Sechzehnter Abschnitt.
Bindung und Lösung.

[98] Frage: saṃsāra ist nicht ganz grund- (und) ursprunglos. Innerhalb (desselben) wäre Wandern (eig. »Gehen und Kommen«) der lebenden Wesen (sattva), oder die saṃskāras wandern. Welcher Gründe wegen lehrt ihr: die sattvas und saṃskāras sind völlig leer und wandern nicht?

Antwort:

Die saṃskāras wandern: ewig würden sie nicht wandern, nicht-ewig auch würden sie nicht wandern. Alle lebenden Wesen auch ferner sind so. (XVI. 1.)

Die saṃskāras wandern sechs Wege (gati) in saṃsāra: wandern sie ewig seiend, oder wandern sie nicht-ewig seiend? Alles beide ist nicht richtig. Wenn sie ewig seiend wandern, dann ist nicht Zusammenhang von saṃsāra, da sie wahrhaftig sind, und weil sie (in) Selbstsein verharren. Wenn sie [durch] nicht-ewig wandern, (dann) auch ist nicht Zusammenhang des Wanderns in saṃsāra, da sie nicht absolut wahrhaftig sind (und) nicht mit Selbstsein sind. Wenn wegen der lebenden Wesen Wandern ist1, dann auch ist solcher Fehler. Ferner:

Wenn die lebenden Wesen wandern, in den Gruppen (skandha), Elementen (dhātu), Gebieten (āyatana), fünffach gesucht, sind sie ganz und gar nicht. Wer ist Wanderer? (XVI. 2.)

saṃsāra und skandhas, dhātus, āyatanas haben eben eine Bedeutung. Wenn die lebenden Wesen (sattva) in diesen skandhas, dhātus, āyatanas wandern, so sind diese lebenden Wesen im Abschnitt über Brennen und Brennbares2 fünffach gesucht nicht[99] zu erreichen. Wer in den skandhas, dhātus, āyatanas ist es, der wandert? Ferner:

Wenn es von (einem) Körper (einen anderen) Körper erreicht und wandert, dann ist es ohne Körper. Wenn es nicht mit Körper ist, dann ist nicht Wandern. (XVI. 3.)

Wenn lebende Wesen (sattva) wandern, so wandern sie entweder mit Körper, oder sie wandern ohne Körper. Alles beide ist nicht richtig. Weshalb? Wenn sie mit Körper wandern, so erreichen sie mit einem Körper einen (andern) Körper; so wandern sie eben ohne Körper. Aber wenn schon vorher mit Körper, so würden sie nicht ferner durch (einen) Körper (einen anderen) Körper erreichen. Wenn vorher nicht mit Körper, dann ist (der Körper) nicht. Wenn er nicht ist, wie ist saṃsāra und Wandern?

Frage: Im sūtra wird gelehrt: »Es ist nirvāṇa, alle Leiden werden vernichtet.« (Wenn) diese vernichtet (sind), so würden die saṃskāras vernichtet (oder)3 die lebenden Wesen (sattva) vergehen.

Antwort: Alles beide ist nicht richtig. Weshalb?

Daß die saṃskāras vergehen, diese Sache ist niemals richtig; daß die lebenden Wesen (sattva) vergehen: diese Sache auch ist nicht richtig. (XVI. 4.)

Ihr lehrt: entweder vergehen die saṃskāras, oder die sattvas vergehen. Diese Sache ist früher schon beantwortet. Die saṃskāras sind nicht wesenhaft, die sattvas auch [sind (es) nicht].4 Auf verschiedene Weise gesucht ist saṃsāra-Wandern nicht erreichbar. Deshalb vergehen die saṃskāras nicht, die sattvas auch vergehen nicht.5

Einwand: Wenn so, dann ist nicht Gebundensein, ist nicht Erlösung, da sie ursprünglich nicht zu erreichen sind.

Antwort:

Die saṃskāras, mit Entstehen und Vergehen vereigenschaftet, werden nicht gebunden, auch werden sie nicht erlöst. Die sattvas, wie früher gelehrt, werden nicht gebunden, auch werden sie nicht erlöst. (XVI. 5.)

Ihr sagt: die saṃskāras und die sattvas sind gebunden (und)[100] erlöst. Diese Sache ist nicht richtig. Da die saṃskāras in jedem Augenblick entstehen (und) vergehen, so würde nicht Binden (und) Lösen sein. Die sattvas, wie früher gelehrt, sind fünffach gesucht nicht erreichbar. Wie ist Binden (und) Lösen? Ferner:

Wenn der Körper »Bande« heißt, so ist (etwas) mit Körper eben nicht gebunden, ohne Körper auch ist (es) nicht gebunden. An welchem denn ist Bande? (XVI. 6.)

Wenn man sagt: der Fünf-skandha-Körper heißt »Bande«, und wenn die sattvas vorher mit den fünf skandhas sind, dann würden sie nicht binden. Weshalb? Weil ein Mensch mit zwei Körpern wäre. Ohne Körper auch würde nicht Binden sein. Weshalb? Wenn nicht Körper ist, dann sind nicht die fünf skandhas. Sind nicht die fünf skandhas, dann ist Leer(heit) – wie ist zu binden? So ist auch ferner nicht ein drittes, das gebunden wird. Ferner:

Wenn das zu Bindende vorher gebunden (wäre), dann würde zu Bindendes gebunden werden können. Aber vorher ist tatsächlich nicht Binden (bandhana). Das übrige ist wie (beim) Gehen (und) Kommen beantwortet. (XVI. 7.)

Wenn man sagt: »Das zu Bindende ist vorher gebunden«, dann würde zu Bindendes zu binden sein. Aber tatsächlich ist ohne zu Bindendes vorher nicht Binden. Deshalb ist es nicht möglich zu sagen: »Die sattvas sind gebunden.« Einige sagen: »Die sattvas sind die zu Bindenden, die fünf skandhas sind die Banden«; andere sagen: »In den fünf skandhas sind die Qualen (kleśa); diese binden die übrigen fünf skandhas, diese sind die zu Bindenden.« Diese Sache ist nicht richtig. Weshalb? Wenn ohne die fünf skandhas vorher sattvas sind, dann würden durch die fünf skandhas die sattvas gebunden; aber tatsächlich sind ohne die fünf skandhas nicht besonders sattvas. Wenn ohne die fünf skandhas besonders die Qualen (kleśa) sind, dann würden durch kleśas die fünf skandhas gebunden, aber tatsächlich sind ohne fünf skandhas nicht besonders die kleśas. Ferner: Wie im Abschnitt über Gehen (und) Kommen6 gelehrt: das Gegangene geht nicht, das noch nicht Gegangene geht nicht, das Gehende geht nicht: so wird das noch nicht Gebundene nicht gebunden, das[101] Gebundene wird nicht gebunden, das (jetzt) Gebundenwerdende wird nicht gebunden. Ferner auch ist nicht Erlösen. Weshalb?

Das Gebundene ist nicht erlöst, das Nicht-gebundene auch ist nicht erlöst; (wenn) das (jetzt) Gebundenwerdende erlöst wird, dann sind Binden (und) Erlösen gleichzeitig. (XVI. 8.)

Das Gebundene ist nicht erlöst. Weshalb? Weil es schon gebunden ist. Das nicht Gebundene auch ist nicht erlöst. Weshalb? Weil es nicht gebunden ist. Wenn man sagt: »Das Gebundenwerdende ist erlöst«, dann sind Binden (und) Erlösen zu einer Zeit. Diese Sache ist nicht richtig. Auch wegen der Gegensätzlichkeit (pratidvandva) von Binden (und) Lösen.

Frage: Es sind Menschen, die den Pfad begehen, offenbar in nirvāṇa eintreten und Erlösung (mokṣa) erreichen. Wie sagt ihr: »Es ist nicht«?

Antwort:

»[Wenn] ohne Annahme (upādāna) der dharmas, werde ich nirvāṇa erreichen«: wenn ein Mensch so (denkt), selbst dann wird er durch Annehmen (upādāna) gebunden. (XVI. 9.)

Wenn ein Mensch so überlegt: »Ich erreiche ohne Annehmen (upādāna) nirvāṇa«, so ist dieser Mensch eben durch Annehmen gebunden. Ferner:

Nicht getrennt von saṃsāra besonders ist nirvāṇa. Der Sinn des tatsächlichen Seins ist so. Wie ist Unterscheidung? (XVI. 10.)

Der dharmas tatsächliches Sein im höchsten Sinne ist nicht gelehrt: »Getrennt von saṃsāra besonders ist nirvāṇa.« Wie im sūtra gelehrt wird: »nirvāṇa eben ist saṃsāra, saṃsāra eben ist nirvāṇa.« So (sind) die dharmas in (ihrem) tatsächlichen Sein. Wie sagt man: »[Wahrhaftig ist]7 saṃsāra und nirvāṇa«?

1

TE.: »wenn die lebenden Wesen wandern«.

2

10. Abschnitt. KE. fügt hier ein: »im Abschnitt über die fünf (sic!) Elemente«.

3

TE. bietet eine abweichende, ohne Zweifel fehlerhafte Lesart.

4

Nach TE. zu tilgen.

5

KE.: »sind ohne Vergehen«.

6

2. Abschnitt.

7

Nach TE. zu tilgen.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 98-102.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Robert Guiskard. Fragment

Robert Guiskard. Fragment

Das Trauerspiel um den normannischen Herzog in dessen Lager vor Konstantinopel die Pest wütet stellt die Frage nach der Legitimation von Macht und Herrschaft. Kleist zeichnet in dem - bereits 1802 begonnenen, doch bis zu seinem Tode 1811 Fragment gebliebenen - Stück deutliche Parallelen zu Napoleon, dessen Eroberung Akkas 1799 am Ausbruch der Pest scheiterte.

30 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon