Von den Handwerken.

[77] Eine allen Männern und Frauen gemeinsame Kunst ist der Ackerbau, dessen Niemand unkundig ist. In ihm werden Alle von Kindheit auf unterrichtet, theils in der Schule nach überlieferten Lehren, theils, indem sie auf die der Straße nächstgelegenen Felder wie zum Spiel hinausgeführt werden, wo sie den Arbeiten nicht nur zusehen, sondern zugleich Gelegenheit zur Körperübung benützend, sie auch wirklich ausüben.

Außer dem Ackerbau (der, wie gesagt, Allen gemeinsam ist), erlernt Jeder eine beliebige Hantirung als seinen Beruf, wie z.B. die Wollweberei, die Flachsbereitung, das Maurer-, Schmiede-, Schlosser- und Zimmermannshandwerk. Denn es gibt kein anderes Handwerk, das dem Betriebe nach einigermaßen erwähnenswerth wäre.

Der Schnitt der Kleider ist, abgesehen davon, daß die Geschlechter von einander und der ledige Stand von den verheiratheten unterschieden sind, derselbe für die ganze Insel, und bleibt es für die ganze Lebenszeit, ist für's Auge gefällig und den Leibesbewegungen angemessen, auch sowohl für Winter- als Sommerszeit geeignet. Jede Familie verfertigt sich ihre Kleider selbst.

Von allen den genannten Handwerken nun erlernt Jedermann irgend eins, nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen. Uebrigens haben die letzteren, als die Schwächeren, nur die leichteren Verrichtungen auf sich, den Männern sind die übrigen mühsamen Handwerke übertragen. Meistentheils wird jeder im väterlichen Handwerk erzogen, denn die Meisten neigen von Natur dahin. Wenn aber Einer eine andere Neigung hat, wird er[77] durch Adoption in jene Familie aufgenommen, die dieses Gewerbe betreibt, aber nicht nur vom Vater, sondern auch von der Obrigkeit wird Vorsorge getroffen, daß er einem gesetzten und ehrenhaften Familienvater übergeben werde.

Hat Einer ein Handwerk gründlich erlernt und wünscht noch ein anderes zu erlernen, so wird ihm das ebenfalls gestattet. Hat er beide inne, so mag er ausüben, welches er will, wofern nicht das eine in der Stadt mehr benöthigt ist.

Die hauptsächlichste und beinahe einzige Beschäftigung der Syphogranten ist, dafür zu sorgen und vor zusehen, daß nicht Jemand dem Müßiggange nachhänge, sondern Jeder seinem Handwerke emsig obliege, doch braucht er deswegen nicht von Morgens früh bis spät in die Nacht beständig wie das Vieh bis zur Ermattung zu arbeiten, was doch fast allenthalben sonst das harte Arbeitsloos der Dienstbarkeit und des Handwerkerstands ist, ausgenommen bei den Utopiern, die, obwohl sie den Tag mit Hinzurechnung der Nacht in vierundzwanzig gleiche Stunden theilen, doch nur sechs für die Arbeit bestimmen; drei Stunden Vormittags, worauf sie zur Mittagsmahlzeit gehen; nach dem Essen zwei Stunden Ruhezeit, dann wieder drei der Arbeit gewidmete, worauf sie mit dem Abendmahl Feierabend machen. Da sie die erste Stunde von Mittag an rechnen, so gehen sie um acht Uhr schlafen und widmen acht Stunden dem Schlafe.

Die Zeit zwischen den Stunden der Arbeit, dem Schlafe und dem Essen ist Jedem nach seinem Gutdünken freigestellt; nicht daß er dieselbe in Ueppigkeit oder in Trägheit verbringen soll, sondern was ihm von seiner Handwerksthätigkeit freie Zeit bleibt, das verwendet Jeder nach seiner individuellen Neigung auf die Erlernung einer andern Fertigkeit.

Die Mußezwischenzeit verwenden die Meisten für die Wissenschaften. Denn es ist ein sehr schöner Gebrauch, täglich in den Frühstunden öffentlichen Unterricht zu halten, welchem diejenigen beiwohnen müssen, die speziell für die Wissenschaften bestimmt sind. Uebrigens besuchen diese Unterrichtsstunden zahlreiche Männer und Frauen aus allen Ständen, der Eine diese, ein Andrer andere,[78] wie Jeder eben Lust und Geschmack hat. Wenn aber Jemand auch diese Zeit lieber mit seiner Beschäftigung verbringt, wie so Mancher thut (dessen Geist nicht zum reinen wissenschaftlichen Denken angelegt ist), so wird ihm das nicht verwehrt, sondern er wird dafür noch gelobt, weil er dem Gemeinwohl sich so nützlich erweist.

Nach dem Abendessen verbringen sie eine Stunde mit Spielen, im Sommer in den Gärten, im Winter in den gemeinschaftlichen Speisesälen. Dort treiben sie entweder Musik, oder ergötzen sich im Gespräche.

Das Würfelspiel und derartige alberne und verderbliche Spiele kennen sie nicht. Aber zwei Spiele sind im Schwange, die eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Schachspiel haben. Das eine ist ein Kampf der Zahlen, worin eine Zahl die andere raubt. In dem andern kämpfen Laster mit Tugenden in aufgestellter Schlachtordnung. In diesem Spiele wird sehr sinnreich sowohl der Widerstreit der Laster untereinander, wie ihr einmüthiges Zusammenhalten gegen die Tugenden gezeigt, ebenso, welche Laster das Widerspiel der verschiedenen Tugenden sind, mit welchen Kräften sie sich offen gegen diese empören, und mit welchen geheimen Ränken sie ihnen auf krummen Wegen nachstellen, und mit welchen Hilfsmitteln andererseits die Tugenden die Macht der Laster brechen und ihre Lockungen vereiteln und auf welche Art und Weise der Sieg auf der einen oder andern Seite errungen wird.

Aber um keine falschen Vorstellungen aufkommen zu lassen, ist hier etwas näher zuzusehen. Denn da nur sechs Stunden gearbeitet wird, so könnte man vielleicht der Meinung sein, daß daraus ein Mangel an den nothwendigsten Erzeugnissen entstehen müsse.

Aber das ist so wenig der Fall, daß besagte Zeit zur Herstellung einer Fülle von Dingen, die zu den Lebensbedürfnissen und Lebensannehmlichkeiten gehören, nicht nur genügt, sondern mehr als ausreichend ist, was ihr leicht einsehen werdet, wenn ihr bedenkt, ein wie großer Theil des Volkes bei andern Nationen[79] müßig geht. Erstens fast alle Frauen, die Hälfte der ganzen Bevölkerung, oder, wo die Frauen thätig sind, faulenzen an ihrer Statt meistens die Männer. Wie groß ist ferner die müßiggehende Schaar der Priester und Mönche?! Dazu kommen sodann die Reichen, meist Großgrundbesitzer, gewöhnlich die Junker und Adeligen genannt; dazu rechne ferner die Schaaren Diener und den gesammten Schwarm müßiggängerischer Gefolgschaft, endlich die gefunden, kräftigen Bettler, die alle möglichen Krankheiten zum Vorwand für ihre Faulheit nehmen.

Sicherlich würdest du die Anzahl Derer, durch deren Tätigkeit die Produkte zu Stande kommen, die zum täglichen Gebrauche dienen, geringer finden, als du wohl wähnen dürftest. Nun überlege bei dir, wie Wenige von diesen selbst wieder sich mit praktisch nützlichen, nothwendigen Handwerken beschäftigen.

Wo Geld der Maßstab aller Dinge ist, da müssen viel eitle und überflüssige Künste betrieben werden, die nur dem Luxus und den Lüsten dienen. Denn wenn dieselbe Anzahl von Leuten, die heutzutage überhaupt arbeiten, auf die wenigen Handwerke vertheilt würde, die der natürlich einfachen Lebensweise nach bloß erforderlich sind, so würden die Preise so sehr sinken, daß die Handwerker von ihrer Arbeit ihren Lebensunterhalt nicht mehr zu bestreiten vermöchten. Aber wenn alle Jene, die jetzt in müßigen Künsten und Gewerken beschäftigt sind, zusammt der ganzen Schaar, die sich in Müßiggang und Nichtsthun langweilt, und deren Jeder von den Erzeugnissen, die durch wirklich Arbeitende hergestellt werden, doppelt so viel verbraucht, als ein nützlicher Arbeiter, alle in praktisch nützlichen Berufen untergebracht würden, so würdest du mit Leichtigkeit gewahr werden, wie so sehr wenig Zeit mehr als übergenug ist, um alles das zu liefern, was entweder der unbedingte Lebensbedarf, oder die Behaglichkeit und selbst das Vergnügen – doch nur das wahre und natürliche – erheischt.

Und das erhellt in Utopien aus den Thatsachen selbst. Denn dort sind in einer ganzen Stadt mit sammt ihrer nächsten Umgegend aus der gesammten Zahl der Männer und Frauen, die dem Alter und[80]

den Körperkräften nach zur Arbeit tauglich sind, kaum fünfhundert, die davon befreit sind. Unter diesen dispensiren sich die Syphogranten (die gesetzlich der Arbeit überhoben sind) nicht einmal selbst vom Arbeiten, um die Uebrigen um so leichter durch ihr Beispiel zur Arbeit einzuladen.

Derselben Immunität erfreuen sich diejenigen, welchen das Volk zufolge der Empfehlung der Priester und den geheimen Abstimmungen der Syphogranten zum Studium der Wissenschaften lebenslängliche Befreiung gewährt. Wenn so einer die auf ihn gesetzten Hoffnungen getäuscht hat, so wird er in die Klasse der Handwerker zurückversetzt; und umgekehrt kommt es gar nicht so selten vor, daß ein Handwerksmann seine ersparten Mußestunden so emsig den Wissenschaften zuwendet, daß er ansehnliche Fortschritte macht, und, von seinem Handwerk befreit, in die Klasse der Geleierten aufsteigt.

Aus diesem Stande der Gelehrten werden die Gesandten, die Priester, die Traniboren, wird endlich der Fürst selbst erwählt, den sie in ihrer alten Sprache Barzanes, in der neueren Ademus nennen.

Da die ganze übrige Bevölkerung weder unbeschäftigt, noch in unfruchtbaren Handwerken beschäftigt ist, so ist leicht zu taxiren, in wie wenigen Stunden so viel nützliche Arbeit in den erwähnten Beziehungen vor sich gebracht werden kann; dazu kommt noch der erleichternde günstige Umstand, daß sie in den meisten unentbehrlichen Gewerken weniger Arbeitszeit verbrauchen, als andere Völker.

Denn erstens kostet die Aufführung und die Reparatur der Gebäude anderwärts überall viele und beständige Arbeit, weil, was der Vater gebaut hat, ein fahrlässiger Erbe nach und nach verfallen läßt, während er es mit geringem Aufwande hätte in Stand halten können; dessen Nachfolger muß die Wiederherstellung dann von Frischem mit beträchtlichen Kosten besorgen lassen; nicht selten auch ist einer so zimperlich, daß er das mit großem Aufwande erbaute Haus als zu simpel verschmäht und es darum[81] vernachläßigt; wenn es dann binnen Kurzem verfällt, läßt er sich anderswo ein anderes mit nicht geringeren Kosten erbauen.

Aber bei den Utopiern, wo alle Verhältnisse wohl geordnet sind, und das Staatswesen bestens konsolidirt ist, kommt es nur selten vor, daß ein neues Haus auf einem Bauplatz aufgeführt wird, da vorhandenen Schäden nicht nur schleunig abgeholfen, sondern auch erst drohenden flugs begegnet wird.

So kommt es denn, daß die Gebäude mit einem Minimum von Arbeit ungemein lange dauern, so daß die Bauhandwerker zuweilen kaum etwas zu thun haben, außer mittlerweile Zimmerholz zu hobeln und Steine zu behauen, damit, wenn es einen Bau aufzuführen gibt, dieser um so rascher entstehen kann.

Nun sollst Du auch an der Kleidung sehen, wie wenig Arbeit die Utopier brauchen. Bei der Arbeit selbst sind sie ganz primitiv in Leder oder Felle gekleidet, die sieben Jahre aushalten. Wenn sie dann die Arbeit verlassen und auf die Straße gehen, ziehen sie ein Oberkleid über, welches jene gröbere Gewandung verdeckt; dieses hat dieselbe Farbe auf der ganzen Insel, und zwar die natürliche der Wolle. Sie brauchen daher viel weniger Tuchstoffe als anderswo und auch jenes eine Tuch kommt ihnen billiger.

Die Herstellungsarbeit ist bei Leinen geringer, daher wird es häufiger verwendet, aber bei Leinen wird nur auf die Weiße, bei Wollstoffen auf die Reinlichkeit gesehen, die größere Feinheit des Gewebes wird nicht bezahlt.

So kommt es, daß, während nirgendswo sonst vier oder fünf Wollkleider von verschiedenen Farben einem Manne genügen und den etwas Verwöhnteren nicht einmal zehn, dort Jedermann mit einem auskommt und das meist noch für zwei Jahre. Es gibt ja keinen Grund, warum er sich mehr wünschen sollte; er wäre mit ihnen weder gegen die Kälte mehr geschützt, noch würde er durch seine Kleidung um ein Haar schmucker aussehen.

Da sie sich nur mit nützlichen Gewerken und Künsten befassen, und in jedem Handwerk nur wenige Arbeiter benöthigt sind, so geschieht es, daß die Utopier zu Zeiten eine sehr große[82] Anzahl Leute zur Verfügung haben, welche die öffentlichen Straßen ausbessern können, wenn diese schadhaft geworden sind. Sehr oft aber, wenn auch diese Art Arbeit nicht von nöthen ist, wird öffentlich bekannt gemacht, daß die Zahl der Arbeitsstunden herabgesetzt ist. Denn die Obrigkeiten plagen die Bürger nicht mit unnützer überflüssiger Arbeit.

Die Organisation dieses Staatswesens hat vor allem diesen einen Zweck vor Augen, alle Zeit, so weit es die Arbeiten für die Bedürfnisse der Gesammtheit erlauben, den Bürgern zur Abstreifung der Knechtschaft des Leibes und zur Befreiung und Ausbildung des Geistes zu gute kommen zu lassen.

Denn darin sehen sie das wahre Glück des Lebens.

Quelle:
Thomas Morus: Utopia. München 1896, S. 77-83.
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