C. Untersuchung über Lust und Unlust (pag. 31-55.)

[337] Die nun folgende eingehende Prüfung der Lust, hinsichtlich ihres Anspruchs, das Gute zu bedeuten, führt zu Untersuchungen vorwiegend psychologischer Natur. Doch treten dialektische Aufgaben dabei wieder auf, indem bald sogar das Hauptinteresse sich der Frage zuwendet, inwiefern von Lust- und Unlustempfindungen ebenso wie von Urteilen Wahrheit und Falschheit ausgesagt werden kann. PLATO denkt einmal das Gute wesentlich unter dem Merkmal der Wahrheit.

Die Lust- und Unlustempfindung entspricht in ihrer unmittelbaren Form den Schwankungen, sozusagen Gleichgewichtsschwankungen der Gesamtverfassung des Organismus: der Störung (diaphthora) und Wiederherstellung (katastasis) seiner Normalverfassung (31 C u. ff., 42 C, 46 C). Ein Organismus, der gar keinen Gleichgewichtsschwankungen unterläge, wie man sich den göttlichen denkt, würde weder Lust- noch Unlustempfindung kennen (32 E). Andrerseits tritt die Störung und Wiederherstellung der Normalverfassung nicht in jedem Fall ins Bewußtsein (33 C – E); es gibt daher auch für uns einen lust- und unlustfreien Zustand; nicht indem überhaupt keine Schwankungen um die Gleichgewichtslage stattfinden, aber, indem sie nicht stark genug sind, um als Lust und Unlust zum Bewußtsein zu kommen (43 A – D).

Das erweckt schon kein günstiges Vorurteil für die Gleichsetzung der Lust mit dem Guten. Der ruhigen Selbsterhaltung der normalen Verfassung, die doch das immer angestrebte Ziel, also das Gute für den Organismus bedeutet, desgleichen den bei uns auch gewissermaßen normalen mäßigen Gleichgewichtsschwankungen[337] entspricht keine Lust- und Unlustempfindung. Gerade die starken Lustgefühle setzen vielmehr empfindliche Gleichgewichtsstörungen, also einen nicht normalen, geradezu einen krankhaften Zustand voraus, der ebensowohl die stärksten Unlustgefühle im Gefolge haben muß. Wer also nach möglichst viel Lust begehrt, begehrt damit, auch nach ebenso viel Unlust, er begehrt krank zu sein, er verlangt nach Werden und Vergehen, statt nach beharrendem Sein (55 A). Ein solches Verlangen aber ist in sich widersinnig, ist geradezu unlogisch, denn man kann logischerweise nicht das Werden erstreben, sondern nur das Sein: weil das Werden selbst Streben zum Sein ist (53 C – 55 C).

Durch diese Deduktion wäre die Erörterung sehr rasch zu ihrem Ziele geführt. Sie kompliziert sich aber, indem Lust und Unlust nicht bloß als unmittelbarer Ausdruck der jeweiligen Gesamtverfassung des Organismus existiert, sondern überdies eine sehr weit reichende Beteiligung des Bewußtseins in der Form der Vorstellung: durch Einbildungskraft, Gedächtnis, Erinnerung, Erwartung, Urteil in Frage kommt. Das führt nicht nur feine Entwickelungen zur Psychologie der Vorstellung, sondern auch Untersuchungen über Wahrheit und Falschheit herbei, die die Aufgabe der Dialektik nahe genug angehen, um im Zusammenhang mit den voraufgehenden und nachfolgenden Teilen des Dialogs, welche die Dialektik direkt betreffen, unsre Beachtung zu fordern.

Die Erregungen des körperlichen Organismus übertragen sich, wie schon gesagt, nicht unter allen Umständen, sondern im allgemeinen nur, wenn sie einen gewissen Intensitätsgrad erreichen, auf das Bewußtsein. Andrerseits tritt nun in diesem das ganze verwickelte Spiel der Vorstellung hinzu. Das Gedächtnis, welches gleichsam die Spur der entschwundenen Erregung erhält, die Erinnerung, welche aus dieser zurückgebliebenen Spur sie wieder erneuert, ermöglicht überhaupt erst ein Begehren oder Streben (epithymia, hormê) nach einer Verfassung, welche der, worin man sich eben befindet, entgegengesetzt ist; denn es muß doch in dem Strebenden irgend ein Bewußtsein dessen sein, wonach er strebt. Durch dieselben Bedingungen werden die Gefühle der Erwartung: Hoffnung und Befürchtung, ermöglicht. Daraus entstehen nun zwiespältige Zustände mannigfacher Art. Man empfindet Unlust über die augenblickliche Verfassung, hat dagegen die Erinnerung an die gegenteilige, erwünschte Verfassung[338] und die mit dieser verbundene Lust. Hat man nun zugleich Hoffnung in diese zurückzukehren, so ist der Zustand aus Lust und Unlust gemischt; andernfalls verdoppelt sich durch das mitspielende Bewußtsein die Unlust.

In solchen zwiespältigen Zuständen also entsteht die Frage: Was ist wahr, was falsch an diesen Phänomenen? – Zunächst zwar mag es scheinen, daß wohl die Erwartung (Hoffnung oder Befürchtung), allgemein das Urteil wahr oder falsch sein könne, nicht aber die Lust- und Unlustempfindung selbst. Man empfindet doch in jedem Fall Lust, beziehungsweise Unlust. Aber das entscheidet noch nicht; denn auch, wer falsch urteilt, urteilt in jedem Fall; er hat positiv die Meinung, es verhalte sich so; darum ist doch das Urteil falsch in Hinsicht des Gegenstands, sofern das Gemeinte eben nicht stattfindet. Es fragt sich, ob nicht dem entsprechend auch die Lust und Unlust, obgleich sie zweifellos wirklich Lust bezw. Unlust ist, dennoch falsch sein kann in Hinsicht des Gegenstandes, woran man Lust oder Unlust empfindet; sofern eben dies Objekt nichts Wahrhaftes ist, sofern die Lust und Unlust gleichsam etwas meint, das nicht wirklich ist. Sollte nicht in diesem Sinne z.B. dem Irren und Träumenden falsche, weil ihren gemeinten Gegenstand verfehlende Lust und Unlust zuzuschreiben sein (36 C ff.)?

Wahrheit und Falschheit sind ursprünglich Qualitäten des Urteils (37 C; eine aus dem Sophisten uns bekannte Bestimmung; s. das. 262 E, 263 B). Aber sind nicht auch Lust- und Unlustempfindungen, die ihren Gegenstand verfehlen, von den auf ihren Gegenstand richtig bezogenen in gewissem Sinne qualitativ verschieden ?

Das ergibt sich auf folgendem Wege. In den Wahrnehmungen entstehen Zweifel, und wird also die Entscheidung des Urteils notwendig, z.B. infolge der ungleichen Darstellung desselben Gegenstands aus verschiedener Entfernung (38 B ff). Man sagt in solchem Falle gleichsam zu sich selbst: das ist wohl das und das, und findet es nachher anders. Als solche innere Aussage (logos) kennen wir längst den Gedanken (dianoia) und das ihn zum Abschluß bringende Urteil (doxa, so hier 38 E). Die Vergleichung wird aber hier weitergeführt: Man spricht nicht bloß zu sich selbst, sondern das Gedächtnis schreibt gleichsam in der Seele wie in einem Buche diese mannigfachen Aussagen, wahre und falsche ohne Unterschied, nieder. Und mit dem Schreiber zugleich ist noch ein Maler in unserer Seele fortwährend tätig,[339] der zu den Aussagen die entsprechenden Bilder hinzufügt. Diese jedenfalls werden, je nach den Gedanken und Urteilen, die sie gleichsam illustrieren, auch selber wahr und falsch zu nennen sein. Solche heißen abbildliche Erscheinungen der Vorstellung (phantasmara ezôgraphêmena), welche den ursprünglichen Erscheinungen der Sinneswahrnehmung (phantazomena, 38 C; vgl. 39 A, hê mnêmê tais aisthêsesi xympiptousa eis tauton) inhaltlich entsprechen. – Diese Auffassung der »Phantasie« ist eine Erweiterung der im Sophisten (264 A) ausgesprochenen, stimmt aber mit ihr in dem Hauptzug überein, daß an sich das Erscheinen selbst auf Urteil beruht, denn nicht in dem bloßen innern Sehen der Bilder (eikonas en hautô hora pôs, 39 C), sondern in dem Urteil, dem Text gleichsam, den das Bild der Phantasie nur als Illustration begleitet, liegt die Täuschung, die allerdings durch das begleitende Bild sehr unterstützt wird; man glaubt eben zu sehen, daß es so ist. – Unter solchen wahren und falschen Bildern nun finden sich auch solche von Lust- und Unlustzuständen, besonders künftigen, die also im gleichen Sinne wahr und falsch zu nennen sind. Wir empfinden zwar auch in diesen Fällen wirklich Lust und Unlust, aber wir empfinden sie, wenn diesen Phantasiebildern der Lust und Unlust keine Wirklichkeit entspricht, an nichts Wirklichem. Eine solche Empfindung hat man doch alles Recht verkehrt zu nennen; und worin anders bestände ihre Verkehrtheit als in Unwahrheit (40 E)?

Auch hier beruht die Täuschung vornehmlich auf der verschiedenen Darstellung des Objekts aus verschiedener Entfernung: Die räumlich oder zeitlich nahe Lust und Unlust erscheint gegen die ferne größer, die ferne geringer als sie ist; sodann auf der Verschiedenheit dessen, womit man vergleicht. Derartig falsche Urteile über Wahrgenommenes können zugleich die Lust- und Unlustempfindung verfälschen; es wird aber auch unmittelbar die Lust und Unlust selbst in dieser Weise falsch beurteilt, die Lust und Unlust selbst scheint größer oder kleiner als sie ist (42 A – C), ist somit unwahr.

So erscheint namentlich der lust- und unlustfreie Zustand gegen den der Unlust schon als Lust. In diesem Falle täuscht man sich direkt über den Charakter der eignen Empfindung. Gewisse Philosophen – leider nennt sie PLATO nicht, und die Beziehung ist streitig – haben, da sie diese Täuschung bemerkten, daraus den zu weit gehenden Schluß gezogen, es gebe gar keine wahrhafte Lust, sondern, was man dafür ansehe,[340] sei in Wahrheit nur Freiheit von Unlust, die fälschlich als (positive) Lust erscheine. Das trifft indessen, nach PLATOS Urteil, wenigsten nicht allgemein zu. Es trifft allerdings zu auf die größten und stärksten Lüste, welches im allgemeinen die leiblichen sind. Diese entsprechen den stärksten Begierden, also den stärksten Unlustempfindungen. Und da zeigt sich nun besonders der Widersinn des Verlangens nach größtmöglicher Lust. Man verlangt damit zugleich nach größtmöglicher Unlust, man verlangt nach einem krankhaften Zustand des Hin- und Hergeworfenwerdens zwischen Extremen.

Es wird dann noch weiter in feiner Psychologie die Mischung der Lust und Unlust, so besonders in der Lust am Tragischen und am Komischen erörtert, nicht ohne die Anwendung auf »die ganze Komödie und Tragödie des Lebens« (50 B). Schließlich ist aber PLATO, wie gesagt, nicht der Meinung, daß es überhaupt keine ungemischte und also wahre Lust gebe, sondern er läßt als solche gelten: erstens die, wie wir sagen würden, ästhetische Freude an reinen Farben, Gestalten, Gerüchen, Tönen, die einen nicht merklich schmerzenden Mangel merklich lustvoll ausgleichen; zweitens die Lust der Erkenntnis, die ebenfalls durch keinen schmerzenden Mangel bedingt ist.

Alle diese Lüste aber beruhen auf reinen Verhältnissen, auf Maß und Gesetz, die an sich eine ihnen eigentümliche, ursprüngliche Lustempfindung im Gefolge haben (hêdonas oikeias, xymphytous, D), daher an und für sich schön sind, nicht nur wechselnd nach wechselnder Relation schön oder nicht erscheinen. Diese Lüste allein sind also wahrhaft. Ihre Wahrheit beruht aber auf dem Maß und reinen Verhältnis, mithin auf der gesetzmäßigen Bestimmung des Unbestimmten; während die maßlosen, zwischen dem Zuviel und Zuwenig hin und her schwankenden Zustände, als auf dem Prinzip der Unbestimmtheit beruhend, eben damit der Unwahrheit verfallen (52 C).

Damit ist diese ganze Phänomenologie der Lust und Unlust zu den vorher aufgestellten allgemeinen Prinzipien zurückgeführt. Es fällt dadurch zugleich neues Licht auf das von PLATO so lastend empfundene Problem der Möglichkeit von Falschheit und Irrtum. Die Quelle der Falschheit ist hiernach die schwebende Unbestimmtheit, aus der alle Bestimmtheit nach Maß und Gesetz sich gleichsam erst herausarbeiten muß. Sie macht dem Schweben und Schwanken ein Ende und begründet damit alle Wahrheit ebenso wie alles Sein, alle Erhaltung,[341] und damit die Güte einer jeden Sache, auch die Güte oder Tugend der Seele, die sittliche Güte.

Also hängen in jenen Urprinzipien des Unbestimmten und seiner Bestimmung nach Maß und Gesetz schließlich auch Logik und Ethik, und gerade nach den letzten Betrachtungen mit beiden auch die Aesthetik zusammen. Es ist sehr zu beachten, wie dieser Zusammenhang, den schon der Gorgias in den allgemeinsten Grundlinien entwarf, hier seine letzte Vertiefung erreicht auf Grund der aus dem Urgesetz des Logischen geschöpften Prinzipienlehre.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 337-342.
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