1. Schwierigkeiten, die Ideenlehre betreffend


Erster Teil.

Schwierigkeiten, die Ideenlehre betreffend.

[230] Es ist die berühmte Schrift des ZENO verlesen worden, in der bewiesen wurde: »Wenn Vieles ist«, d.i. wenn die Mannigfaltigkeit der erscheinenden Dinge wirklich stattfinden soll, so müssen sie sein: sowohl qualitativ gleich als ungleich; sowohl Eins als Vieles; sowohl in Ruhe als in Bewegung. Da nun diese unter sich kontradiktorischen Prädikate nicht zusammenbestehen, so ist die Voraussetzung falsch. Also gibt es nicht die Vielheit der erscheinenden Dinge.

Hiergegen erhebt der junge SOKRATES in siegesgewissem Ton einen Einwand, durch den er die beiden Eleaten in ernste Verlegenheit zu setzen glaubt Es sei zwar gezeigt, daß in den Phänomenen kontradiktorische Bestimmungen zusammen bestehen würden. Aber das sei gar nichts Besonderes, sondern es bestätige nur, daß man die Grundbegriffe von den Phänomenen rein absondern müsse. Dagegen, wenn man in den Grundbegriffen selbst die gleichen Widersprüche und dieselbe Aporie nachgewiesen hätte, das wäre etwas zum Erstaunen gewesen. (Jugendlich genug glaubt er, die Eleaten hätten überhaupt nur in Staunen setzen und ihre dialektische Überlegenheit beweisen wollen.) Davor glaubt er sich aber sehr sicher, daß jener Nachweis etwa geführt werden könne.

SOKRATES stellt sich mit diesem Einwand anscheinend ganz auf den Boden der Ideenlehre, wie sie namentlich im Phaedo formuliert war: Es stehen auf der einen Seite die Grundbegriffe, schlechthin für sich, unvermischt und unverwirrt, durch diese reine Absonderung von einander und von den Sinnendingen[230] gegen jede Gefahr des Widerspruchs geschützt; auf der andern Seite die sichtbaren, überhaupt sinnlich gegebenen Dinge; diese »haben Teil« an den Grundbegriffen, auch etwa gleichzeitig an kontradiktorisch sich gegenüberstehenden. »Sofern« also ein Ding z.B. teilhat an der Idee des Gleichartigen, kommt ihm das Prädikat der Gleichartigkeit zu, »sofern« zugleich an der des Ungleichartigen, das jenem entgegengesetzte Prädikat. Daran ist nichts zu verwundern. Es mag auch wohl (wie im Phaedo) gemeint sein, obgleich es in den Worten unmittelbar nicht liegt, daß so auch auf Seiten der Erscheinungen im Grunde kein Widerspruch stattfindet, da zwar kontradiktorische Prädikate von demselben Subjekt ausgesagt werden, aber nicht in derselben Hinsicht. Indessen kommt es dem SOKRATES auf die Grundbegriffe offenbar nur an. In diesen aber ist von Anfang an aller Widerspruch ausgeschlossen, weil sie unter sich keinerlei Mischung oder Verflechtung eingehen (aunkerannysthai – diakrinesthai, 129 E), sondern streng für sich (auta kath' hauta), getrennt (chôris, 129 D) gedacht werden sollen.

Das ist nun die Ideenlehre PLATOS, ungefähr wie sie von ARISTOTELES und von aller Welt verstanden wird. Und kann sich denn diese Wiedergabe nicht in jedem Zuge auf den Phaedo berufen? Zwar die hier so betonte, von ARISTOTELES unablässig getadelte »Loslösung« (das chôrizein) der Ideen von den Erfahrungsdingen ist in dieser Betonung auch im Phaedo nicht ausgesprochen. Das chôris, »getrennt«, findet sich dort vom Verhältnis der Ideen und Sinnendinge wenigstens nirgends; wohl, daß das Sein der Idee »für sich« (auto kath' hauto) ins Auge zu fassen sei, was aber nicht mehr besagt, als daß z.B. die reine Zahl zu methodisch wissenschaftlichem Behuf (wie dann des näheren im Staat begründet wird) gesondert werden muß von der Zahl der Dinge. Auch wird etwa gesagt, daß »ein Andres« sei »das« Gleiche selbst, ein Andres die gleichen Hölzer oder Steine, kurz die Fälle von Gleichheit in der sinnlichen Erfahrung (74 A para tauta heteron ti, C ou tauton, 100 C ei ti estin allo kalon plês auto to kalon, u. ö.); und man dürfe ja nicht ineinanderwirren »den« Gegensatz »selbst«, d.h. den logischen Begriff des Gegensatzes, und das in der Natur Gegebene, an dem der Gegensatz sich im gegebenen Fall darstellt (103 B). Das entspricht durchaus dem methodischen Sinn der Idee. Andrerseits wird durch Ausdrücke wie die der Präsenz (parousia, eneinai), der Gemeinschaft (koinônia), des Aufnehmens, Tragens der Formen[231] (oechesthai, echein), durch die ganze eingehende Darstellung des Ortswechsels der Bestimmungen in den Dingen selbst eine schroffe Auseinanderreißung von Idee und Erscheinungen geradezu ausgeschlossen. Nicht anders im Staat, wo das gesondert Denken z.B. der Zweiheit (524 B kechôrismena noêsei = ou synkechymena alla diôrismena, C) nicht mehr besagt als die genaue, Mehrdeutigkeiten ausschließende Abgrenzung, »Definition« des Begriffs; eine Art Sonderung, die doch auch ARISTOTELES nicht bestreitet, sondern selbst allzeit betont hat.

Aber, indem nun auf die bloße Sonderung und Gegenüberstellung von Erfahrungsdingen und Ideen der ganze Nachdruck fällt, die tief angelegte Theorie der Einführung der Ideen, als Methoden, in die Erfahrung als Wissenschaft nicht beachtet oder nicht verstanden wird, ergibt sich jene bequeme Ansicht, nach welcher die Begriffe durch den gemeinen Denkgebrauch als gegeben gelten, und nun eben nur der Begriff »selbst« und andrerseits seine vielfache Darstellung in den Sinnendingen auseinandergehalten, also in Wahrheit nur das Sein, das vermeintlich gegebene, in den gemeinen Begriffen ausgedrückte Sein der Sinnendinge verdoppelt wird; womit weder eine Erklärung der Phänomene geliefert, noch über die Begriffe selbst und die tausendfachen in diesen verborgen liegenden Schwierigkeiten wirklicher Aufschluß gegeben wird. Die Begriffe werden so nur zu einer zweiten Ordnung von Dingen, hinter oder neben oder über den Sinnendingen, und zu diesen in einer Beziehung, die nun unvermeidlich wiederum als eine solche, wie sie unter Dingen statthat, gedacht wird.

Daß die Ideenlehre vom jungen SOKRATES in dieser leeren Weise aufgefaßt wird, verrät sein Einwand gegen die Eleaten mehr durch das, wovon er schweigt, als durch das, was er gradezu sagt. Aber schon in der Betonung der Getrenntheit der Ideen von den Sinnendingen blickt es deutlich genug durch; und es kommt unwidersprechlich zu Tage in der folgenden Erörterung zwischen ihm und PARMENIDES: Er steht dessen wuchtigen Angriffen, die durchaus auf die so mißverstandene Ideenlehre zielen und sie gänzlich vernichten, völlig wehrlos gegenüber; er findet in keinem Falle die Antwort, die er vom Standpunkt der Idee als Methode ohne Besinnen hätte geben müssen.

Wer nun freilich selbst von der Ideenlehre keinen besseren Begriff hat, der hat allen Grund sich zu wundern, daß durch den Mund des PARMENIDES PLATO seine eigene, sonst überschwänglich[232] gepriesene Lehre so erbarmungslos zerzaust; seltsamerweise zum Teil durch dieselben Argumente, durch die später ARISTOTELES ihn zu vernichten gemeint hat. War also wohl gar PLATO selbst in höherem Alter an seiner eigenen Grundlehre irre geworden? Daran ist nicht zu denken; gerade ARISTOTELES hätte das unmöglich mit Stillschweigen übergehen, er hätte nicht ganze Bücher seiner Metaphysik nebst mehreren nicht erhaltenen Schriften aufwenden können, um gegen eine Lehre sich zu sichern, die schon von ihrem Urheber selbst wieder preisgegeben worden wäre. Also bliebe nur übrig PLATOS Urheberschaft zu bestreiten. Und man kann dem, der dazu einmal die Entschlossenheit gefunden hat, die Konsequenz nicht abstreiten, wenn er den Schluß auf den Sophisten, den Staatsmann und den Philebus ausdehnt; ja es gäbe dann kaum einen sicheren Halt gegen die noch viel weitergehende Skepsis KROHNS.

Zu solchen, alles philologisch brauchbaren Anhalts entbehrenden Athetesen fällt aber jeder auch nur scheinbare Grund dahin, wenn sich erweist, daß die Einwände des PARMENIDES die Ideenlehre nicht in ihrer wahren, in den zentralen Schriften, Phaedo, Gastmahl und Staat, authentisch vorliegenden Gestalt, sondern nur in einer Verzerrung treffen wollen und wirklich treffen, der PLATO eben deshalb entgegentreten mußte, um den echten, wissenschaftlichen Sinn seiner Lehre Entstellungen gegenüber, die, wie es scheint, sogar in seiner eigenen Schule aufgekommen waren, zu behaupten und weiter zu vertiefen. Die genaue Prüfung der Einwände wird diesen Beweis erbringen.

Erstens: Auf welche Gebiete von Gegenständen soll die Idee sich erstrecken? Die Konsequenz fordert unweigerlich: auf alles, was überhaupt eine wissenschaftliche Frage ist. Auch kann sich der junge SOKRATES selbst dieser Konsequenz nicht entziehen, so gern er es möchte. Warum möchte er es? Weil, wenn die Begriffe prüfungslos aus dem gemeinen Denkgebrauch aufgenommen werden und nicht Methoden bedeuten, man mit dieser Konsequenz allerdings in einen »Abgrund von Geschwätz« (eis tin' abython phlyarian, 130 D) gerät. Dieses Zurückscheuen vor einer unleugbaren Konsequenz wird ihm aber von PARMENIDES sehr ernstlich verwiesen: Wenn er reifer sein wird, wird er keine Konsequenz mehr scheuen und sich durch irgendwelchen Schein des Lächerlichen nicht schrecken lassen.[233]

Es werden die verschiedenen Klassen von Ideen durchgegangen. Obenan stehen die Grundbegriffe jener Art, wie sie in der Schrift des ZENO behandelt waren und wie sie durch diesen ganzen Dialog hindurch uns beschäftigen werden: Gleichartigkeit, Ungleichartigkeit, Einheit, Vielheit, Ruhe, Bewegung; die Klasse der logischen Grundbegriffe. Ihnen reiht sich die altbekannte Gruppe der ethischen Begriffe an, wie so oft vertreten durch die sokratische Trias des Schönen, Guten, Gerechten. Dann aber folgen Konkreta: biologische Gattungen wie Mensch, Elementbegriffe wie Feuer, Wasser, endlich selbst zufällige stoffliche Zusammensetzungen oder Mischungen wie Haar, Lehm, Kot; ein schon etwas derber Spott auf die mißverstandene »Reinheit« der als Dinge gedachten Ideen, bei welchem besonders den jungen SOKRATES jener Schauder vor dem Abgrund des Geschwätzes befällt, in dem er »umzukommen« fürchtet. Er möchte darum lieber die Ideen auf Abstrakta beschränken – wenn nur die Konsequenz es zuließe.

Aber von der logischen Konsequenz läßt sich nichts abdingen, und sie führt in leeres Geschwätz, wenn man dabei nur jene Verdoppelung des Seins im Sinne hat, nach der alles, wovon es Begriffe, nämlich die sprachlichen Gemeinbegriffe gibt, einmal als abgesondertes Gedankending und dann als Vielheit von Sinnendingen existieren soll. Dagegen ist es durchaus kein leeres Geschwätz, wenn es vielmehr so gemeint ist, daß die Methode der Ideen auf alle Gebiete wissenschaftlicher Probleme auszudehnen ist. So aber entspricht es der eigenen Ueberzeugung PLATOS. In den frühesten Schriften zwar standen weit voran die ethischen Begriffe, neben welchen zuerst die mathematischen als eine eigene Gruppe ausgezeichnet wurden. Vom Theaetet an traten dann mit besonderem Gewicht die eigentlich logischen Begriffe auf, neben welchen die mathematischen nun nicht mehr als eigene Klasse zählen. Aber schon der Phaedo nennt daneben auch physikalische Qualitätsbegriffe wie Warm und Kalt; Stoffbegriffe, die man sich auf Qualitätsbegriffe zurückgeführt denken muß, z.B. Feuer; wie später im Timaeus (51 B u. ö.). Derselbe Dialog kennt eine reine Form der Lebendigkeit; auch bestimmtere Begriffe des biologischen Gebiets wie Gesundheit, Stärke, Krankheit, Fieber werden aufgeführt. Die biologischen Gattungen als Ideen erwähnt oft ARISTOTELES, der sogar meint, von diesen vor allem müßte es Ideen geben. Und nicht ohne faktischen Anhalt[234] spotten die Kyniker über Menschheit und Pferdheit; wenigstens im Philebus (15 A) stehen friedlich neben dem Schönen und Guten Mensch und Ochs. Es sollen ferner nach dem Kratylus die Begriffe des Handelns und Geschehens vom logischen Sein nicht ausgeschlossen sein. Und mit den Begriffen menschlichen Handelns hängt zusammen die Klasse der technischen Begriffe; man erinnert sich des Weberschiffs aus dem Kratylus und der Bettstelle aus dem letzten Buch des Staats. Die bezügliche Methode ist, nach der ersteren Schrift, deutlich die teleologische. Wie aber könnten selbst Haar, Lehm und Kot sich der Herrschaft der Methode entziehen, wenn dabei etwa an ein Gesetz der chemischen Zusammensetzung gedacht ist; so wie ARISTOTELES eine Bemerkung des EMPEDOKLES über ein bestimmtes Mischungsverhältnis der Stoffe im Knochen, also eine entfernte Vorahnung der chemischen Äquivalenz, als eine der frühesten Andeutungen seines Prinzips der »Form« mit Recht bemerkenswert findet?

Also nicht die schrankenlose Ausdehnung der Idee auf alle Arten wissenschaftlicher Probleme ist an sich fehlerhaft, sie ist im Gegenteil eine unausweichliche logische Notwendigkeit. Aber wer sie eben nicht versteht als Erweiterung einer Methode über alle Gebiete wissenschaftlicher Aufgaben, sondern als leere Verdoppelung der gegebenen Dinge der gemeinen Vorstellung, für den ist keine Rettung vor dem »Abgrund des Geschwätzes«. So glauben wir das nur allzu knapp ausgeführte Argument verstehen zu dürfen.


Zweitens und hauptsächlich wird das Teilhaben der Erfahrungsdinge an den Ideen in Anspruch genommen. Wie man weiß, hat sich ARISTOTELES darüber ganz besonders aufgehalten,20 daß PLATO und die Seinen es »Andern zu untersuchen überlassen« haben, was unter dem Teilhaben eigentlich zu verstehen sei. Im Phaedo war es mit »urkundlicher Genauigkeit« festgestellt. Die Teilhabe bedeutet die Prädikation, und zwar die durch das Verfahren der Deduktion, durch die Begründung der Folgesätze in den Voraussetzungen bis zu den wahren, letzten Voraussetzungen, den Grundsätzen oder Prinzipien zurück gesicherte Prädikation. Allerdings ist die »Teilhabe« eine Metapher, wie überhaupt jeder sprachliche Ausdruck reiner Gedankenbeziehungen[235] unvermeidlich metaphorisch ist. Buchstäblich genommen, würde sie eine Beziehung besagen, wie sie unter Dingen stattfindet, und so wird unentrinnbar der sie deuten, der sich unter den Ideen nur Dinge zu denken vermag. Genau diese Auffassung der Teilhabe aber als einer selbst dinghaften Beziehung unter zwei Arten von Dingen ist es, welche durch die Kritik des PARAMENIDES völlig zermalmt wird. Und indem SOKRATES gegen diese Kritik ganz wehrlos ist, beweist er, daß er sich unter der Teilhabe nichts als eine solche dinghafte Beziehung gedacht hat.

a) Das Schöne, Große u.s.f. soll schön, groß usw. sein durch Teilhabe an dem Begriff des Schönen, Großen u.s.f. Bekommt also von diesen jedes sein Teil ab? Oder etwa jedes das Ganze? Dann wäre dies Ganze in jedem der Vielen, die daran teilhaben, es müßte also in diesen Vielen, die doch von einander getrennt sind, gleichzeitig als eins und dasselbe vorhanden, also von sich selbst getrennt sein.

SOKRATES sucht den Angriff zuerst nicht ganz ungeschickt zu parieren durch den Vergleich des Tageslichts, das vieler Orten zugleich und in allem eins und dasselbe ist, ohne dadurch selber geteilt oder getrennt zu werden. Er hätte mehr sagen dürfen: es sei sogar in allem ganz, denn wo es Tag ist, da ist es ganz Tag. So verhält es sich allgemein bei Qualitäten. Die Identität der Qualität wird nicht gehindert durch räumliche Ausbreitung.

Aber nicht einmal bis dahin erhebt sich die Auffassung von der Idee, die SOKRATES vertritt. Sie soll schlechthin ein Ding sein. Als solches aber müßte sie nicht bloß qualitativ, sondern mindestens zugleich quantitativ bestimmt, mithin teilbar gedacht werden. Daher weiß SOKRATES seine richtige Ahnung nicht festzuhalten, sondern gibt sie alsbald wieder preis, da PARMENIDES ihm mit einem neuen, wieder zur Quantität zurücklenkenden Vergleich antwortet: Du denkst dir, scheint es, das »Eine im Vielen« wie ein Zelt, das über viele Menschen ausgespannt ist; ein solches ist aber nicht über jedem ganz, sondern nur je zu einem Teil. SOKRATES weiß darauf nichts zu antworten und verfällt also dem vorigen Einwand.

Die Absurdität steigert sich bei den Quantitätsbegriffen selber, als Beispielen der Idee: Gleich, Größer, Kleiner. Versteht man das Größere, Kleinere usw. wiederum als ein Größeres, Kleineres usw., so ist z.B. ein Teil des Gleichen nicht mehr[236] gleich, sondern kleiner u.s.f. Nicht einmal gegen diese ziemlich sophistische deductio ad absurdum findet SOKRATES Rat.

Er wäre mit seinem Witz schon ganz zu Ende, brächte nicht PARMENIDES selbst ihn erst wieder auf richtigere Spur. Er erinnert ihn, woher eigentlich die Einheit der Idee kam und was sie ursprünglich bedeutete. Sie bedeutete die Einheit des Bewußtseins. Es ist die Einheit, die uns entsteht, indem wir, auf das Viele hinsehend, es in dieser einen, bestimmten »Hinsicht« als ein Bestimmtes erkennen. So ersehen wir sie mit der »Seele«, d.h. diese »Sicht« (idea) oder diesen Anblick zeigt der Gegenstand nur dem erkennenden Bewußtsein.

Von diesem Standpunkt waren die vorigen Bedenken ganz leicht aufzulösen. Die Einheit des Bewußtseins wenigstens ist kein Ding, auf das Begriffe wie Ganzes und Teil Anwendung fänden. Das Urverhältnis, das überhaupt allem Begriff, auch vom Ganzen und Teil, zu Grunde liegt, läßt sich nicht messen an Begriffen, die auf ihm überhaupt erst beruhen. Was das Letzte ist für das Bewußtsein überhaupt, muß es auch für die Erkenntnis sein.

Aber auch hier weiß der Hang zur Dingheit neue Verwirrung zu stiften. Man braucht nur das »Sehen« der begrifflichen. Einheit wieder nach Art eines sinnlichen Sehens, die so gesehene Einheit wie ein sichtbares Ding zu denken – und die Metapher des Sehens hat ja PLATO, bei aller Leugnung eines eignen Organs des reinen Bewußtseins, nicht vermieden –, so ist wieder alles verloren, was an tieferer Auffassung soeben gewonnen schien.

Diese neue Verdinglichung der Idee trifft der folgende Einwurf:

b) Werden das Große (das worin alle großen Dinge eins sind) und die großen Dinge als zweierlei Dinge gedacht, zwischen denen von neuem ein Verhältnis der Übereinstimmung erblickt wird, so muß eine wiederum höhere Einheit des Gesichtspunktes sein, unter der beide sich vereinigen, und so ins Unendliche, da doch, nach derselben Denkweise, immer wiederum die höhere Einheit als ein neues Ding den vorigen Dingen gegenüberträte.

Es ist, sogar in feinster Zuspitzung, das als »dritter Mensch« bekannte Argument, das schon im letzten Buche des Staats mit überlegenem Spott von PLATO abgefertigt wurde. Es wird bei ARISTOTELES stets als allbekannt vorausgesetzt; der Megariker POLYXENUS, ein Schüler des BRYSO, soll es (nach einer Notiz des ALEXANDER von Aphrodisias zu ARISTOTELES Metaphysik I 9) zuerst aufgebracht haben. Das Argument ist unentrinnbar für jeden,[237] der sich nicht klar gemacht hat, daß die Denkeinheit, als Funktion, für PLATO diejenige letzte Voraussetzung der Erkenntnis ist, die durchaus nichts andres sich voraus setzen kann, weil jenseits dessen, worin das Denken überhaupt wurzelt, auch aller Gedanke aufhört.

c) SOKRATES aber hat sich das eben nicht klar gemacht, und so versucht er einen letzten Ausweg, um dem Einwand zu entgehen, nämlich den der vollständigen Subjektivierung der Idee. Sie sei eben nur Gedanke und habe kein andres Sein als im Bewußtsein, das sie denkt. So kann sie ihre Einheit unangreifbar behaupten.

Das ist immerhin ein großer Fortschritt. Es wird doch nun nicht mehr die Einheit, die nur die des Denkens ist, mit den Dingen draußen in eine Reihe gestellt; sie soll, allen Gegenständen gegenüber, vielmehr das bezeichnen, dem allein sie Gegenstände sind.

Aber doch noch wird dabei den Ideen eine eigne und zwar vielfältige Existenz zugeschrieben, nämlich in den vielen »Bewußtseinen«, wie neuere psychologisierende Erkenntnistheoretiker in freilich peinlicher Sprachverrenkung zu sagen genötigt werden; hier: en psychais; während sie nur gesucht werden dürfte im »Bewußtsein überhaupt«, d.i. in der Methode der Vereinigung eines Mannigfaltigen. Auf jene Weise wird alles zu Gedanken, ja zu Denken (das Gedachte existiert nur im Denken); es droht ein psychologischer Idealismus etwa wie der BERKELEYS den transzendentalen, d.i. methodischen, der allein der PLATOS ist, zu verdrängen. Das Gedachte existiert doch, es existiert aber nur in Gedanken, als Gedanke, als Denken, also existiert nur Denken. Wovon dann aber SOKRATES selbst gesteht, daß es »keine Vernunft« habe, denn er hat sich willig von PARMENIDES erinnern lassen, daß das Gedachte doch wohl gedacht wird als Objekt und nicht als Nicht-Objekt.

In der Tat unterlag PLATOS Idee der Gefahr des Subjektivismus nicht. Denn keinerlei Existenz, auch nicht die Existenz denkender »Bewußtseine«, darf oder kann die als Methode verstandene Idee sich voraus setzen. Die Methode ist souverän. Ihr kann im methodischen Aufbau der Erkenntnis nichts Andres vorausgehen. Das ist die »Sicherheit der Grundlage«, an der sie unerschütterlich hält (Phaedo 101 D) und darin »sich selber sichert« (Staat 533 C). Damit ist die subjektive Auffassung der[238] Idee abgewehrt und ihre nicht sowohl objektive als vielmehr objektivierende (den Gegenstand setzende) Bedeutung festgestellt.

d) Aber SOKRATES verfällt, nachdem er der Charybdis des Subjektivismus mit genauer Not entronnen ist, unvermeidlich wieder der Skylla des falschen Objektivismus, der starren Verdinglichung der Idee. Er entsinnt sich, daß die Ideen als »Musterbilder« in der »Natur« der Dinge dastehen, und daß das Teilhaben ein Gleichen bedeuten sollte. Dagegen aber erhebt sich sofort wieder das Argument vom »dritten Menschen«. Das Ergebnis wird diesmal sehr bestimmt formuliert: das Teilhaben kann nicht ein Sichgleichen (wie unter Dingen) bedeuten, »sondern man muß etwas Andres suchen« (alla ti allo dei zêtein, 133 A).

Aber hat denn nicht PLATO selbst sehr oft das Verhältnis zwischen Idee und Erscheinung eben so bezeichnet? – Gewiß, er hat neben andern Metaphern auch diese gebraucht. Aber er hat sie erklärt, und das sollte genug sein. Wer hier freilich am Wort hängen blieb, der mußte wohl sich daran ärgern, daß er das Sichgleichen ablehnt und doch nichts Andres zum Ersatz anzubieten weiß. Ich glaube, daß ARISTOTELES eben dies Wort im Sinne hat bei seinem Ausdruck des Ärgers: daß PLATO, was eigentlich das Teilhaben sei, wenn nicht ein Sichgleichen, »Andern zu suchen überlassen habe« (Metaph. I 6, 987 b 14 apheisan en koinô zêtein). PLATO dachte wohl, er habe es im Phaedo zur Genüge gesagt, und wer ihn da nicht hören wolle, für den werde auch vergeblich sein, was sich etwa noch weiter darüber hätte sagen lassen.

Wir kommen zum dritten, wuchtigsten Einwurf gegen die Ideenlehre, der zugleich zum zweiten Teil der Untersuchung hinüberleitet. Wäre es PLATO bloß darum zu tun gewesen, jene plumpen Mißverständnisse seiner Ideenlehre abzuwehren und auf seine früheren deutlichen Erklärungen über diese zurückzuweisen, so hätte es bei den bisherigen Einwürfen sein Bewenden haben dürfen. Aber es sollte auch die Quelle des Irrtums verstopft, es sollte zugleich die Lehre nach einer Seite, nach welcher sie bisher noch nicht zu voller Entfaltung gelangt war, eine Stufe weiter entwickelt werden. Die bisher beregten Schwierigkeiten sind in der Tat ein Kinderspiel gegen die wahre, viel tiefer liegende Schwierigkeit, die der in der Person des jungen SOKRATES nun genugsam gestrafte Gegner auch nicht einmal ahnte, deren Last dagegen PLATO selbst drückend[239] empfindet: wie das Reich der Erfahrung, in der ganzen Unendlichkeit ihrer Relativität, der Methode der Ideen zu unterwerfen sei. Nachdrücklich wird diese Schwierigkeit als die bei weitem größte bezeichnet: es bedürfe weitausholender Erörterungen, um sie zu besiegen (133 B). Aber als an sich überwindlich wird sie damit doch vorausgesetzt; auch wird mit den stärksten Worten am Schluß dieser kritischen Verhandlung (135 C) die absolute Unentbehrlichkeit der Idee, wofern man nicht das ganze dialektische Verfahren umstürzen wolle, bekräftigt; es wird nur der mangelnden dialektischen Übung des jungen SOKRATES schuldgegeben, daß er diesem Einwand gegenüber natürlich ganz versagt. In der Tat, wie könnte die Idee preisgegeben werden, wenn die Idee die Prädikation, die gegründete Prädikation besagt? Sie preisgeben hieße ja dann, auf alles Urteilen, auf alles gegründete Urteilen, auf wissenschaftliches Denken überhaupt verzichten.

Indessen eben, wie die Begriffe des reinen Denkens ein gehaltvolles, gegenständliches Urteilen ermöglichen, erscheint schwierig genug. Und zwar doppelseitig stellt die Schwierigkeit sich dar. Erstens: die reine Erkenntnis soll sich allein beziehen auf die reinen Gegenstände, die empirische auf die empirischen. Diese aber allein sind uns gegeben, sie allein »haben« wir oder sie »stehen uns zu« (en hêmin 133 C, par' hêmin D, oute echomen oute par' hêmin oionte einai 134 B, und schon 130 B chôris ês hêmeis echomen. en hêmin ist ebenso im Phaedo gebraucht, 102 D, 103 B). Also: wir haben gar nicht die reinen Denkobjekte, sie sind uns gar nicht gegeben, denn, wenn gegeben, würden sie damit schon empirisch und nicht mehr rein sein. Zweitens aber, hätten wir sie, trauten wir selbst nur der Gottheit ihren Besitz zu, so würde, wer immer sie hat, durch sie nur die reinen Gegenstände erkennen, nicht die empirischen, auf die ja das reine Denken als solches sich gar nicht bezieht. Gewiß ein wuchtiger Einwand, und zwar ein solcher, der nicht bloß die mißverstandene Ideenlehre betrifft.

Also erstens, wie haben wir überhaupt die reinen Grundbegriffe? Wie versichern wir uns ihrer? Denn wir haben nur – Erfahrung; sie aber sind keine Gegenstände der Erfahrung. Wie ist ein a priori uns, die wir nur Erfahrung haben, möglich? – Darauf möchte nun noch zu antworten sein durch den Hinweis eben auf das Verfahren, welches die Idee bedeutet, das Verfahren der Deduktion. In ihm ist der Weg der Vergewisserung[240] über die Grundbegriffe gewiesen. Das Gelingen der Deduktion ist die Probe, die einzig mögliche, aber auch völlig zureichende Probe darauf, daß wir die rechten Grundbegriffe haben. Freilich haben wir sie auch so nicht mit einem Male. Mit dem Wachstum der Wissenschaften mag auch die Einsicht in die Grundbegriffe wachsen, und gerade je intimer sie auf die Erfahrung bezogen und in sie eingeführt werden, umso mehr ist ihre Erkenntnis angewiesen auf die Entfaltung der empirischen Wissenschaft. Es wäre insofern nicht widersinnig, von einer empirischen Erkenntnis des a priori zu sprechen.

Die radikalere Frage aber ist die andere: Gesetzt wir hätten das a priori, wie könnten wir mit ihm je den Gegenstand der Erfahrung erreichen, der doch – das war noch niemals bisher in dieser Deutlichkeit gesagt – unser wahres Problem, das x der Gleichung unserer Erkenntnis ist?

Schon in dem bloßen Aufwerfen dieser Frage, in dem Nachdruck, mit dem sie gestellt und als die Hauptlast, die der Ideenlehre noch aufliegt, zum Bewußtsein gebracht wird, erkennen wir einen sehr gewichtigen Fortschritt des Parmenides über alle bisherigen Schriften hinaus. Es ist damit ein ganz neuer Weg beschritten. Erfahrung ist hier zum ersten Mal bei PLATO ausdrücklich aufgestellt als eine besonders charakterisierte, und zwar die eigentlichst uns angehende Erkenntnisart. Die Idee selbst wird sich fortan nur behaupten können, wofern sie sich auszuweisen vermag als Grundlage zur »Möglichkeit«, d.i. methodischen Begründung von Erfahrung. Damit erst wird die falsche Absonderung der Idee gründlich und endgültig überwunden sein: die von der Erfahrung, nämlich von der Aufgabe ihrer Ermöglichung abgesonderte Idee verlöre eben durch diese Absonderung jede Bedeutung für unsre Erkenntnis, auf die es doch uns zuletzt nur ankommen kann.

So öffnet sich hier ein weiter Ausblick, der sehr bedeutsam bliebe, auch wenn PLATO die neue Ahnung nicht zur Erfüllung zu bringen imstande gewesen wäre. Wie weit er sie erfüllt hat, wird zu prüfen sein.

Denn es ist eben hierdurch erst das Thema gestellt für den zweiten und Hauptteil des Dialogs. Dazu war alles Bisherige bloß das Vorspiel. Der Irrtum der Eleaten wie jener mißverstandenen Ideenlehre, welche Idee und Erfahrungsgegenstand als zwei Klassen von Dingen nebeneinanderstellt und dann irgend eine dingliche Beziehung oder Vermittlung zwischen[241] beiden sucht, wird damit erst radikal entwurzelt, nicht bloß apagogisch durch den Widersinn der Konsequenzen widerlegt sein, daß gezeigt wird, wie die Idee eine positive Beziehung auf den Gegenstand der Erfahrung von Haus aus hat, also von ihr getrennt überhaupt nicht gedacht werden darf, in ihr aber gar nicht gedacht werden kann als Ding oder Gegenstand, sondern nur als Methode, die allen Gegenstand erst ermöglicht. Und die Frage der »Teilhabe« wird eben damit erst gründlich erledigt sein. Der Verweis auf das Verfahren der Deduktion reicht dazu nicht hin, solange nicht auch gezeigt ist, wie mit diesem Verfahren das x unsrer Erkenntnis, der Erfahrungsgegenstand, auch wirklich erreichbar ist.

So treten wir nun in die Hauptuntersuchung ein.

20

Und auch neuere Darsteller PLATOS kopieren ihn darin getreulich (so GOMPERZ, S. 321.)

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 230-242.
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