Fünfzehnter Abschnitt.
Sein und Nichtsein.

[93] Frage: Die dharmas haben jeder eigenes Wesen (svabhāva), weil mit Kraft (und) Wirken versehen. Wie ein Krug das Wesen eines Kruges, Tuch das Wesen eines Tuches hat. Wenn dieses Wesens Bedingungen (pratyaya) sich vereinigen, gehen (sie) hervor.

Antwort:

In den Bedingungen ist eigenes Sein (svabhāva): diese Sache ist eben nicht richtig. Das eigene Sein geht aus den Bedingungen (pratyaya) hervor: dann heißt es: »gewirkter dharma«. (XV. 1.)

Wenn die dharmas mit eigenem Sein (svabhāva) sind, so würden sie nicht aus Bedingungen hervorgehen. Weshalb? Wenn (sie) aus Bedingungen hervorgehen, dann sind diese gewirkten dharmas nicht wahrhaftig mit eigenem Sein (svabhāva).

Frage: Wenn der dharmas eigenes Wesen durch Bedingungen (pratyaya) gewirkt ist, welcher Fehler ist dann?

Antwort:

Das eigene Sein (svabhāva), wenn gewirkt, wie ist dieses richtig? svabhāva heißt »nicht gewirkt«, nicht abhängig von anderen dharmas (wird er) erreicht. (XV. 2.)

Wie Gold vermischt mit Kupfer nicht echtes Gold ist, so sind, wenn eigenes Sein (svabhāva) ist, Bedingungen (pratyaya) nicht nötig. Wenn es aus Bedingungen hervorgeht, wird man erkennen: es ist nicht echtes eigenes Sein (svabhāva). Ferner, wenn eigenes Sein absolut wahr ist, so würde es nicht aus (abhängig von) anderem hervorgehen. Da es nicht wie lang (und) kurz, dieser (und) jener ohne bestimmtes eigenes Sein (svabhāva) ist, ist es doch abhängig von anderem.

Frage: Wenn die dharmas nicht eigenes Sein haben, so würden sie anderes Sein haben (parabhāva).[94]

Antwort:

Wenn die dharmas nicht mit eigenem Sein (svabhāva) sind, wie sind sie mit anderem Sein (parabhāva)? Eigenes Sein beim anderen Sein (parabhāva) auch heißt »anderes Sein«. (XV. 3.)

Da der dharmas eigenes Sein (svabhāva) durch Bedingungen gewirkt ist, auch durch Abhängigkeit erreicht wird, ist nicht eigenes Sein (svabhāva). Wenn so, ist Anders-sein (parabhāva) bei anderem auch eigenes Sein (svabhāva), auch entsteht es durch Bedingungen, (und) der gegenseitigen Abhängigkeit wegen auch ist nicht Nichtsein. Wie sagt man deshalb: »Die dharmas entstehen durch Anderssein (parabhāva)«, da Anders-sein auch eigenes Sein (svabhāva) ist?

Frage: Wenn ohne eigenes Sein (und) anderes Sein die dharmas sind, welcher Fehler ist dann?

Antwort:

Ohne eigenes Sein (und) Anders-sein, wie kann weiter ein dharma sein? Wenn eigenes (und) Anders-sein ist, dann werden die dharmas erreicht. (XV. 4.)

Ihr lehrt: ohne eigenes (und) anderes Sein sind dharmas. Diese Sache ist nicht richtig. Wenn ohne eigenes (und) Anders-sein, dann sind nicht dharmas. Weshalb? Ist eigenes Sein (svabhāva) (und) Anders-sein (parabhāva), dann werden die dharmas erreicht. Wie die Substanz eines Kruges eigenes Sein (svabhāva) ist, die (davon) abhängigen Dinge Anders-sein (parabhāva) sind.1

Frage: Wenn durch Eigen-sein (und) Anders-sein (svabhāva-parabhāva) das Sein widerlegt ist, so würde jetzt Nichtsein sein.

Antwort:

Wenn das Sein nicht erreicht wird, wie ist das Nichtsein erreichbar? Da abhängig vom Sein die dharmas sind, so heißt (das), dessen Sein zerstört ist, »Nichtsein«. (XV. 5.)

Wenn ihr angenommen habt: »Sein wird nicht erreicht«, so müßtet ihr auch annehmen: »Nichtsein auch ist nicht.« Weshalb? Seiende dharmas, wenn (eig. »weil«) zerstört und vernichtet,[95] heißen Nichtsein. Dieses Nichtsein ist durch Zerstörung des Seins. Ferner:

Wenn Menschen Sein (und) Nichtsein sehen, Eigensein (und) Anderssein sehen, so sehen sie dann nicht die echte und tatsächliche Buddhalehre (dharma). (XV. 6.)

Wenn man alle dharmas tief-haftend und als wahrhaftig seiend sucht, so ist Seinsansicht (bhāva-dṛṣṭi). Wenn Eigensein widerlegt ist, so sehen sie Anderssein. Wenn Anderssein widerlegt ist, dann sehen sie Sein. Wenn das Sein widerlegt ist, dann sehen sie Nichtsein. Wenn Nichtsein widerlegt ist, dann sind sie verwirrt. Wenn ein scharfsinniger und wenig haftender Geist der Ansichten (dṛṣṭi) Vernichtung erkennt und sicher (und) ruhig ist, so entstehen daher nicht vier Arten Gerede (prapañcana). Diese Menschen sehen dann der Buddhalehre echte und tatsächliche Bedeutung. Deshalb lehrt er obigen śloka. Ferner:

Buddha kann Sein (und) Nichtsein vernichten. Im Kātyāyana-avavāda-sūtra ist gelehrt2: »Ohne Sein, auch ohne Nichtsein.« (XV. 7.)

Im śānta(?)-Kātyāyana-sūtra3 lehrt Buddha die Bedeutung der richtigen Anschauung (samyag-dṛṣṭi): »Ohne Sein, ohne Nichtsein.« Wenn in den dharmas auch nur wenig wahrhaftig seiend ist, dann würde Buddha nicht Sein (und) Nichtsein widerlegen. Wenn er Sein widerlegt, so sagen die Menschen: »Er behauptet Nichtsein.« Da Buddha der dharmas Wesen erkennt (und) durchschaut, lehrt er: »Beide sind nicht.« Deshalb müßtet ihr Sein- und Nichtsein-Sehen (dṛṣṭi) aufgeben. Ferner:

Wenn dharmas tatsächlich mit Selbstsein sind, so würde dann später nicht Nichtsein4 sein. Wenn das Selbstsein Anderssein sein (soll), so ist diese Sache niemals richtig. (XV. 8.)

Wenn die dharmas wahrhaftig Selbstsein haben, so würden sie sich niemals verändern. Weshalb? Wenn sie wahrhaftig (in) Selbstsein befindlich wären, so wäre nicht Anderssein. Wie[96] oben das Beispiel des echten Goldes. Jetzt offenbar gesehen, wird man die dharmas wegen des Andersseins als nicht absolut wahr seiend erkennen. Ferner:

Wenn ein dharma tatsächlich mit Selbstsein ist, wie kann er anders werden? Wenn ein dharma tatsächlich nicht mit Selbstsein ist, wie denn kann er anders werden? (XV. 9.)

Wenn ein dharma wahrhaftig mit Selbstsein ist, wie ist er zu verändern? Wenn nicht selbstseiend, dann ist nicht eigene Substanz: wie kann er sich verändern? Ferner:

»Wahrhaftig ist es«: dann ist śāśvata-vāda (Lehre des Ewigseins). »Wahrhaftig ist es nicht«: dann ist uccheda-vāda (Lehre des Abgeschnittenseins). Deshalb sollen Verständige nicht am Sein (und) Nichtsein haften. (XV. 10.)

Wenn dharmas wahrhaftig mit Sein vereigenschaftet sind, dann ist niemals Eigenschaft des Nichtseins: dann heißt es »śāśvata« (ewig). Weshalb? Wie (wenn einer) die drei Zeiten lehrt: in der Zukunft ist Seins- Eigenschaft (bhāva-lakṣaṇa). Diese dharmas kommen bis zur Gegenwart und gehen über in vergangene dharmas, doch geben sie ihr ursprüngliches Sein nicht auf: das ist śāśvata (ewig). Auch lehrt man: »In der Ursache ist vorher die Folge«: das auch ist śāśvata (ewig). Wenn man lehrt: »In Wahrheit ist Nichtsein«, so ist dieses Nichtsein sicherlich vorher, jetzt ist es nicht: alsdann heißt es »uccheda« (Abschneiden). uccheda heißt »unterbrochen« (eig. »zusammenhanglos«). Diese zwei Ansichten (dṛṣṭi) sind eben von der Buddhalehre entfernt.

Frage: Weshalb entsteht durch das Sein Ewigkeitsansicht (śāśvata-dṛṣṭi), entsteht durch das Nichtsein Vernichtungsansicht (uccheda-dṛṣṭi)?

Antwort:

Wenn ein dharma wahrhaftig seiend ist, niemals (eig. »nicht«) nicht ist, dann ist er ewig (śāśvata); vorher ist er, aber jetzt ist er nicht: dann ist Abgeschnittensein (uccheda). (XV. 11.)

Wenn ein dharma wahrhaftig ist, dann ist Seinseigenschaft, nicht ist Nichtseinseigenschaft; niemals würde er nicht sein.[97] Wenn Nichtsein, dann ist er nicht, dann heißt es »Nichtsein«.5 Des früher gelehrten Fehlers wegen ist so die Ansicht des Ewigseins (śāśvata-dṛṣṭi) eben hinfällig. Wenn ein dharma vorher ist, vernichtet aber ist er nicht, so heißt das »Vernichtung« (uccheda). Weshalb? Da Sein nicht Nichtsein sein könnte. Ihr sagt: »Da Sein (und) Nichtsein jedes bestimmte Eigenschaft hat, so ist, wenn uccheda- und śāśvata-Ansichten sind, nicht Böses und Gutes und derartiges die weltlichen Dinge Zerstörendes«. Deshalb soll man sie aufgeben.

1

Nach TE. KE. mit nicht ganz durchsichtiger Konstruktion: »Dinge (wie) Tuch Anderssein sind«.

2

TE.: »wie ... gelehrt ist«.

3

Vgl. Saṃyutta-nikāya, chin. Übers. (Nanjio Nr. 544), TE. XIII. 2. 54aff.

4

Nach TE.: »Verschiedenheit«.

5

TE.: »Der dharma ist nicht«.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 93-98.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wilbrandt, Adolf von

Gracchus der Volkstribun. Trauerspiel in fünf Aufzügen

Gracchus der Volkstribun. Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Geschichte des Gaius Sempronius Gracchus, der 123 v. Chr. Volkstribun wurde.

62 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon