3. Freundschaft

[149] Wan Dschang sprach: »Darf ich nach dem Wesen der Freundschaft fragen?«

Mong Dsï sprach: »In der Freundschaft darf man sich nichts einbilden auf Alter, nichts einbilden auf Rang, nichts einbilden auf seine Verwandtschaft. Sucht man einen zum Freund, so ist es sein Charakter, den man sucht; jeder Gedanke an Äußeres muß fern bleiben.

Mong Hiän Dsï9 war aus einem mächtigen Adelsgeschlecht. Er hatte fünf Freunde: Yüo-Dschong Kiu, Mu Dschung und drei andere, deren Namen ich vergessen habe. Diese fünf waren seine Freunde, weil es für sie Rang und Stand des Mong Hiän Dsï nicht gab. Wenn diese fünf auch Mong Hiän Dsïs Rang und Stand im Auge gehabt hätten, so hätte er nicht mit ihnen Freundschaft geschlossen. Und nicht nur hohe Adlige machten es so, auch Fürsten kleinerer Staaten gab es von dieser Art. Der Fürst Hui von Bi10 sprach: ›Ich stehe mit Dsï Sï so, daß ich ihn als Lehrer ehre; ich stehe mit Yän Bau so, daß ich ihn als Freund schätze; Wang Schun und Tschang Si: das sind Untergebene von mir.‹ Und nicht nur Fürsten kleiner Staaten machten es so, auch Fürsten großer Staaten gab es von dieser Art. Fürst Ping11 von Dsin stand so zu Hai Tang, daß, wenn dieser ihn eintreten hieß, er eintrat; hieß er ihn sitzen, so setzte er sich; hieß er ihn essen, so aß er. Auch wenn es nur groben Brei und Gemüsesuppe gab, aß er sich immer satt: er würde es für ungehörig gehalten haben, nicht satt zu essen. Doch dabei ließ er es dauernd bewenden. Er teilte nicht mit ihm die von Gott verliehene Stellung12, er waltete nicht gemeinsam mit ihm des gottverliehenen Amtes und genoß nicht gemeinsam mit ihm der gottverliehenen Einkünfte. Er ehrte diesen Würdigen nach Art eines Gelehrten, nicht nach Art eines Landesfürsten. Schun trat vor den Herrn13. Der Herr wies ihm als seinem Schwiegersohn Wohnung an im zweiten Palast. Er nahm auch teil an Schuns Mählern. Abwechselnd waren sie Wirt und Gast. Das ist ein Beispiel, wie der Herr der Welt mit einem Mann aus dem Volke Freundschaft schloß.

Als Geringer einen Höheren schätzen, heißt Vornehmheit achten; als Höherer einen Geringeren schätzen, heißt Würde ehren. Achtung vor der Vornehmheit und Ehrung der Würde sind in gleichem Maße Pflicht.«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 149-150.
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