II. Folgen für das Eine bei bezüglicher Setzung (Kap. 13-20).

[251] Der allgemeine Sinn und Grund der These wird am Beweise des ersten Satzes, wenn man einmal so etwas sagen darf, sonnenklar. Jede Aussage setzt als solche eine Verknüpfung begrifflich verschiedener Bestimmungen. Also ist Verschiedenheit der Begriffe auf alle Fälle kein Hindernis der Verknüpfung. Gewiß leuchtet nun damit noch nicht ein, daß sich auch alle Bestimmungen mit allen verknüpfen müssen. Man erwartet wenigstens die Einschränkung auf die sich nicht widersprechenden. Aber gerade von den kontradiktorischen Bestimmungen soll gezeigt werden, daß sie sich verknüpfen. Dann muß hinzugedacht sein, daß sie in verschiedener Hinsicht zu verstehen sind. In mehreren Fällen wird dies nun auch ausdrücklich gesagt. Es soll also der verständige Leser dies allgemein hinzudenken. Unterläßt er das, so muß er sich[251] freilich in allseitigem, ja unerhörtem Widersinn gefangen finden. Und hier hat nun PLATO sich die weitherzigste Freiheit genommen, den Leser auf die Probe zu stellen. Denn es gilt die Antwort auf die Herausforderung des jungen SOKRATES.

Im übrigen ist streng festzuhalten, daß es sich hier noch gar nicht fragt nach der Verknüpfbarkeit der Prädikate in einem bestimmten Subjekt, sondern nach der Verknüpfbarkeit der Bestimmungen an sich, ohne Rücksicht darauf, in welchem Subjekt sie stattfinde. Versteht man allerdings, wie es der Disposition nach notwendig scheint, als Subjekt »das Eine« selbst, so bleibt das Resultat widersinnig. Es soll auch widersinnig bleiben. Aber das muß man eben abziehen, um den positiven, bleibend festzuhaltenden Ertrag dieser Deduktion herauszuschälen. Beachtet man alles dies, so bleiben zwar noch manche Verwicklungen im Einzelnen, aber die Absicht des Ganzen wird vollkommen durchsichtig. Eine Reihe einzelner Deduktionen sind sogar musterhaft klar ausgeführt, und nachdem man sich an diesen orientiert hat, ist es fast überall leicht, die absichtlichen Fehler der übrigen Argumente zu berichtigen.

A. Quantität. 1. Vielheit. Der Satz »Das Eine ist« besagt eine Vereinigung von zwei Bestimmungen. Die Vereinigung von Zweien in Einem gibt aber schon den Begriff des Ganzen und Teils. Jede Teilbestimmung ferner enthält wiederum beide Bestimmungen: sie ist eine und sie ist; und so aus demselben Grunde immer wieder. Also ist Ganzes und Teil und zwar Teilung ins Unendliche durch die These gesetzt.

Ein zweiter Beweis läuft so: Die Bestimmungen »Eins« und »Seiend« sind verschieden nicht vermöge ihrer selbst, sondern vermöge der dritten Bestimmung der Verschiedenheit. Damit ist nun schon Zweiheit und Dreiheit gegeben, damit die Grundlagen des Addierens und Multiplizierens, mithin aller Zahl ins Unendliche. Die Ableitung ist hier im Einzelnen von hoher Feinheit.

2. Aus dem Verhältnis des Ganzen zu den Teilen, sofern es sie einschließt, wird der Begriff der Begrenzung hergeleitet. Denn das Ganze ist, seinem Begriff nach, geschlossen zu denken. Eben damit ist aber auch die Gestalt gegeben, denn mit der Begrenzung sind Mitte und Enden und eine bestimmte gegenseitige Lage dieser zueinander gesetzt. Die Herleitung leuchtet so nicht unmittelbar ein, würde aber in voller Strenge gegeben werden können. War (unter 1) die Zahlreihe gesetzt, so zeigt in dieser jedes abgegrenzte Intervall eine bestimmte[252] Stellung des Anfangs- und Endglieds zu den mittleren. Darauf ließen sich wohl die Grundbegriffe der Gestalt, wenn auch erst durch eine Reihe von Schritten, von denen hier nichts angedeutet wird, gründen. Dergleichen Probleme werden vorbeigehend in reicher Fülle angedeutet; man kann nicht erwarten, daß sie auch gleich vollständig entwickelt und gelöst würden.

3. Auf den Ort wird so gefolgert: Sofern das Ganze nicht »in« den Teilen eingeschlossen ist, auch nicht in allen, so ist es also nicht »in sich selbst«, folglich »in« einem Andern, da es, wenn nicht irgendwo, überhaupt nicht wäre. – Es hätte einfach gefolgert werden dürfen aus der Begrenzung auf etwas, woran es grenzt, worin es also ist. Bei den Zahlen gilt ohne weiteres, daß jedes Einzelglied eines Intervalls seine Stelle in der unendlichen Reihe hat; die Zahl schließt Stellenordnung, mithin das Fundament der Ortsbeziehung ein. Sachlich also besteht ein Zusammenhang der Begriffe, der in der vorliegenden Form allerdings nicht einwandfrei zu Tage kommt.

4. Auf Beharrung und Wechsel wird seltsam geschlossen. Sofern (immer) »in demselben«, ist es beharrend, sofern (immer) »in einem Andern«, wechselnd. Das sieht einem plumpen Fehlschluß ähnlich, indem das »immer« doppeldeutig gebraucht scheint. Aber es muß ja hier der Zeitbegriff ganz aus dem Spiel bleiben, der in dieser zweiten ebenso wie in der ersten Deduktion erst (unter C) nach der Quantität und Qualität eingeführt wird. Es ist also nur an Fixierung und Übergang in der Betrachtung zu denken. Sofern die Betrachtung bei etwas Bestimmtem stehen bleibt und auch seine Teile nur als ihrem Ort nach im Ganzen bestimmt denkt, ergibt sich Stillstand, d.i. unverrückbare Bestimmtheit des Orts; sobald aber die Stellung des Einzelglieds gegen andre und »immer« andre (denn der Grund des Hinausgehens über das erstgegebene besteht fort) ins Auge gefaßt wird, so entschwindet die Bestimmtheit des Wo, die Ortsbestimmung selbst gerät ins Fließen, da es keine absolut festen (der Betrachtung standhaltenden) Punkte mehr gibt, nach denen sich das Wo bestimmt. Man mache sich das klar an der (beiderseits unendlichen) Zahlreihe, so besagt es die Relativität und Verschiebbarkeit der Null. Das Argument ist also klar gedacht, wenn auch wieder nur gerade angedeutet, nicht entwickelt.

B. Qualität. 5. Dem Einen kommt ferner zu Identität und Verschiedenheit im Verhältnis zu sich selbst und zu[253] dem »Andern«. Dies wird sehr umständlich und mit vieler Spitzfindigkeit bewiesen aus der allgemeinen Voraussetzung: Jedes steht zu Jedem entweder im Verhältnis der Identität, oder der Verschiedenheit, oder des Teils zum Ganzen, oder des Ganzen zum Teil.

a) Die Identität mit sich wird, nicht falsch, aber unnötig, bewiesen durch Ausschließung der drei andern Möglichkeiten.

b) Sofern immer anderswo als es selbst, ist es immer ein Andres als es selbst Man beachte: sofern (tautê). Die andre und andre Betrachtung setzt es als ein Andres und Andres. Das Argument ist also genau parallel dem obigen unter 4. und im gleichen Sinne korrekt.

c) Daß es vom Nicht-Einen verschieden ist, folgt direkt.

d) Daß es mit ihm auch wiederum identisch, konnte entsprechend dem Erweis der Verschiedenheit von sich selbst gezeigt werden: Wie Dasselbe in andrer und andrer Betrachtung ein Andres, so wird das Verschiedene in einer und derselben Betrachtung Dasselbe, nämlich »insofern«, beziehentlich, für eben diese Betrachtung. Statt dessen gibt PLATO zwei sehr künstliche und in der Tat fehlerhafte Beweise, durch welche, angeblich, die drei andern Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Nämlich:

Verschiedenheit könne dem Identischen auf keine Weise zukommen. – Das ist ein handgreiflicher Rückfall in die Thesis (I), daß kontradiktorische Bestimmungen sich schlechthin ausschließen. – Also könne Verschiedenheit überhaupt in nichts nur einen Moment stattfinden; sie wäre ja dann, wenigstens für diesen Moment, ein identisches Verhalten. Also findet Verschiedenheit überhaupt nicht statt, weder im Einen (wie doch in b) und c) behauptet war), noch im Nicht-Einen. Diese sind also nicht von einander verschieden vermöge der Verschiedenheit, da ja diese in ihnen nicht stattfindet, noch vermöge ihrer selbst, sondern die Verschiedenheit entfällt ganz (ekpheugei), ihr ganzer Begriff fällt aus. – Der Beweis ist aus der falschen Voraussetzung in solcher Schärfe geführt, daß die Absicht schlechterdings nur die sein kann, den Leser durch die Absurdität der Konsequenz auf den Fehler der Voraussetzung aufmerksam zu machen. Berichtigt man diese, so folgt korrekt, auf die vorher angedeutete Weise, das, was zu beweisen war. Dies Beispiel ist besonders lehrreich für die ganze Art dieser Übung und die wahre Absicht der nun immer dichter und bedenklicher werdenden Fehlschlüsse.[254]

Es bleibt noch übrig die beiden Möglichkeiten auszuschließen, daß sich das Eine zum Nicht-Einen als Ganzes oder Teil verhielte. Der Beweis verläuft so. Dem Nicht-Einen kommt als solchem nicht Einheit zu, also auch nicht Zahl, die ja die Einheit voraussetzen würde, also auch nicht die Möglichkeit, Teil oder Ganzes zu sein. – Auch diese Argumentation kann nur bezweckenden Leser, ganz im gleichen Sinne wie die vorige, auf die Probe zu stellen. So wenig er vorher zugeben durfte, daß Identität und Verschiedenheit als kontradiktorische Begriffe sich schlechthin ausschlössen, so wenig darf er jetzt einräumen, daß dem Nicht-Einen Einheit und die diese voraussetzenden Bestimmungen in keinem Sinne zukommen dürften. Sondern das Eine und Nicht-Eine können sich als Ganzes und Teil oder umgekehrt verhalten, sie können ebenfalls gegen einander identisch sowohl als verschieden sein, nämlich dies alles beziehentlich. So fordert es die Konsequenz des Gedankengangs, und so ergibt sich ganz einfach und korrekt das, was bewiesen werden sollte. Der Leser muß schon die ganze Absicht der Argumentation nicht begriffen haben, der nicht diese Berichtigung selber zu vollziehen imstande ist.

6. Die Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit des Einen mit sich selbst und dem Nicht-Einen war am natürlichsten so zu beweisen, daß die Gleichartigkeit der Identität, die Ungleichartigkeit der Verschiedenheit entspräche (wie oben I, B, 6). Das folgt in der Tat am Schluß (148 C). Erst aber wählt PLATO den feineren Weg, das Umgekehrte zu beweisen: Das Eine ist vom Andern gleicherweise verschieden wie das Andre vom Einen, »insofern« ihm gleichartig; wie allgemein, wenn dasselbe Prädikat, wie es auch laute, von Verschiedenem ausgesagt wird, es insofern Dasselbe ist. Das wird in lehrhafter Ausführlichkeit durchaus korrekt dargelegt. – Ist aber das Eine dem Andern gleichartig, sofern von ihm verschieden wie es von ihm selbst, so muß es dagegen ihm ungleichartig sein, sofern identisch, denn die entgegengesetzten Voraussetzungen müssen entgegengesetzte Folgen haben. – Das sieht nun wie bloße Neckerei aus, denn es gilt doch von der Identität dasselbe wie von der Verschiedenheit, daß sie dem Einen so gut zukommt in Beziehung auf das Andre wie dem Andern in Bezug auf das Eine. Es wurde doch von jedem Begriff, der von Mehreren ausgesagt wird (Relationsbegriff) behauptet, und mit vollem Recht behauptet, daß er das Verschiedene insofern[255] gleichartig macht. Der Schluß ist in der Tat auf jede Weise falsch. Dennoch möchte ich dem Autor die Feinheit zutrauen, daß er die sonderbare Verflechtung von Identität und Verschiedenheit auch noch nach der Seite habe zum Bewußtsein bringen wollen, daß die Identität mit B, welche von A, und die mit A, welche von B ausgesagt wird, begrifflich auch wiederum verschieden sind, denn A und B werden, auch in der Behauptung ihrer Identität, doch als zwei begrifflich auseinandergehalten, so daß Identität mit B und mit A nicht schlechthin Dasselbe sind. Das ist unnötig subtil, aber zur dialektischen Übung mag auch das gereichen.

6a) Auch Berührung sowohl als Nichtberührung mit sich selbst und dem Andern kommt dem Einen zu. Diese Begriffe sind in der ersten Deduktion übergangen; sie würden passender an die der Begrenzung und des Orts angeschlossen sein.

a) Es berührt sich mit sich selbst und dem Andern, insofern es in sich und im Andern ist, denn worin es ist, daran muß es grenzen, also es berühren. – Das ist, sofern es sich um das Verhältnis zu sich selbst handelt, wiederum spitzfindig, aber nicht unrichtig: es wird auch so zweimal gedacht, als Einschließendes und Eingeschlossenes.

b) Wiederum, zur Berührung gehören Zwei, also müßte es, wenn es sich selbst berühren sollte, Zwei, und an zwei Orten zugleich sein, was unmöglich. Aber auch Berührung mit dem Andern kommt ihm nicht zu. Denn Berührung fordert, wie gesagt, Zwei, dem Andern aber, als dem Nicht-Einen, kommt nicht Einheit, also auch nicht Zweiheit oder irgend eine Zahl zu. – Das ist derselbe, ohne Zweifel absichtliche Fehlschluß wie unter 5 d). Indessen ist die These in diesem Sinne wohlverständlich: Sofern beide in einer Reihe aneinandergrenzen und nichts dazwischen gedacht wird, berühren sie sich; sofern aber jedes schlechthin für sich betrachtet wird, darf es, als vom Andern durchaus verschieden, auch nichts mit ihm gemein haben, also kann keine Berührung stattfinden. Betrachtet man die Strecken A B und B C je für sich, so ist B ein verschiedener Punkt in A B und in B C.

7. Das Eine ist sowohl gleich als ungleich sich selbst und dem Nicht-Einen. – Hier wird einmal ganz bestimmt auf die Erörterungen des ersten Teils über das Teilhaben an den Ideen Bezug genommen. Gleich, größer, kleiner sind das Eine und Nicht-Eine nicht vermöge eben dieser ihrer Wesenheit, des[256] Einen und Nicht-Einen (autais tautais tais ousiais), sondern durch die Teilhabe an den davon verschiedenen Begriffen des Gleichens, des Größer- und Kleiner-seins. Es wird nun, zur Probe, ob man den Fehler der Verdinglichung der Ideen nunmehr erkannt hat, eben dieser Fehler ganz in der damals vorgeführten Weise wiederum begangen und darauf ein so offenbar falscher Beweis gestützt, daß auch der minder gewitzigte Leser notwendig stutzen und Unrat wittern muß. Nämlich, es sei z.B. Kleinheit (stets relativ verstanden: das Kleinersein) im Einen, so ist sie entweder in ihm als Ganzem oder in einem Teil von ihm. Im Ganzen könnte sie nur sein, indem sie sich gleich weit oder darüber hinaus erstreckte. Dann wäre sie aber dem Einen gleich oder größer, was dem Begriff des Kleinerseins widerstreitet. Wäre sie aber nur in einem Teil des Einen, so wiederum in diesem Teil als Ganzem oder nur in einem Teil von ihm, wo dann dasselbe gilt wie vorher, und so ins Unendliche. Also kann Kleinheit überhaupt in nichts sein, es gibt also überhaupt nichts, das klein wäre, ausgenommen die Kleinheit »selbst«. Ebenso folgt, daß es nichts Großes gibt außer die Größe selbst, daß mithin überhaupt das Verhältnis von Größer und Kleiner nur in den reinen Begriffen stattfindet. Daraus wird dann endlich geschlossen, daß das Eine, weil weder größer noch kleiner, also gleich sein müsse sich selbst und dem Andern. – Es sind, in peinlich genauer Ausführung, dieselben Irrungen, die schon 131 CD, als Folgen der dinglichen Vorstellung der Ideen, kurz angedeutet wurden. So lernen wir aus dem Argument nichts Neues, doch ist es wertvoll als einer der deutlichsten Belege für die von uns angenommene Absicht und Richtung dieser ganzen zweiten Deduktion.

Weiter aber, sofern in sich selbst, also auch um sich selbst, ist das Eine, als Eingeschlossenes, kleiner, und wiederum, als Einschließendes, größer als es selbst. Da nun außer dem Einen und dem Nicht-Einen nichts ist, beide aber irgendwo, also in Etwas sein müssen, also jedes im Andern, so ist jedes kleiner und auch größer als das Andere. – Hier artet die dialektische Gymnastik bereits in übermütige Purzelbäume aus. Eine tiefere Absicht als die, des unachtsamen Lesers zu spotten und ihn durch den Spott zur Aufmerksamkeit zu zwingen, ist darin schwerlich zu suchen. Zwar das in sich selbst und damit größer und kleiner Sein im Vergleich mit sich selbst ließe sich zur Not noch verständlich deuten, aber, daß jedes der beiden, weil irgendwo[257] im Andern sein müsse, statt in sich selbst, kann in der Tat nur ein ganz unachtsamer Leser sich gefallen lassen.

8. Auch die weitere, aus den Prämissen leicht gewonnene Folgerung, daß das Eine, durch irgend ein Maß gemessen, gleich viel, und der Zahl nach mehr und weniger als es selbst und das Andre sei, läßt eine tiefere Absicht nicht erkennen.

C. Zeitbestimmung. 9. Das Eine ist und wird sowohl älter wie jünger als es selbst und das Andre, und auch wiederum nicht.

Erstlich, da es in der Zeit ist und mit der Zeit fortschreitet, so wird es älter als es selbst, mithin auch jünger. Denn das Ältere ist notwendig älter als ein Jüngeres, also, wenn es älter wird als ein Andres, so wird gleichzeitig dies, dem es verglichen wird, ebenso viel jünger als es, was also auch auf sein Verhältnis zu sich selbst Anwendung finden muß. – Dies erhält Sinn, wenn man die sich hier überall nahelegende Relativitätsbetrachtung einführt. Was in einem früheren Zeitpunkt das Älteste ist, d. h. die bis dahin längste Zeit existiert hat, ist im späteren Zeitpunkt jünger, d. h. von kürzerer Dauer geworden, nämlich verglichen mit der ganzen, von irgend einem Anfangspunkt bis zu dem gedachten Endpunkt verflossenen Zeit. – Und zwar im Jetzt ist es, und wird nicht erst, älter und jünger als es selbst. Der Fortgang nämlich (heißt es 152 C) ist nicht auf das Jetzt eingeschränkt, sondern »berührt« zugleich das Jetzt und das Nachher, indem er von jenem sich löst, nach diesem gleichsam die Hand ausstreckt, es zu ergreifen; er fällt also zwischen beide, d. h. er kann genau genommen in gar keinem distinkten Zeitpunkt gedacht werden; wie hernach (Kap. 21) weiter ausgeführt werden wird. Im Jetzt also wird es nicht, sondern ist älter und jünger als es selbst. Es ist nun aber immer jetzt, wann es überhaupt ist, also ist es auch immer, und wird nicht bloß, älter und jünger als es selbst. Wiederum ist es und wird die gleiche Zeit mit sich selbst, ist also sich selber gleich alt.

Wie aber verhält es sich in gleicher Beziehung zum Nicht-Einen? Das Nicht-Eine oder Andre (im Plural ta alla) ist, als solches, Vieles, die Einheit aber ist früher als jede Zahl, sie ist, ihr gegenüber, das Erste, mithin älter. – Wiederum hat das Eine, als Ganzes, Anfang, Mitte und Ende, mit dem Ende aber oder dem Letzten, also zuletzt, wird es erst fertig, also ist es selbst das Letzte, also Jüngste, jünger als das, was als Andres[258] von ihm unterschieden wird, nämlich seine Teile. – Wiederum ist jeder Teil ein Teil, vom ersten bis zum letzten, also kommt das Eine (die Einheit) allen Teilen gleichermaßen zu, es ist also gleich alt mit ihnen, also weder früher entstanden noch später, sondern zugleich mit dem Andern. – Auch diese Betrachtung ist nicht so willkürlich und spielerisch, wie sie auf den ersten Anblick scheinen kann. Sehr hervorhebenswert ist jedenfalls die bestimmte Sonderung der drei Begriffe der Einheit in der Zahl, als 1. Anfangssetzung (das Eins, als das Erste), 2. Zusammenschluß der Mehreren in der einen Vielheit oder Zahl, 3. die funktionelle Eins, mit der gezählt wird (Einheit als Maß der Vielheit). Versteht man unter dem »Andern« überall die der Einheit in dem jedesmaligen Sinne gegenüberstehende Mannigfaltigkeit, so ist alles korrekt.

Eine entsprechende Betrachtung wird zweitens in Hinsicht des älter und jünger Werdens durchgeführt. Was einmal um so und soviel älter oder jünger ist als ein Andres, bleibt immer um ebensoviel älter oder jünger, wird also dann nicht noch weiter älter oder jünger. Es ist älter oder jünger und ist es geworden, aber wird es nicht. – Wiederum ist im Vergleich mit dem bisherigen Alter der Zuwachs geringer beim Älteren als beim Jüngeren, also wird der Altersunterschied relativ immer kleiner, also das Ältere im Verhältnis jünger, das Jüngere im Verhältnis älter; sie kommen sich im Alter gleichsam entgegen, d. h. die relative Altersdifferenz verringert sich; natürlich ohne daß das Ältere je absolut jünger oder das Jüngere älter geworden wäre und mithin wäre als das Andre. Wie also vorher ein Sein und Gewordensein ohne Werden, so stellt sich hier ein Werden ohne Sein und Gewordensein heraus. Darin ist nun in so vollkommener Strenge der Unterschied relativer und absoluter Betrachtung festgehalten und betont (man beachte das »sofern« 155 B und C), daß es eine Zumutung ist, glauben zu sollen, es trage an den Fehlern der frühem Argumente irgend eine Unklarheit über diesen Unterschied auf Seiten des Autors die Schuld. Weit glaublicher ist doch, daß der Leser, durch diese letzte Erörterung über jenen alles klärenden Unterschied endlich belehrt, durch seine Beachtung nun auch die früheren Fehlschlüsse sich selber berichtigen soll.

D. Sein und Erkenntnis. 10. Also kommt dem Einen sowohl Sein als Werden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu, und ist allerlei Aussage in Bezug auf es, mit diesem[259] Unterschied der Zeiten, möglich, gibt es somit von ihm Erkenntnis, Wahrnehmung, Vorstellung, Benennung, Erklärung, welche Akte alle wir ja auch eben in Hinsicht seiner ausgeübt haben.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 251-260.
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