2. Gorgias.

[42] Wie sehr der Meno in PLATOS Entwicklung eine entscheidende Wendung bedeutet, verrät das ihm sachlich und zeitlich nächststehende Werk, 6 der Gorgias, schon in der durchweg positiven Haltung, durch die es von den Schriften des im engeren Sinn sokratischen Charakters scharf absticht. Der Standpunkt einer bloß negativen Kritik ist endgültig und vollständig verlassen. PLATO setzt jetzt sozusagen sein Alles daran, zu einer zentralen, für immer festen Stellung in der entscheidendsten aller Fragen, der des Sittlichen, durchzudringen und damit zugleich die sichere Grundlage zu gewinnen für ein positives Wirken auf seine Zeit, nicht auf dem Wege der Öffentlichkeit, sondern auf dem weiteren aber sichereren der philosophischen Erziehung der zur einstigen Leitung des Gemeinwesens Berufenen. Die sittlichen Überzeugungen, die er verficht, sind keine andern als die sokratischen, wie schon die Apologie und der Krito sie bezeugen; aber sie treten hier zum ersten Mal nicht nur als entschlossene Bejahungen, sondern als radikal begründete, zwingend bewiesene Erkenntnisse, als Sätze einer Wissenschaft vom Guten auf, wie sie SOKRATES nach den eigenen Zeugnissen PLATOS sicher nicht zu behaupten gewagt hat. Und nicht bloß die theoretischen Lehrsätze, sondern auch deren praktische Folgerungen, welche[42] das ganze öffentliche Leben von damals verurteilen, nicht minder die kühne Absicht seines eignen Wirkens auf eine sittliche Reform des Staatswesens, das alles wird aufs positivste, mit dem Anspruch einer unausweichlichen logischen Notwendigkeit ausgesprochen. Man muß doch sagen, daß PLATO damit SOKRATES und den sokratischen Standpunkt seiner eignen ersten Schriften weit hinter sich gelassen hat.

Zwar noch immer läßt er den SOKRATES erklären, daß er nichts wisse von dem was er vorträgt (506 A, 509 A); aber doch habe noch jeder, der es anders zu sagen versuchte, sich lächerlich gemacht, wenn er von SOKRATES geprüft wurde (509 A, 527 AB); was man auf die früheren sokratischen Dialoge PLATOS, besonders den Protagoras und Meno, unbedenklich deuten darf. Noch entschiedener 509 A: was im Gespräch sich herausgestellt habe, das bleibe fest und wohlverwahrt mit eisernen und stählernen Gründen; 527 B: gegenüber so vielen Sätzen, die alle widerlegt wurden, bleibt dieser allein fest, ihn dürfen wir getrost zur Richtschnur des Lebens wählen. Nun handelt es sich hier überall, wie in den bisherigen Gesprächen, um die Begriffe des Sittlichen. Eben diese wurden bis dahin stets für noch nicht gefunden erklärt. Auch der Meno schloß damit, daß die Antwort auf die Frage: Was ist Tugend? noch ausstehe. Festgestellt wurde wohl, daß Tugend Erkenntnis ist und zwar des Guten, aber der Begriff des Guten war noch kaum in direkte Untersuchung gezogen, geschweige endgültig bestimmt. Im Gorgias zum ersten Mal wird er bestimmt. Das Gute wird ersichtlich, in negativer Hinsicht, endgültig geschieden von der Lust; es wird sodann positiv erklärt, zunächst allgemein und bloß formal als Endziel, ferner auch inhaltlich als Gesetz, Ordnung, als Eidos schon ganz im Sinne des unwandelbaren Urbilds, der »Idee«, wenn auch dieser Ausdruck nicht gebraucht wird. Wie wäre danach noch eine so ausschließlich negative Erörterung dieser selben Grundfragen möglich gewesen wie im Protagoras, Laches, Charmides und Meno? Auch über die besonderen Tugendbegriffe werden Festsetzungen getroffen, welche wesentlich mit denen übereinstimmen, die PLATO auch später, besonders im Staat, festgehalten hat. Im Protagoras Laches, Charmides werden Sonderbegriffe einzelner Tugenden nahezu geleugnet, während der Meno die Frage unentschieden ließ.

Wie hätten auch die Grundbegriffe des Sittlichen im Dunkel bleiben dürfen, wenn PLATO mit solcher Selbstgewißheit sich als Lehrer des Sittlichen hinstellen, das Verhalten der großen Staatslenker[43] und den gesamten öffentlichen Zustand seiner Stadt einer so in Grund und Boden verurteilenden Kritik vom sittlichen Standpunkt unterziehen durfte? Daß »Tugend lehrbar«, daß die Wissenschaft von ihr erreichbar sei, ist die unbedingte Voraussetzung dieser ganzen richterlichen Stellung, die er seiner Stadt, ja ganz Hellas gegenüber einzunehmen wagt. Und so ist für ihn diese Voraussetzung jetzt auch gar nicht mehr Gegenstand der Frage, sondern sie ist von Anfang bis zuletzt als entschieden angenommen und der ganzen Deduktion zu Grunde gelegt. Der gorgianischen Redekunst wird vorgerückt, daß sie nicht lehre, sondern nur überrede, nicht Wissen (mathêsis), sondern nur Glauben (pistis), subjektive Überzeugtheit statt objektiver Gewißheit wirke, damit aber in jeglicher Kunde und, was am bedenklichsten, im Sittlichen den Schein an Stelle der Wahrheit auf den Thron erhebe. Eine echte Redekunst müßte vielmehr zum Fundament die Wissenschaft des Sittlichen selbst haben; was der greise Rhetor selbst, vor der überlegenen Dialektik des SOKRATES die Waffen streckend, endlich kleinlaut genug und freilich ohne innere Üeberzeugung einzuräumen sich gezwungen sieht.

Diese Selbstgewißheit der endlich zu festen Positionen durchgedrungenen wissenschaftlichen Forschung bestätigt auch die ganz neue Bedeutung, die dem Worte Philosophie beigelegt wird. Es besagte vor PLATO und noch in den Schriften seiner Frühzeit nichts mehr als »Bildungsstreben«, Studium zwecks höherer Bildung. »Philosoph« war jeder um die höheren Stufen der Bildung Beflissene, so besonders der Schüler des berufsmäßigen »Bildungsmeisters«, des »Sophisten«. Dem steigenden Bildungsbedürfnis, das den eigenen Beruf des »Professors« der höheren Bildung eigentlich hervorrief und zur Blüte brachte, war in seiner zugleich bescheidneren und tieferen Weise auch SOKRATES entgegengekommen; er aber wollte darum nicht ein »Meister« der Bildung sein, sondern selbst nur ein »Beflissener«, nicht ein Professor der Weisheit, sondern nur ihr Student; nicht »Weiser«, sondern nur »Weisheitsfreund«. So diente ihm gerade dies Wort, die ausschließlich kritische, nicht nur undogmatische sondern antidogmatische Absicht seines Philophierens in Erinnerung zu halten. So könnte es etwa noch gedeutet werden, wenn SOKRATES im Gorgias Philosophie seinen Beruf und seine Liebe (481 D) nennt. Aber es geht weit darüber hinaus, wenn er (482 A) erklärt: Nicht ich, die Philosophie spricht so, sie widerlege wenn du kannst. Das ist ganz, wie wenn man heutzutage von einem Satze »der[44] Wissenschaft« redet. Und wenn dann durchweg dem Leben des Staatsmanns das des Philosophen gegenübergehalten wird, so will hier Philosophie etwas weit Anspruchsvolleres besagen als Bildungsbeflissenheit; es ist das Leben in der Wissenschaft. Ihr darf und soll man sein Leben weihen, denn in ihrer Kraft darf und soll man hoffen das Leben zu reformieren. Und weil der Ausdruck nicht bloß Wissenschaft, sondern zugleich den Anspruch bedeutet durch Wissenschaft das Leben auf neue Grundlagen zu stellen, so liegt darin für PLATO zugleich die direkteste Beziehung zu seinem persönlichen Wirken, zu dem auf dies erhabene Ziel gerichteten wissenschaftlich-sittlichen Verein, der um ihn sich zu bilden beginnt. Es ist im Gorgias allüberall deutlich zu erkennen: PLATO nimmt schon jetzt eine scharf bestimmte, hart angefochtene, aber eben durch die Wucht der Selbstbehauptung sich zusehends befestigende Stellung im Leben Athens ein. Er ist bereits gewissermaßen ein öffentlicher Charakter, trotz der erklärt privaten Art seines Wirkens und gerade in dieser anspruchsvollen Abseitsstellung. Er hat einen zwar noch kleinen (485 D), aber von nun ab rasch wachsenden Anhang hinter sich.

Aber kann denn, was der Gorgias von sittlicher Lehre entwickelt, mit dem Anspruch der Wissenschaft wirklich auftreten?

Jedenfalls die formalen Erfordernisse der Wissenschaft stehen dem Verfasser in bestimmtester Gestalt vor Augen. Die unsachliche Weise des gewöhnlichen Meinungskampfes ist mit überwältigender Wahrheit, man darf sagen, für alle Zeiten gültig gezeichnet: daß man durch Zeugenverhör, durch Stimmenzählen eine sachliche Frage zu entscheiden meint; daß man die Person des Behauptenden beurteilt, statt die Sache (ta onta, 495 A) zu prüfen, sich jederzeit willig dem Logos, der logischen Kritik, wie ein Kranker dem Arzt, darzubieten (476 D, 505 C), und immer redlich seine Meinung herauszusagen, damit doch die Wahrheit zum Vorschein komme, was ein gemeinsames Gut ist. Bei unverdrossenem Suchen, bei strenger Wahrung der Folgerichtigkeit im Denken muß sie zu finden sein. Man muß nur den Gedankengang immer streng im Einklang mit den Voraussetzungen zu Ende führen (454 C). Die logische Verknüpfung der Voraussetzungen und Folgen wird unablässig (sehr ähnlich dem Meno) eingeschärft (475 E, 461 A, 482 C, 490 E, 491 B, 498 E). Nicht nur die sokratische Induktion kommt zu häufiger Verwendung, sondern namentlich die Definition, das Verfahren mit Begriffen überhaupt hat eine überlegene Sicherheit und Bestimmtheit im Vergleich mit den bisherigen Schriften[45] erreicht (darüber bes. 463 C, vgl. Men. 71 B, 86 E). Neben dem Verbum »definieren« findet sich auch schon das Substantivum »Definition«, definierter Begriff, horos (488 D; es handelt sich um das Zusammenfallen der Begriffsgrenzen). Die möglichen Fehler beim Definieren, der zu weite Begriff (453 CD), die Vermischung von Begriffen (465 C), der Gegensatz (495 E u. ff; man beachte die induktive Erläuterung), auch schon das Prinzip, daß die Gegensätze nicht »zugleich« stattfinden (»zu gleicher Zeit und am gleichen Ort«, 496 E), das Verhältnis über- und untergeordneter Begriffe (Arten, eidê, oder Teile, moria, 454 E, 463 B, 464 B), mithin die Einteilung, die Entsprechung der Begriffe (464 C, 465 D), Proportionen unter Begriffspaaren, nach dem Vorbild der geometrischen Proportion (465 BC), das alles kommt, zum Teil ausführlich, zur Erörterung. Bereits an die spätere Terminologie der Ideenlehre streift der Ausdruck der Präsenz des Prädikats im Subjekt (parousia pareinai), mehr noch der Begriff als die Grundgestalt, Eidos, im »Hinblick« worauf man das Einzelne bestimmt (503 E, vgl. Men. 72 C), oder als Musterbild (paradeigma, 525 BC).

Und so kommt zur schärfsten Ausprägung der Gegensatz rational begründeter »Kunde« (technê, hier fast ganz im Sinne von »Wissenschaft«) gegen die der rationalen Grundlage entbehrende bloße Erfahrung (emteiria) oder Routine (tribê, meletê, 462 B, 463 A, 466 E). Das Merkmal echter »Kunde« ist die Einsicht aus dem Grunde (logos), der Ursache (aitia), der Natur (physis) des Gegenstands (465 A, 501 A); sie weiß Rechenschaft zu geben von ihren Behauptungen (logos dounai 501 A); wogegen die Empirie (nach dem uns schon bekannten Begriff, siehe oben S. 22 f.) sich begnügt mit der Wahrung der Erinnerung an das, was »gewöhnlich geschieht«; sie ist irrational (alogon pragma 465 A), sie geht ohne Begründung, ohne Berechnung (der Konsequenzen 466 E), kurz unlogisch, unwissenschaftlich (alogôs, atechnôs) zu Werke, sie beruht auf einem bloßen Tasten und glücklichen Treffen (464 C: »spürend, ich meine nicht erkennend, sondern bloß [durch gut Glück] treffend«: wo aisthanesthai ähnlich unbestimmt gebraucht ist wie Phaedr. 271 E); sie beruht bloß auf angeborener Treffsicherheit (463 A, psychês stochastikês. Dies stochazesthai kehrt noch im Philebus wieder). Wie hier der Gegensatz des rationalen und empirischen Verfahrens gezeichnet ist, so ist er im Altertum seitdem geltend geblieben. Ganz so wird noch bei Sextus dem »Empiriker«, bei Galen in Berichten über die »empirische« Ärzteschule, die Empirie definiert, als die[46] auf Grund der Erinnerung des oft Beobachteten oder dessen, was »gewöhnlich geschieht«, voraus gefaßte Vorstellung über das, was kommen wird; was sêmeiôsis, eigentlich Zeichendeutung genannt und stets dem rationalen Folgern entgegengestellt wird. Hier im Gorgias finden wir das erste Merkmal dieses späteren Begriffs, die Festhaltung dessen, was »gewöhnlich geschieht«, im Gedächtnis; im Protagoras, Laches, Charmides trafen wir die andere Bestimmung, die Vorausnahme des Kommenden, verglichen der Zeichendeutung des Sehers; beide zusammengehörigen Bestimmungen verknüpft die früher schon zitierte Stelle des Staats (506 C). Es scheint danach, daß diese bis in späte Zeit sich wiederholende Beschreibung des Erfahrungsschlusses in PLATOS Zeit bereits vorlag, er also darin auf eine schon vorhandene Theorie sich bezieht. Als einen ihrer Vertreter läßt gerade der Gorgias (448 C, vgl. Aristot. Metaph. I, 1) den Gorgianer POLOS vermuten; ihr Ursprung läßt sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit auf PROTAGORAS zurückführen, der dabei seinerseits an die »Prognose« der Mediziner angeknüpft, aber sie auf alle Gebiete empirischen Wissens ausgedehnt zu haben scheint. Bis heute dienen die Ausdrücke Vernunft – Erfahrung, Rationalismus – Empirismus zur Bezeichnung des immer wiederkehrenden, wie es scheint, unausrottbaren Grundgegensatzes in der Deutung der Erkenntnis. Fragt man, wo diese Entgegensetzung ihre geschichtlichen Wurzeln hat, so sieht man sich für die Ausdrücke wie für die Sache selbst auf PLATO, und bei diesem auf den Gorgias als frühestes ganz deutliches Zeugnis hingewiesen. Hervorgegangen aber ist der so verschärfte Begriff der »rationalen« Erkenntnis sichtlich aus der im Mono zuerst sich bekundenden sicheren Einsicht in die Bedeutung und das Verfahren logischer Begründung. Daß für diese aber das Vorbild der Mathematik, zunächst der Geometrie, von der die Zahlenlehre sich noch kaum geschieden hat, maßgebend war, das verriet schon der Meno und bestätigt in einer Reihe von Andeutungen der Gorgias (451 C, 454 C, 465 BC, 508 A).

Mit dem so verschärften Begriff der wissenschaftlichen »Kunde« hängt aber aufs engste zusammen die endgültige Bestimmung des Begriffs des Guten. Nachdem, auf Grund der Scheidung des Wollens vom Belieben (466 ff.), des Guten von der Lust (494-499), zunächst der formale Begriff des Guten als des einen, selbigen und letzten Zieles des Wollens (telos oder skopos, 467 C, 468 B, 499 E, 507 D) festgestellt worden, der schon durch[47] die logische Abhängigkeit des bloß folgeweise, um eines Andern willen, vom primär Gewollten auf den rationalen Weg der Begründung, auf einen letzten logischen Einheitspunkt in praktischer »Vernunft«, auf die Vernunftforderung der Einheit des praktischen Bewußtseins hindeutet, wird dieser Zusammenhang des Guten mit der Einheit der Erkenntnis, mit dem, was später die »Idee« heißt, ausführlich und bestimmt entwickelt (501-508). Nicht bloß ist das Gute allgemein Gegenstand der rational begründeten »Kunde«, wie das Angenehme Gegenstand der »Empirie« (500 f., wie anfangs schon festgestellt war, 464 f.), sondern die technisch richtige d.i. gesetzmäßige Verfassung macht überhaupt den Begriff des Guten aus; sie ist allgemein das, was ein Ding gut macht. Ein jeder Werkmeister (dêmiourgos) blickt bei seiner Arbeit auf sein eigentümliches Muster hin, bringt jedes Einzelne in eine bestimmte Anordnung (taxis), und bewirkt so, daß Eins zum Andern passen und sich fügen muß, bis das Ganze sich zusammenstellt (systêsêtai, systematisch gestaltet) zu einem geordneten organisierten Ding.7 Eben dies Merkmal aber der inneren Organisation ist es, welches ein Ding »gut« macht, was nicht nur besagen will, daß es seinem Zweck entspricht, als ob es seinen Zweck immer außer ihm selbst suchen müßte, sondern daß es die Bedingungen der Selbsterhaltung in sich trägt. Wie dies nun gilt von irgend einem Ding, das wir verfertigen, so nicht minder vom menschlichen Körper: Gesundheit und Stärke als »Tugend« (Güte) des Leibes (504 BC); und so endlich von der menschlichen Seele: Gesetzlichkeit (nominon, nomos, 504 D) und damit Gerechtigkeit, Besonnenheit, allgemein Tugend (im engeren, seelischen Sinn 504 E), die demnach besteht in der gesetzmäßig geordneten, so in Einstimmigkeit mit sich selbst gebrachten und dadurch sich selbst erhaltenden, heilen Verfassung der Seele.

Das Bemerkenswerteste in diesen und den weiter folgenden Ausführungen ist, daß unter dem Begriff des Gesetzlichen das Gute ganz in eine Reihe kommt mit jeglicher wissenschaftlichen und technischen Richtigkeit, zuletzt mit der Gesetzesordnung[48] des Universums, des äußern und des innern, des körperlichen und des unkörperlichen »Kosmos«. Die Betrachtung erhebt sich bis zu einer ganz universellen Zusammenfassung aller Probleme, theoretischer wie praktischer, unter dem einzigen höchsten Gesichtspunkt des Gesetzlichen überhaupt, als dessen, was allgemein die richtige, »technische« d.i. erkenntnisgemäße und damit gute Verfassung eines jeden einzelnen Dinges oder Werkes nicht nur, sondern des ganzen äußeren Universums, das daher die Benennung eines Kosmos trägt, und so auch des innern Universums, der Sittenwelt ausmacht. So 506 D: Gut (vorher: das Gute) ist das, durch dessen Anwesenheit wir gut sind. Wir sind es durch die Anwesenheit irgend einer »Tugend« (aretê, auch hier allgemein: »Güte«, vgl. oben S. 7). Die Tugend aber, wie eines jeden Geräts, so auch des Leibes, der Seele und des ganzen Lebendigen beruht nicht auf Ungefähr, sondern auf der Ordnung, Richtigkeit, technischen d.i. gesetzlichen Verfassung, die einem jeden zugeteilt ist. Das in Ordnung Gefügte, Organisierte also ist es, was die Tugend eines jeden ausmacht. Mithin ist es (allgemein) eine gewisse, und zwar für jedes eigentümliche Ding eigentümliche, organisierte Verfassung, die, wenn sie in etwas hineinkommt, es zu einem guten macht. So also auch die seelische Tugend. Nur durch sie ist auch eine seelische Gemeinschaft möglich (507 E): Es sagen aber die Weisen, Himmel und Erde, Götter und Menschen halte Gemeinschaft zusammen und Freundschaft, Wohlordnung, Besonnenheit und Gerechtigkeit, und sie nennen darum dies Ganze eine Weltordnung, einen Kosmos, nicht Unordnung noch Zügellosigkeit; die »geometrische Gleichheit« (Proportion als Gleichnis gesetzlicher Entsprechung) habe die größte Macht bei Göttern und Menschen, nicht das Mehrhabenwollen, was solche vorzuziehen pflegen, die sich – um die Geometrie nicht kümmern (608 A); eine Scherzwendung, deren sehr ernster Sinn ist der Zusammenhang des Guten als des Gesetzlichen mit dem Gesetze der Wissenschaft.

Das Gesetz als der wahre Inhalt der Wissenschaft, der Grund aller Richtigkeit und damit Güte, als das was jedem, dem Einzelnen und dem Ganzen, seine »Gestalt«, sein Eidos gibt, dies und nichts andres ist das Zentrum, in dem diese ganze bei aller Knappheit der Andeutung so tiefgründige wie weit ausgreifende Betrachtung zusammenhängt. Wir stehen hier schon unmittelbar an der Schwelle der »Idee«. Denn die Idee bedeutet das Gesetz, nichts andres. Und wenn nun eben dies, das Gesetz, der[49] Grund des Guten ist, so begreifen wir, weshalb als höchste der Ideen, nicht bloß der Schätzung, sondern auch der logischen Ordnung nach, als die Idee der Idee, als ihr letzter Seins- und Erkenntnisgrund später die Idee des Guten auftritt. Der letzte Sinn des Gesetzes überhaupt ist Einheit, Erhaltung der Einheit im Wechsel und Werden; allgemein theoretisch: Erhaltung der Einheit als Gesichtspunkt des Denkens zur Auffassung des Vielen, Differenten, zu dessen Bergung in der Erkenntnis; kosmologisch: Erhaltung des Grundbestandes des Seins in der Veränderung; ethisch und politisch: Erhaltung des Sinns und Willens der Gesetzlichkeit im Individuum und der eben dadurch erst begründeten Gemeinschaft. Erhaltung aber ist durchweg bei PLATO der Sinn des Guten.

Ist nun dies der letzte Kern der Ideenlehre, so ist hier im Gorgias wie mit Händen zu greifen, wie diese Lehre für PLATO in strenger Konsequenz der Entwicklung aus der Sokratik hervorgewachsen ist. Es ist die schon bei SOKRATES ganz positive Entdeckung der Erkenntnisform jetzt bereits zum schöpferischen Keim geworden für die Entwickelung einer vollinhaltlichen Erkenntnis, die auch nicht mehr beim Logischen und Ethischen allein stehen bleiben will, sondern durch Vermittlung des Mathematischen das Physische grundsätzlich mitumspannt, wenngleich vorerst nur in der allgemeinen Idee eines Kosmos.

Das Gesetz, d.i. die Denkeinheit, das Eidos, die Idee, ist es allgemein, was den Gegenstand (das on) konstituiert. Diese Einsicht ist hier bereits unmittelbar vorbereitet. Damit aber eröffnet sich der Ausblick auf eine umfassende Systematik der Wissenschaften, und auf eine letzte, »das Ganze«, Himmel und Erde, Göttliches und Menschliches, das heißt nach der für PLATO feststehenden Metaphernsprache: Ideenwelt und Erfahrung umspannende Systemeinheit der Wissenschaft, der Erkenntnis. Die ersten Grundlinien dieser Systematik sind schon im Gorgias zu erkennen. Schon die anfängliche Einteilung der echten wie der falschen »Künste«, von denen jene das wahre, diese das scheinbare Gute zum Gegenstand haben, zeigt dieselbe Gliederung, die PLATO später, namentlich im Staat, festgehalten hat; Gymnastik und Heilkunde dienen, jene der normalen Erhaltung des leiblichen Organismus, diese der Wiederherstellung der gestörten Normalverfassung; entsprechend Gesetzgebung und Rechtspflege, zusammengefaßt als Politik, der Erhaltung und Wiederherstellung der Normalverfassung des seelischen Lebens des Menschen, der[50] Gerechtigkeit (464 f.). Das psychische Gebiet wird, wie wir sehen, sogleich in der Form des Gemeinschaftslebens gedacht, wie es PLATO überhaupt naheliegt. Dem ganz verwandt ist die Stufenleiter der kala (474 D – 475 A), was mit »schöne Gegenstände« sehr unzulänglich wiedergegeben wird; der Begriff des kalon ist bei PLATO weit inhaltvoller, er läßt sich am ehesten verdeutlichen durch jenen des Kosmos, der innerlich organisierten Verfassung; man vergleiche vor allem den Philebus (64D ff.), wo die Grundlage des Schönen das innere Maß, die Symmetrie ist, und in dem Grundmerkmal des Gesetzlichen die Begriffe des Wahren, Schönen und Guten zusammentreffen. So treten hier ganz nebenbei in einem induktiv durch die verschiedenen Klassen »schöner« Gegenstände durchgeführten Beweis, daß das Schöne entweder das Nützliche oder das Erfreuende sei, als diese Klassen auf: erstens das körperlich Schöne, das der körperlichen Gestalt und auch der Tonkunst; zweitens das Schöne in Gesetzen und Einrichtungen, das heißt das Schöne psychischer Ordnung, entsprechend der Gerechtigkeit oder der Staatskunst in der vorigen Einteilung sowie dem Gesetzlichen oder Gesetz in der oben schon behandelten Stelle, 504 D; drittens das Schöne der Wissenschaften (mathêmata); eine Stufenfolge, die im Gastmahl genau so wiederkehrt, dort aber erst ihren Abschluß findet in dem höchsten Wissensgegenstand (mathêma), der reinen Idee »des« Schönen. Nach unsern vorigen Darlegungen aber ergibt sich sofort, daß auch diese letzte Stufe schon hier nicht mehr fernliegt, obgleich sie zu ausdrücklicher Heraushebung noch nicht gelangt. Übrigens ist bei den zwei ersten Stufen mitgedacht an die Aufgabe der körperlichen und seelischen Bildung, welche letztere schon hier wie im Staat in strenger Entsprechung auf das Individuum und die Gemeinschaft sich erstreckt: die Staatstätigkeit wird ganz unter den Gesichtspunkt der sozialen Erziehung, des »Bessermachens« gerückt, umgekehrt die private, wissenschaftlich-sittliche Erziehung, in der PLATO seinen Beruf erkennt (bes. 514 C), doch nur als Vorbereitung und richtige Grundlegung zur sozialen Tätigkeit, ja als die wahre Staatskunst bekräftigt. »Ich meine, daß ich mit wenigen andern Athenern, um nicht zu sagen, ganz allein, der wahrhaften Staatskunst obliege und die Staatssachen betreibe, wie niemand sonst heutzutage,« erklärt SOKRATES-PLATO (521 D). Bei den Wissenschaften aber ist nicht bloß an Ethik, sondern (nach der Andeutung 508 in.) ebensowohl an Mathematik und auf diese gegründete Kosmologie zu denken,[51] d.h. es schwebt bereits eine umfassende wissenschaftliche Schulung der künftig Regierenden vor wie im Staat; man vergleiche vorläufig Phaedr. 270 A.

Ein letzter, allbefassender Zusammenhang von diesem allen aber ist an jener Stelle unverkennbar angedeutet. Er kann nur liegen in der letzten logischen Fundamentierung, in der Dialektik. Der Sache nach ist diese bis zum Gorgias bereits zu reicher Ausbildung gelangt, obgleich sie noch nicht in einem eigenen Kunstausdruck, als eigene Wissenschaft, und zwar als die schlechthin fundamentale, die Grundwissenschaft ausgezeichnet und abgegrenzt ist.

Das ist der nächste Schritt, der für PLATO zu tun war. Und damit muß sogleich die Idee, als Allgemeinausdruck für das Objekt dieser höchsten, grundlegenden Wissenschaft bestimmt festgelegt werden. Der Gorgias kommt dem ganz nahe, aber er überschreitet noch nicht die Schwelle des Heiligtums, außer in einigen versteckten mythisch-mystischen Anspielungen (493 AB, 523 ff.), die doch wie ein durchsichtiger Schleier so viel zweifellos erkennen lassen, daß PLATO in den Anschauungen, die das nächste Werk ganz enthüllen wird, tatsächlich schon lebt, nur es noch scheut sich ganz offen und mit wissenschaftlichem Anspruch darüber auszulassen.

Denn noch ist er wie geblendet von dem überstarken Licht, das von seiner großen Entdeckung: des Logischen als der erzeugenden Kraft aller Wissenschaft und der reformierenden Kraft des Lebens, ausging. Und das subjektive Pathos dieser Erfahrung, die das Dichtergemüt des Philosophen tief ergreifen mußte, sollte noch für eine Weile die reine, objektive Durcharbeitung dieser an Problemen und Entwicklungskeimen nur zu reichen Entdeckung zurückhalten. Eben diese Stimmung fand ihn ganz besonders empfänglich für die religiösen Eindrücke, die gerade in dieser Zeit – wie schon der Meno erkennen ließ – sich mit seiner Philosophie in einer für deren Klarheit und Reinheit nicht gefahrlosen Weise verschmelzen.

Diese Phase zeigt am eigenartigsten, nach den Vorandeutungen des Meno und Gorgias, das erste der Werke, die von der Idee ausdrücklich und in gewisser Ausführlichkeit handeln; ein Werk von so erstaunlicher dichterischer Höhe wie gefährlicher Deutbarkeit, was reine Philosophie betrifft; gerade um dieser Deutbarkeit willen aber von vorzüglicher Wichtigkeit für uns, weil von hier aus die irrigen Deutungen der Ideenlehre am ehesten verständlich werden.[52]

6

Zur Rechtfertigung dieses chronologischen Ansatzes s. Archiv f. Gesch. d. Philos. II, 394 ff. und HERMES XXXV, 401 f. Und GOMPERZ, Griechische Denker II, 278.

7

tetagmenon te kai kekosmêmenon pragma besagt hier durchweg, fast synonym mit taxis, an erster Stelle systematische Verfassung, gehörige Gliederung und zweckmäßiges Ineinandergreifen der Teile, in welchem Sinne das Wort von der Heeresordnung und dann von der Weltordnung gebraucht wird. Nur sekundär liegt darin auch ein ästhetisches Moment. Daher diesmal nicht gut SCHLEIERMACHERS Wiedergabe: »mit Schönheit dargestellt«, und hernach »Anstand«.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 42-53.
Lizenz:

Buchempfehlung

Haffner, Carl

Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen

Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen

Die Fledermaus ist eine berühmtesten Operetten von Johann Strauß, sie wird regelmäßig an großen internationalen Opernhäusern inszeniert. Der eingängig ironische Ton des Librettos von Carl Haffner hat großen Anteil an dem bis heute währenden Erfolg.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon