III. Folgen für das Nicht-Eine bei bezüglicher Setzung des Einen (Kap. 22).

[263] Wenn Eines ist (Einheit stattfindet), was gilt vom Andern oder Nicht-Einen? lautet die Frage, Hier muß nun vor allem Klarheit darüber geschaffen werden, was unter diesem Andern zu verstehen ist. Schon im Laufe der zweiten Deduktion wurde das Andre, d. i. alles was nicht Eines (oder das Eine) ist (146 D), eingeführt. Die bezügliche Setzung der reinen Denkbestimmung fordert den Begriff von etwas, worauf der Bezug stattfindet. Und im Grunde ist das der Begriff des Andern zum Einen, er[263] ist also gewissermaßen herausgezogen aus dem Begriff des Einen selbst, nämlich diesem Begriff, nicht mehr in abstrakter Isolierung, sondern nach seiner wirklichen Funktion in der Erkenntnis verstanden. Diese kann er nur ausüben an einem Andern, das Andre ist also schon mitgesetzt, wenn das Eine selbst wirklich gesetzt, d.h. als Funktion der Erkenntnis ins Spiel gesetzt ist. Das bewies ja die zweite Deduktion: Wenn gesetzt, ist es, also ist mit dem Einen, indem es selbst gesetzt wird, auch das Sein gesetzt, damit aber schon eine zweite Bestimmung, mithin überhaupt die Zweiheit, und, sofern wiederum jede der Teilbestimmungen sowohl eine ist als auch ist, also wieder dieselbe Zweiheit einschließt, die unendliche Vielheit. »Auf Alles, welches Vieles ist, ist also das Sein verteilt, es geht keinem ab von allem, was ist, nicht dem Kleinsten noch dem Größten... Zerstückt ist es unter das Kleinste und Größte und auf alle Weise sich Verhaltende, und ist mehr als alles geteilt, es sind grenzenlos viele Teile des Seins«. Und ebenso ist »durch das Sein auch das Eine selbst zerstückt und ist Vieles, ist an Menge unendlich« (144 B und E). Somit haben wir schon, gegenüber dem »im Denken tê dianoia) bloß für sich genommenen« Einen (143 A), das Andre, auf das es sich beziehen, auf das seine Funktion sich erstrecken kann. Es ist, ihm selber immanent, durch es selber gesetzt, nämlich sofern es nach seiner wirklichen Funktion in der Erkenntnis, das heißt aber, in seiner Eigenschaft der Bezüglichkeit, und nicht in jener abstrakten Trennung verstanden wird, in der es, wenn es dabei bleiben sollte, auch gar nicht das Eine wäre, da durch seine absolute Isolierung, mit allem Sein, auch das Eins-sein aufgehoben wäre.

Doch verblieb auch in der zweiten Deduktion das Eine noch in der Rolle des Subjekts. Auch das Verhältnis zum Andern wurde von ihm ausgesagt, als ob es selbst das zu erkennende Subjekt wäre. Insofern blieb die zweite Deduktion, so gründlich sie den fundamentalen Fehler, der besonders der der Eleaten war, die Sonderstellung der reinen Begriffe, in der sie auf hörten Beziehungsarten zu bedeuten, zu überwinden schien, doch noch mit einem Fuße im Eleatismus stecken. Die reinen Begriffe schienen noch immer nicht Bestimmungsmittel, Funktionen, Methoden der Erkenntnis, sondern mindestens zugleich oder außerdem das zu Bestimmende, zu Erkennende selbst sein zu sollen. Dieser Fehler der Problemstellung hinderte nicht,[264] die wechselseitige Bezüglichkeit aller Grundbestimmungen des Denkens, die logische Entwicklung, die von irgend einem zu allen reinen Begriffen zwingend hinüberleitet, vorzuführen, und dabei auch den Funktionscharakter der reinen Denkbestimmungen hier und da durchleuchten zu lassen. Und gewiß ist damit auch schon die entscheidende Bedingung zur Möglichkeit der Erfahrung angedeutet, da die Erfahrung nichts andres als das Gebiet der Bezüglichkeit bedeutet. Aber doch blieb das wahre Verhältnis der reinen Denkbestimmungen zum x der Erfahrung noch verschleiert, ja verschoben. Das Andre zum Einen konnte noch scheinen bloß die andern Denkbestimmungen, gleichsam die andern Stücke der Denkmaschine zu besagen; wie wenn in der Gleichung der Erkenntnis nur die bekannten Größen, nämlich die eignen Begriffe des Denkens, und nicht auch das x stände, das erst die für die eleatische Denkweise ruhenden Begriffe in Bewegung, gleichsam die Räder der Maschine in Schwung setzt.

Deutlicher gesprochen: Nicht bloß auf Beziehung überhaupt, die immerhin auch an den ruhenden Maschinenteilen aufgewiesen werden konnte, gleichsam auf statische Beziehungen der Denksetzungen, sondern auf dynamische, d.i. auf wechselnde, auf grenzenlos sich fortentwickelnde Beziehungen kommt es an, und wieder auf den sicheren, methodischen Zusammenhang in diesem Wechsel, auf die bestimmte Richtung dieser Fortentwicklung, die durch den unsichtbaren, stets gesuchten, nie gegebenen Punkt, das x der unendlichen Rechnung der Erkenntnis, bezeichnet wird. War also die Totenstarre der ersten, eigentlich eleatischen Ansicht, der Erkenntnis zwar überwunden, so blieb doch auch die zweite Ansicht noch auf einer mittleren Stufe der Abstraktion stehen, die jetzt wieder überwunden werden muß.

Sie wird überwunden, indem die Frage sich umkehrt; indem nicht mehr das Eine, sondern das Andre oder Nicht Eine als Subjekt gilt, dem die reinen Denkbestimmungen mitsamt dem, woraus sie alle hergeleitet wurden, dem Einen selbst, der Reihe nach beizulegen sind. Und hierbei enthüllt sich nun dies Andre schon deutlich als der Korrelatbegriff zum Eidos, zur reinen Erkenntnisform, mithin als die Materie der Erkenntnis, das apeiron des Philebus, das in sich Unbegrenzte, zu Begrenzende, in sich Unbestimmte, zu Bestimmende, das x der Erfahrung, die »Erscheinung«.[265]

Das ergibt sich so: Das Andre ist allerdings nicht das Eine, aber es muß doch auch wiederum seiner nicht ganz beraubt sein, sondern irgendwie an ihm teilhaben. – Schon in diesem Ausdruck hat man darauf zu achten, daß das anfängliche Problem des Teilhabens, in dem sich ja die Frage der Möglichkeit der Erfahrung barg, mit voller Absichtlichkeit hier wieder aufgenommen wird, um endlich seiner klarsten Lösung entgegengeführt zu werden. – Als nicht schlechthin Eines muß es Teile haben, Teile aber sind notwendig Teile eines Ganzen, also eines Einen, denn das Ganze besagt das »Eine aus Vielen«. Der Begriff des Ganzen wird sehr genau umschrieben als der »einer gewissen Einheit« (mias tinos ideas 157 D) oder »eines Einen« (henos tinos), welches »aus den gesamten ein Vollständiges (Geschlossenes) geworden ist« (ex apantôn hen teleion gegonos). Dasselbe gilt wiederum von jedem Teil, denn »Jedes« besagt schon »Eines«, welches, abgesondert von den Andern, für sich ist. An der Einheit aber hat es Teil, indem es selbst etwas Andres ist als Eins, sonst hätte es nicht daran Teil, sondern wäre Eins. – Man sieht, wie hier schon deutlich das, was bestimmt wird, von der Bestimmung selbst, als dem Begriff nach ein Andres, geschieden wird. – Das Eins-sein kommt also nur dem Eins selber zu, aber, an ihm teilzuhaben, dem Ganzen wie auch dem Teil, denn jenes ist ein Ganzes, dessen Teile die Teile, und diese wiederum sind jeder ein Teil des Ganzen, welches Ganzen Teile es eben sind. Also als verschieden vom Einen haben sie Teil an ihm. Als von ihm verschieden aber sind sie Vieles, jetzt im Sinne des mehr als Einen, nicht etwa der einen Vielheit, die vielmehr den Begriff des Ganzen gibt. Und zwar als grenzenlos Vieles muß das am Einen Teilnehmende (metalambanonta, nicht mehr metechonta, das, was der Teilhabe fähig sein soll) gedacht werden. Denn nicht indem es Eines ist, noch indem es am Einen bereits Teil hat, kann es daran Teil nehmen (seiner teilhaft werden) eben dann, wann es daran teilnimmt. – Bei diesem »Wann« muß man sich der feinen Unterscheidungen des vorigen Kapitels erinnern. Es handelt sich genau wieder um das Stadium des Eintritts der reinen Denkfunktion in das Gebiet der bezüglichen Setzung, um das Ursprungsstadium des Erfahrungsdenkens, welches nur hier nicht (wie dort) von Seiten der reinen Funktion der Bestimmung, sondern von Seiten des zu Bestimmenden, des x der Erfahrung selbst ausgedrückt wird. – Mithin, heißt es[266] weiter: als Mehrheit (Mannigfaltigkeit), in der kein Eines ist (d.h. bestimmt ist), d.i. als unbestimmte Mannigfaltigkeit.

Dieser Begriff wird dann noch immer feiner herausgearbeitet. Nimmt man im Denkprozeß (tê dianoia – man beachte die wiederholten Hinweise darauf, daß alles hier Beschriebene im Prozeß des Denkens und sonst nirgends zu suchen ist) von diesem nur das Geringste weg, so muß doch das Weggenommene, da es ja nicht an der Einheit teilhaben soll, wieder ein (im gleichen Sinne, d. h. unbestimmt) Mannigfaltiges sein und nicht Eins. Wenn man nun so stets wieder »die von der Denkform verschiedene Natur« (das Korrelatum der Denkform, hier der Einheit) an und für sich (d. i. in ihrer Verschiedenheit und zugleich Korrelation zur Denkform selbst) ins Auge faßt, so wird, wie viel (oder wenig) man auch jedesmal von ihr im Auge hat, dies ein grenzenlos Mannigfaltiges sein. Andrerseits haben die Teile, nachdem jeder ein Teil geworden, damit nunmehr Begrenzung gegen einander und gegen das Ganze gewonnen, und das Ganze gegen die Teile. Also hat das »Andre als Eine« die Eigenschaft, daß aus dem Einen und ihm selbst, indem sie eine (gleichsam zeugende) Gemeinschaft eingehen, etwas Andres in ihnen entsteht, was jene gegenseitige Begrenzung (Bestimmung, Determination) zuwege bringt, seine eigne Natur für sich dagegen Grenzenlosigkeit (Unbestimmtheit, Indetermination). Somit ist das »Andre als Eine«, als Ganzes und in seinen Teilen, einerseits grenzenlos und hat andrerseits Teil an Begrenzung. Wie damit ferner alle übrigen (auch kontradiktorischen) Bestimmungen ihm zufallen, wird nur kurz an dem einzigen Beispiel der Qualitätsbestimmung gezeigt, übrigens, als »nicht mehr schwer zu finden«, dem durch die vorigen Deduktionen hoffentlich nun genugsam geschärften Selbstdenken des Lesers überlassen. Es soll in der Tat in dieser Hinsicht das Ergebnis der vorigen Deduktion stehen bleiben.

Es scheint fast gar nicht bekannt zu sein, daß in diesem merkwürdigen Kapitel des Parmenides der Grund gelegt ist zum Unbegrenzten und Begrenzenden des Dialogs Philebus. Auch das »Dritte aus Beiden« (Phileb. 23 CD, 27 B) fehlt nicht. Die Verbindung mit dem vorigen Kapitel aber stellt sich her durch die Unterscheidung des Teilnehmens vom Teilhaben, des teilhaft Werdens vom teilhaft Sein. Das teilhaft Werden besagt den Denkübergang, der begründet wurde, nicht, wie SCHLEIERMACHER[267] meint, im »Unendlichkleinen der Zeit«, sondern in jenem Denkursprung, in dem auch die Zeit sich erst dem Denken erzeugt, und nur so nicht mehr bloß die Diskretion vertritt. Die Denkbarkeit des Werdens fordert die Kontinuität, die auch hier, durch die unendliche Bestimmungsmöglichkeit in jedem beliebig kleinen Teil der unbestimmten Mannigfaltigkeit, nicht ausgedrückt, aber gefordert ist. Es entspricht der apeiria, d.i. Unbestimmtheit aber unendlichen Bestimmungsmöglichkeit, als Mittel, als Methode, als Funktion der Bestimmung das Denken des Übergangs, in letzter Instanz: des Ursprungs, der im platonischen Begriff des Werdens, hier Teilhaftwerdens (metalambanein, daneben aber auch gignesthai, 158 D) überhaupt zu Grunde liegt.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 263-268.
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