1. Dialektische Begründung der Lehre von den drei Seelenteilen (pag. 436-441)).

[182] Sogleich die Formulierung des Grundsatzes (436 B): »Es ist offenbar, daß dasselbe in demselben Sinn und derselben Beziehung nicht Entgegengesetztes zugleich wirken oder leiden kann«, fußt auf den uns bekannten, in »urkundlicher« Genauigkeit gegen sophistische Spitzfindigkeiten verschanzten Feststellungen des Phaedo. Der Sinn des Satzes wird hier nur kurz und elementar an Beispielen (Drehung einer Kugel bei festliegender Axe) erläutert und gegen Mißverständnisse geschützt, aber absichtlich nicht tiefer hergeleitet; er will darum auch für jetzt nur als nötigenfalls wieder zurückzunehmende »Voraussetzung« (437 A) angesehen sein. Das weist deutlich auf die Notwendigkeit einer radikaleren Begründung, für die nur hier nicht der Ort ist.

Für die beabsichtigte Anwendung des Grundsatzes wird dann noch eine feine Unterscheidung nötig befunden. Für Korrelatbegriffe wie Größer – Kleiner, Erkenntnis – Erkenntnisgegenstand gilt, hinsichtlich der einander entsprechenden Aussagen je in Bezug auf das eine und das andre Glied der Korrelation, das Gesetz, daß, falls die Aussage in Bezug auf den einen Begriff diesen »an sich«, ohne nähere Bestimmung, betrifft, die entsprechend auf den andern bezügliche ebenso uneingeschränkt zu geschehen hat; wenn aber die erstere den fraglichen Begriff mit einer einschränkenden Bestimmung meint, auch die andre entsprechend eingeschränkt werden muß; z.B. wie das »Größer« (schlechthin) dem »Kleiner«, so entspricht das »um so viel Größer« dem »um ebenso viel Kleiner«. So entspricht der Erkenntnis »selbst«, d.h. ihrem ohne engere Bestimmung verstandenen Begriff, der »Erkenntnisgegenstand selbst« (ebenso ohne engere Bestimmung); der besonderen, also der und der Erkenntnis, von der und der besonderen Beschaffenheit, ein entsprechend determiniertes, besonderes Erkenntnisobjekt (438 C). Der Satz wird wiederholt in ganz abstrakter Gestalt so ausgesprochen (438 B und D), daß, wenn zwei Begriffe zu einander korrelativ sind, stets der reine Begriff dem reinen, der bestimmt determinierte dem gleicherweise determinierten entspricht.

Die psychologische Anwendung ist diese. Der Dürstende z.B. begehrt, als solcher, nach Trank; findet nun ein Gegensatz statt, der ihn vom Trinken zurückhält, so muß dieser von etwas Anderem in ihm ausgehen als dem Dürstenden; es ist also Zweierlei in seiner Seele: Eines, das ihn antreibt, ein Andres,[183] das ihn zurückhält, hemmt, so zwar, das das Zweite über das Erste Gewalt hat. Somit sind diese Zwei, Begehrung und Vernunft, verschiedene Grundgestalten (eidê, hier etwa »Qualitäten«) in der Seele; zu denen dann in entsprechender Beweisführung noch der aktive Trieb, der thymos (etwa »edle Aufwallung«) als Drittes hinzukommt. Auch sonst kommt das Eidos sowohl in der mehr auf den Inhalt als in der auf den Umfang bezüglichen Bedeutung fortwährend in Anwendung; Ersteres z.B. 435 B: der gerechte Mann und die gerechte Staatsverfassung unterscheiden sich in Hinsicht des Begriffs der Gerechtigkeit nicht, sondern fallen unter dasselbe Eidos; dagegen bloß im Sinne der Subsumtion 437 B.

Allgemein wird (so 454 A) die strenge begriffliche Sonderung als das Unterscheidende des dialektischen gegen eristisches oder antilogisches Vorgehen scharf betont (vgl. Theaet. 164 C, 167 E, Men. 75 CD). Die Veranlassung zu dieser methodologischen Unterscheidung gibt wieder eine psychologische Aufgabe. Es war gefragt, ob den beiden Geschlechtern dieselbe oder eine verschiedene »Natur« zukommt. Da bedarf es genauer Unterscheidung, in welcher Hinsicht die Identität und Verschiedenheit verstanden wird, »welche Art Identität und Verschiedenheit der Natur« man im Sinne hat, in welcher Tendenz (Richtung der Fragestellung) man sie bestimmt (definiert, 454 B; vgl C D: es handelt sich nicht um Identität und Verschiedenheit der Natur, ihrem ganzen Umfang nach, sondern um eine bestimmte, auf etwas Bestimmtes sich erstreckende Art des sich anders oder gleich Verhaltens). Ein eristisches Vorgehen würde solche Distinktionen vernachlässigen und so leicht alles in Verwirrung bringen, während, wer dialektisch zu Werke geht, hier wie stets streng »nach Begriffen auseinanderhalten« wird. Hier erkennen wir überall reife Dialektik, obgleich nur in gelegentlicher Anwendung, nicht in eigentümlicher, abgesonderter Entwicklung, für die, wie gesagt, hier der Ort noch nicht ist. Nur im letzteren Sinne ist zuzugeben, daß hier noch nicht die Lehre von den »Ideen« vorliegt.

Eine beträchtlich frühere Stelle (402 f.) ist bemerkenswert wegen deutlicher Anklänge an die Liebeslehre des Gastmahls. Es wird dort die seelische und leibliche Erziehung, d.i. Musik und Gymnastik, gestützt auf die Kunde der allenthalben wiederkehrenden Grundgestalten (eidê) der Tugend einerseits, ihrer sinnlichen Darstellung in entsprechend edler körperlicher Bildung[184] andrerseits, die zu jenen sich verhalten wie die Schriftzeichen zu den Lauten. Dies alles gehört zu einer Kunde, welche schließlich »zu dem Ende führt, zu dem sie führen soll«, nämlich der Lehre von der Liebe des Schönen. Hier haben wir deutlich die beiden Unterstufen der Liebeslehre im Gastmahl, in Beschränkung zwar auf den Gesichtspunkt der individuellen Erziehung, wie der Zusammenhang der Stelle es forderte. Die beiden Oberstufen, die Wissenschaft und die Dialektik, bleiben gemäß dem Plane des Ganzen dem nächsten Teil des Werkes vorbehalten. Es heißt ausdrücklich (503 E), das sei vorher absichtlich beiseite gelassen worden; was man, angesichts der im Gastmahl bestimmt vorliegenden Verknüpfung aller vier Stufen, dem Autor wohl aufs Wort glauben muß.

Diese Vorausdeutungen auf die Idee sind um so bemerkenswerter, da sonst in diesem Teil des Staates fast künstlich der Standpunkt der »wahren Vorstellung« im Unterschied von der Erkenntnis festgehalten wird (413 A; 430 B, 431 C u. ö.) Dagegen beginnt der dritte Hauptteil eben damit, zwischen Erkenntnis und bloßer, ob auch wahrer Vorstellung einen scharfen Schnitt zu machen und das Stehenbleiben beider Letzteren als unphilosophisch von der Schwelle abzuweisen. Damit wird die Betrachtung nochmals eine Stufe höher emporgeführt, um so erst die volle Sicherheit der wissenschaftlichen Begründung zu erreichen.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 182-185.
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