1. Die Möglichkeit des Wirkens

[66] Gung-Sun Tschou1 befragte den Mong Dsï und sprach: »Wenn Ihr, Meister, in Tsi die amtliche Laufbahn ergriffet, da wäre wohl eine Wiederholung der Taten eines Guan Dschung2 und Yän Dsï zu erhoffen?«

Mong Dsï sprach: »Du bist doch ein echter Mann aus Tsi. Kennst Guan Dschung und Yän Dsï und nichts weiter. Es fragte einmal jemand den Dsong Si3: ›Wer ist größer: Ihr oder Dsï Lu?‹ Da sprach Dsong Si bestürzt: ›Vor Dsï Lu hatte selbst mein Vater Respekt.‹ Jener fuhr fort: ›Wer ist größer: Ihr oder Guan Dschung?‹ Da stieg dem Dsong Si der Ärger ins Gesicht und er sprach unwillig: ›Wie magst Du mich mit Guan Dschung in eine Linie stellen? Dieser Guan Dschung: so völlig hat er seinen Fürsten in der Hand gehabt, so lange hat er die Staatsregierung geführt, und was er an Leistungen zustandegebracht hat, war so gering. – Wie magst Du mich mit dem in eine Linie stellen?‹ Du siehst nun, daß ein Dsong Si nicht gewillt war, die Rolle eines Guan Dschung zu spielen, und Du denkst, ich trachte darnach?«

Jener sprach: »Guan Dschung verschaffte, seinem Fürsten die Vorherrschaft. Yän Dsï verschaffte seinem Fürsten eine bedeutende Stellung. Und dennoch sollte es nicht der Mühe wert sein, es ihnen gleich zu tun?«

Mong Dsï sprach: »Als Herr von Tsi König der Welt zu werden, müßte im Handumdrehen möglich sein.«

Jener sprach: »Wenn es sich also verhält, so mehren sich noch meine Bedenken. Da war König Wen, ein Mann voll Geist und Kraft. Er starb erst mit hundert Jahren. Dennoch gelang es ihm noch nicht, sich durchzusetzen in der Welt. Es bedurfte der Fortführung durch seine Söhne, den König Wu und den Herzog Dschou, ehe der große Wurf gelang. Wenn es aber so etwas Leichtes ist, König der Welt zu werden, so wäre es nicht der Mühe wert, den König Wen zum Vorbild zu nehmen!«

Mong Dsï sprach: »Wer wollte es dem König Wen gleichtun! Von Tang bis auf Wu Ding4 waren sechs oder sieben würdige und heilige Herrscher an der Arbeit gewesen und die Welt war im Besitz des Hauses Yin seit langem. Lange dauernde Zustände lassen sich nur schwer ändern. Noch Wu Ding hatte die Fürsten[66] an seinem Hof versammelt und besaß die Welt, als drehte sie sich in seiner Hand. Der Tyrann Dschou Sin war von Wu Ding zeitlich noch nicht weit entfernt. Noch waren die alten Familien, die früheren Sitten, die herrschenden Gebräuche, die guten Ordnungen vorhanden; noch gab es einen Grafen We5, einen We Dschung, einen Prinzen Bi Gan, einen Grafen Ki, einen Giau Go, alles würdige Männer, die mit vereinten Kräften jenem zur Seite standen. Darum dauerte es lange, ehe er die Weltherrschaft verlor. Jeder Zoll Erde war in seinem Besitz, jeder Bürger war sein Untertan. Außerdem hat König Wen mit einem Besitz von nur hundert Geviertmeilen angefangen. Darum hatte er so große Schwierigkeiten.

In Tsi gibt es ein Sprichwort: ›Alle Klugheit und Weisheit ist umsonst, wenn man die Lage nicht zu nutzen weiß, gleichwie Pflug und Hacke nichts ausrichten, wenn man die rechte Zeit nicht trifft.‹ In jetziger Zeit ist das alles viel leichter. Die Herrscher der Häuser Hia, Yin und Dschou hatten zur Zeit ihrer größten Blüte nicht über tausend Meilen im Geviert Land. Tsi hat also das nötige Landgebiet. Man hört im ganzen Lande von einem Dorf6 zum andern den Hahnenruf und das Hundegebell. Tsi hat also auch die nötige Bevölkerung. Der Herr von Tsi bedarf keiner Vergrößerung seines Landes, keiner Vermehrung seines Volkes. Übt er ein mildes Regiment, so wird er König der Welt, und niemand kann ihn hindern. Außerdem gab es noch keine Zeit, in der so selten ein wahrer Herrscher aufgestanden wäre wie in unsrer. Es gab noch keine Zeit, wo das Volk so sehr unter grausamem Regiment zu leiden hatte, wie in unserer. Ein Hungriger ist leicht zu speisen, ein Durstiger ist leicht zu tränken. Meister Kung hat gesagt: ›Geistiger Wert wird rascher bekannt als ein Befehl, der durch Postreiter verbreitet wird.‹ Wenn in heutiger Zeit ein Großstaat mildes Regiment übt, so ist das Volk erleichtert, wie wenn man einen, der mit dem Kopf nach unten aufgehängt ist, aus seiner Lage befreit. Darum könnte man im Dienst eines Mannes, der auch nur halbwegs den Alten gleicht, sicher die doppelten Ergebnisse zustandebringen. Es liegt einfach an der Zeit.«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 66-67.
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