmonie unserer Pflichten und Rechte habe ich bereits in dem Vorberichte erinnert, daß ich ihn noch nirgend gefunden habe. Ich setze dabey zum voraus, daß die Todesstrafen in gewissen Fällen Rechtens sind. Nun scheinet aber der Marquis Beccaria in seiner Abhandlung von den Verbrechen und Strafen diesen Satz in Zweifel zu ziehen. Da dieser Weltweise der Meynung ist, daß sich das Recht zu strafen einzig und allein auf den gesellschaftlichen Vertrag gründe, woraus denn die Unrechtmäßigkeit[155] der Todesstrafen freylich folget; so habe ich die Meynung selbst, in dieser zwoten Auflage, in einer Anmerkung zu widerlegen gesucht. Der Marquis selbst kann sich nicht entbrechen, die Todesstrafe in einigen Fällen für unvermeidlich zu halten. Er will zwar eine Art von Nothrecht daraus machen; allein das Nothrecht muß sich auf eine natürliche Befugniß gründen, sonst ist es bloße Gewaltthätigkeit. Ueberhaupt ist wohl der Satz nicht in Zweifel zu ziehen, daß alle Verträge in der Welt kein neues Recht erzeugen; sondern unvollkommene Rechte in vollkommene verwandeln. Wenn also die Befugniß zu strafen nicht in dem Rechte der Natur gegründet wäre; so könnte solches durch keinen Vertrag hervorgebracht werden. Gesetzt aber, das Recht zu strafen sey, ohne Vertrag, ein unvollkommenes Recht, wiewohl ich dieses für ungereimt halte; so verlieret mein Beweis dennoch nichts von seiner Bindigkeit, denn vor dem Richterstuhle des Gewissens sind die unvollkommenen Rechte eben so kräftig, die unvollkommenen Pflichten eben so verbindlich, als die vollkommenen. Ein unvollkommenes Recht, jemanden am Leben zu strafen, setzet wenigstens eine unvollkommene Obliegenheit voraus, diese Strafe zu leiden. Diese Obliegenheit wäre aber ungereimt, wenn unsere Seele nicht unsterblich wäre.

In der Neuen Biblioth. der schönen Wissenschaften (B. VI.) findet sich eine ausführliche Anzeige und Beurtheilung des Phädons, die vortrefliche Anmerkungen enthält. Die Gedanken über das philosophische Dialog, die der Recensent vorausschickt, können zum Muster dienen, wie ein Kunstrichter sich als Sachverständigen rechtfertigen sollte, bevor er meistert. – Daselbst wird wider den Beweis von der Collision der Pflichten erinnert, daß er einen Zirkel enthalte. »Daß es eine Pflicht sey, wird gesagt (S. 331.), für irgend jemanden der Erhaltung unsers Lebens zu entsagen, wissen wir ja nirgends anders her, als weil wir höhere Endzwecke als das Leben zu kennen glauben; würde dieses als ein Irrthum bewiesen; so fielen jene Pflichten weg, und mit ihnen zugleich der Widerspruch.« Ich glaube hierdurch auf keinerley Weise widerlegt zu seyn. Der Beweis kann verschiedene Wege nehmen, die ohne Zirkel zum Ziele führen. Einmal gehe man von der Verbindlichkeit zum geselligen Leben aus. Diese kann unabhängig von der Unsterblichkeit der Seele erwiesen werden, gründet sich also, wie alle moralische Wahrheiten, auf metaphysische Sätze. Der Ausführung hiervon wird man mich hoffentlich[156] überheben, da sie mich offenbar zu weit führen würde, und diese Sätze von andern schon hinlänglich bearbeitet worden sind. Nun kann keine menschliche Gesellschaft bestehen, wenn das Ganze nicht in gewissen Vorfällen das Recht hat, das Leben eines ihrer Glieder dem gemeinen Besten aufzuopfern. Diesen Satz hat Epikur, Spinoza und Hobbes nicht läugnen können, ob sie gleich keine höhere Endzwecke, als das Leben, erkennen wollten. Sie sahen wohl ein, daß kein geselliges Leben unter den Menschen statt finden könne, wenn dem Ganzen dieses Recht nicht eingeräumt würde. Allein da die Begriffe von Recht und Pflicht nicht entwickelt genug waren, so merkte man nicht, daß dieses Recht auch auf Seiten des Bürgers die Pflicht voraus setzet, sich dem Wohl des Ganzen aufzuopfern, und daß diese Pflicht der Natur nicht gemäß sey, wenn die Seele nicht unsterblich ist.

Ich kann auch, wie in dem letzten Gespräche geschehen, von der Gerechtigkeit eine Beleidigung zu ahnden, ausgehen, die in der That auch im Stande der Natur dem Menschen zukommen muß, wie in der Note zu S. 195. ausgeführt worden. Der Recensent macht zwar wider meine Gründe folgende Erinnerung. »Das Recht der Wiedervergeltung in dem natürlichen Zustande, und das Recht zu strafen in der bürgerlichen Gesellschaft sind in der That zwey verschiedene Rechte. Das erste beziehet sich blos auf die Person, die beleidiget hat, ihr das Vermögen und den Willen zu benehmen, uns künftig wieder zu beleidigen: das andere gehet auch auf alle übrige Personen der Gesellschaft, die uns nicht beleidiget haben, sie von dem Verbrechen, durch die Erfahrung der physischen Uebel, die sie daraus zu erwarten haben, abzuschrecken; das erste gründet sich lediglich auf das Recht sich zu vertheidigen, oder ist vielmehr mit demselben einerley; bey diesem aber bleibt dem Beleidiger selbst das Recht, sich auch unsrer Rache entgegen zu setzen; das andere gründet sich auf die freywillige Uebertragung aller seiner vollkommenen Rechte an die Gesellschaft; wodurch also auf Seiten des Beleidigers das Recht aufgehoben wird, sich gegen die Rache zu vertheidigen, die von der ganzen Gesellschaft herkömmt u.s.w.« Allein ich sehe nicht ein, wie ihm diese Unterscheidungen eingeräumt werden können. Das Recht der Wiedervergeltung in dem natürlichen Zustande? Ich kenne kein Recht der blossen Vergeltung, oder der Rache, in der menschlichen Natur, das Böses thut, weil Böses geschehen ist, wodurch das[157] physische Uebel vermehret wird, ohne moralisch Gutes zu befördern. Und warum soll der Mensch im Stande der Natur nicht die Absicht haben dürfen, andere von Beleidigungen abzuschrecken? Gehört etwa hiezu ein gesellschaftlicher Vertrag? Muß der Mensch erst einen Theil seiner Rechte an die Gesellschaft übertragen haben, bevor er andern zeiget, daß er eine Beleidigung zurück geben kann? – Endlich hebet das Gegenrecht, das den Beleidigern zukommen soll, sich der Rache zu widersetzen, offenbar die Harmonie der moralischen Wahrheiten auf, und setzet einen Fall fest, wo das Recht auf beiden Seiten gleich seyn kann, wo die Stärke also nothwendig entscheiden muß, einen natürlichen Zweykampf. Einen Satz, der in dem System der moralischen Wahrheiten Unordnung anrichtet, halte ich für nicht minder ungeräumt, als wenn die Harmonie metaphysischer Wahrheiten dadurch gestört werden sollte. Diese Dissonanz zu vermeiden, müssen wir auch im Stande der Natur von Seiten des Beleidigers eine Pflicht annehmen, die Ahndung zu dulden. – Käme dem Beleidiger im Stande der Natur ein Recht der Vertheidigung zu; so würde es auch in der Gesellschaft nicht ohne Wirkung bleiben können. Denn wenn der Beleidigte sein Recht der Vergeltung und der Beleidiger sein Recht der Vertheidigung an die Gesellschaft übertrüge; so würden sie sich einander aufheben, und es könnte keine Strafe erfolgen. Es ist also nicht möglich, die moralische Welt von Widersprüchen zu befreyen, wenn man kein zukünftiges Leben gestatten will.

Daß es aber Fälle gebe, wo die Todesstrafe das einzige Mittel ist, künftige Beleidigungen zu verhüten, hat Beccaria selbst nicht in Zweifel gezogen, wiewohl er mit Recht sie für so häufig nicht hält, als in den eingeführten peinlichen Rechten angenommen wird. Ueberhaupt hält die Strafe mit dem Verbrechen gleiche Schritte. Wie dieses keine Grenzen kennet, so auch jene, und es ist kein Grad so hoch, den sie nicht erreichen könne. Es giebt auch zwischen Marter und Tod keine bestimte Schranken, die man der Strafgerechtigkeit anweisen konte; daher wenn in einigen Fällen erlaubt ist, jemanden zur Strafe zu peinigen; so muß es auch Fälle geben, in welchen es erlaubt ist, zur Strafe zu tödten, weil von Marter zum Tode ein allmäliger Uebergang ist, der nirgend durch bestimmte Grenzen unterbrochen wird. – Was der Recensent in der Folge noch erinnert, daß zwar aus der Natur der Dinge auf das Recht, nicht aber[158] aus dem Rechte auf die Natur der Dinge geschlossen werden könne, scheinet mir so nothwendig nicht. Wenn der Rückgang in einem Zirkel geschiehet; so ist er verboten. Wenn aber in der Einrichtung der Natur von meinem Gegner manches zugegeben, und manches geläugnet wird, soll ich nicht von dem Zugegebenen auf das Recht, und von dem Rechte auf den Theil der Natureinrichtung schließen können, der nicht hat zugegeben werden wollen?[159]


10

Plotinus sagt: Iam vero neque corpus omnino erit ullum, nisi animae vis extiterit. Nam fluit semper et in motu ipsa corporis natura versatur, citoque periturum est universum, si quaecunque sunt sint corpora.

11

Im Phädon.

12

In seiner Abhand. de lege continui, und in seinen Princ. phil. nat.

13

Ennead. 4. L. VII.

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.1, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt].
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