Zu Kapitel III.

[527] 7) Über die Abfassungszeit des Phaedrus s. o. S. 489 [Anm.] und die ganze voraufgehende Darlegung von S. 474 ab. Von den vielen sich hier aufdrängenden Fragen sei nur die eine hier noch berührt: ob denn eigentlich die Dreiteilung der Seele im Phaedrus der im Staat wirklich entspricht. Eine erneute Untersuchung hat mich zur bestimmten Verneinung dieser Frage geführt. Die beiden Rosse des Seelengespanns können garnicht als das epithymêtikon und das thymoeides des Staats gedeutet werden. Eine durchaus nur schlechte, wesentlich zur Erde niederziehende epithymia kennt der ganze PLATO, von den ersten Schriften bis zur letzten, nicht, kann sie garnicht behaupten wollen. Er kennt ebensowenig einen nur guten, der Vernunft folgsamen thymos, sondern beide können der Vernunft folgsam sein oder nicht, allenfalls neigt die erstere mehr zur Widersetzlichkeit gegen sie, der letztere mehr zur Folgsamkeit. Von einem thymos, thymoeides als selbständigem Seelenteil ist aber im Phaedrus nirgends auch nur die leiseste Andeutung zu finden, sondern es handelt sich, in der Palinodie nicht anders als in der ersten Rede des SOKRATES (237 f.) einfach um Vernunft und Sinnlichkeit, und die zwei Rosse vertreten nichts anderes als den Zug abwärts und den Zug aufwärts, welche beide in der Sinnlichkeit selbst miteinander streiten. Bestätigung für diese Auffassung ist, daß die Tugend des »guten« Seelenrosses sôphrosynê, aidôs, aischynê, thambos, enkrateia, kosmos (nur daneben auch Ehrliebe), die Untugend des »schlechten« hybris, alazoneia, anaideia, akolasia (neben deilia, anandria) ist; alles im Widerspruch gegen die klare Scheidung im Staat. Dieser steht viel näher der Phaedo in der ungleich deutlicheren Dreiteilung: philosômatos (und philochrêmatos), philotimos, philosophos, denen die Tugenden sôphrosynê (eng verbunden mit sikaiosynê), andreia, phronêsis entsprechen: 68 BC, vgl. 82 C, und besonders 94 B ff., wo den kata to sôma pathesin – sc. tês psychês – die epithymiai, orgai, phoboi entsprechen, die teils nur durch ernste, schmerzhafte Strafen, teils durch sanfte Zurechtweisung seitens des phronimon lenkbar sind. Ich sehe nicht, wie man leugnen könnte, daß diese Dreiteilung viel näher auf die im Staat hinführt, als die des Phaedrus, die mit der letzteren kaum vereinbar ist, allenfalls nur als entfernte Vorstufe zu ihr aufgefaßt werden kann. Was aber den scharten Abstich der zweiten SOKRATESrede gegen die ganze sokratisierende Periode PLATOS betrifft, wird man den Phaedrus[527] auch unmittelbar nach dem Gorgias vielleicht dann nicht mehr so unmöglich finden, wie die meisten es ansehen, wenn man nur einmal versuchsweise die Hypothesis wagt, daß PLATO etwa schon vor seinen engeren Beziehungen zu SOKRATES, von HERAKLIT, PINDAR (Men. 81 B) und den Mysterienanschauungen (auch EMPEDOKLES und dem Pythagoreismus) her, zu der vom Meno ab deutlicher und deutlicher hervortretenden transzendenten Hintergrundsüberzeugung gelangt war, die dann im Phaedrus offen hervorbricht; seit der entscheidenden Einwirkung des SOKRATES aber sich der ernsten Zucht selbstprüfender Wissenskritik bewußt unterwarf, sie aufs gründlichste durchzuarbeiten und damit ganz ins Reine zu kommen für Pflicht erkannte, für solange sich die strenge Entsagung auferlegte, mit seinen letzten, tief religiös begründeten Überzeugungen zurückzuhalten, von denen daher nur selten, fast ungewollt, einiges durchschimmert – bis er die Selbstsicherheit gewonnen hatte, ganz offen (doch auch jetzt nur in mystisch-mythischer, enthusiastischer Verkleidung, unter Voraussetzung einer für SOKRATES ganz ungewöhnlichen Lage, nicht ohne unmittelbare göttliche Einwirkung) damit hervorzutreten (darum: Tolmêteon gar oun to ge alê thes eipein, Phdr. 247 C) Der Eleatismus, auch der parmenideische Mythus der Auffahrt zu den Gefilden der »Wahrheit«, gab die Einkleidung; das Unten und Oben, Hienieden und Drüben, Aufstieg und Herabfall die Entgegensetzung des menschlich-irdischen und des göttlich-himmlischen (oder vielmehr, damit auch der bloß sinnliche Himmel ausgeschlossen sei, »überhimmlischen«) Bereichs, als Ausdruck der Dualität des aisthêtos und noêtos topos, war damit schon gegeben; die längst für PLATO feststehende Voraussetzung der Unsterblichkeit, Präexistenz (Anamnesis) und Wiederkehr verwob sich damit ohne Schwierigkeit. So war das Grundgerüst des kühnen Aufbaus der zweiten SOKRATESrede errichtet; die vielen Verwickelungen und Widersprüche im einzelnen durften dem Enthusiasmus des Augenblicks, der »Blendung« durch das allzuhell auf einmal hereinströmende Licht zugute gehalten werfen. Daß dies alles erst nach dem Staat möglich gewesen wäre, will durchaus nicht einleuchten. Sowohl der schroffe Dualismus der Sinnen- und Verstandeswelt selbst, wie die mythische Einkleidung ist durch den Meno und Gorgias mannigfach vorbereitet; beides findet sich in schärfster Ausprägung, deutlicher als im Staat, schon im Phaedo, der gegenüber dem Phaedrus schon eine Abklärung bedeutet. Klar und bestimmt stehen[528] sich da gegenüber das aisthêton oder horaton und das noêton oder aides (83 B, 81 B), und zwar als horatos topos (81 C, 108 B, vgl. auch 80 C en horatô eimenon) und katharos kai aidês topos (= Aidês, nach der Etymologie Aidês = to aides, Krat. 403 A, 404 A; Phaed. 80 D, 81 C), der sich deckt mit dem alêthôs ouranos 109 E, im Gegensatz zum gemeinhin verstandenen sichtbaren (vgl. die Etymologie ouranos = horatos topos Staat 509 D). Vom Phaedo aus wäre daher der Phaedrus leicht verständlich. Aber auch er muß darum nicht diesem vorausgegangen sein, da dieselben charakteristischen Wendungen sich zum Teil schon früher, vor allem im Gorgias finden (Aidês = to aides 493 B, daneben sôma = sêma, vgl. Phdr. 250 C, Krat. 400 BC, und dazu wieder Phdo. 62 B, 82 C; anoêtoi = amyêtoi, vgl. Phaedo 69 C, 81 A und Phdr. 249 C, 250 BC – alles aus den gleichen Mysterienanschauungen, auf die auch schon der Meno hindeutete.) Hält man sich das alles gegenwärtig, so versteht sich alles ziemlich einfach und gewinnt unsere Hypothesis immer mehr an innerer Wahrscheinlichkeit. Es bleibt nur weniges, wie namentlich der neue Unsterblichkeitsbeweis und die (zwar von Schwierigkeiten strotzende) Darstellung der kosmischen Beziehungen der Psyche, was nur schwer vor dem Phaedo denkbar, gerade den spätesten Schritten PLATOS näher scheint als auch der Staat. Deshalb glaube auch ich jetzt, daß die ganze Schrift, so wie sie uns vorliegt, der Spätzeit angehört. Aber daneben steht, vor und nach der »Palinodie«, so vieles, was ganz unwidersprechlich auf die sokratische Periode zurückweist, und ergeben sich dadurch so faustdicke Widersprüche (wie vor allem die fast fanatische Predigt der technê und methodos im zweiten Teil, gegen ihre schnöde Verachtung 245 A), daß sich die Annahme einer Ineinanderarbeitung jüngerer und älterer Bestandteile geradezu aufdringt. Sie allein erklärt die befremdende Unausgeglichenheit des ganzen Werks, die nur die Blendung durch den Glanz der »Palinodie« übersehen lassen kann.

8) Zu S. 79 u. 82: Nicht so sehr das Fehlen irgendwelches bestimmten Hinweises auf die Mathematik im Phaedrus überhaupt, wie daß von ihrer Bedeutung als entscheidender Vermittlung vom sinnlichen zum intelligibeln Reich nirgends auch nur die leiseste Andeutung zu finden ist, wäre schwer verständlich, wenn der Staat vorausgegangen war. Doch entspricht das nur dem vollständigen Fehlen irgendwelcher methodischen Vermittlung überhaupt, die durch das oxeôs enthende[529] ekeise pheretai 250 E geradezu ausgeschlossen scheint. Die zweite SOKRATESrede verrät die Nähe zur sokratischen Periode gerade darin, daß sie durchweg auf dem Boden der ganz unvermittelten Entgegensetzung des Diesseits und Jenseits, des sinnlichen und intelligibeln Bereichs stehen bleibt, eine Vermittelung gar nicht vermißt, während im Phaedo, Gastmahl, Staat eine solche sich immer entschiedener anbahnt, und die viel tiefergreifende des Parmenides, Sophisten und Philebus – die dem Phaedrus noch viel ferner liegt – von mehr als einer Seite sich vorbereitet.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 527-530.
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