Zweiter Vortrag
(Gehalten am 6. Februar 1872)

[196] Meine verehrten Zuhörer! Diejenigen unter Ihnen, welche ich erst von diesem Augenblicke an als meine Zuhörer begrüßen darf, und die von meinem vor drei Wochen gehaltenen Vortrage vielleicht nur gerüchtweise vernommen haben, müssen es sich jetzt gefallen lassen, ohne weitere Vorbereitungen mitten in ein ernstes Zwiegespräch eingeführt zu werden, das ich damals wiederzuerzählen angefangen habe und an dessen letzte Wendungen ich heute erst erinnern werde. Der jüngere Begleiter des Philosophen hatte soeben in ehrlich-vertraulicher Weise sich vor seinem bedeutenden Lehrmeister entschuldigen müssen, weshalb er unmutig aus seiner bisherigen Lehrerstellung ausgeschieden sei und in einer selbstgewählten Einsamkeit ungetröstet seine Tage verbringe. Am wenigsten sei ein hochmütiger Dünkel die Ursache eines solchen Entschlusses gewesen.

»Zuviel«, sagte der rechtschaffne Jünger, »habe ich von Ihnen, mein Lehrer, gehört, zu lange bin ich in Ihrer Nähe gewesen, um mich an unser bisheriges Bildungs- und Erziehungswesen gläubig hingeben zu können. Ich empfinde zu deutlich jene heillosen Irrtümer und Mißstände, auf die Sie mit dem Finger zu zeigen pflegten: und doch merke ich wenig von der Kraft in mir, mit der ich, bei tapferem Kampfe, Erfolge haben würde, mit der ich die Bollwerke dieser angeblichen Bildung zertrümmern könnte. Eine allgemeine Mutlosigkeit überkam mich: die Flucht in die Einsamkeit war nicht Hochmut, nicht Überhebung.« Darauf hatte er, zu seiner Entschuldigung, die allgemeine Signatur dieses Bildungswesens so beschrieben, daß der Philosoph nicht umhin konnte, mit mitleidiger Stimme ihm ins Wort zu fallen und ihn so zu beruhigen.

»Nun, halt einmal still, mein armer Freund«, sagte er; »ich begreife dich jetzt besser und hätte dir vorhin kein so hartes Wort sagen sollen. Du hast in allem Recht, nur nicht in deiner Mutlosigkeit. Ich will dir jetzt etwas zu deinem Troste sagen. Wie lange glaubst du wohl, daß[196] das auf dir so schwer lastende Bildungsgebaren in der Schule unsrer Gegenwart noch dauern werde? Ich will dir meinen Glauben darüber nicht vorenthalten: seine Zeit ist vorüber, seine Tage sind gezählt. Der erste, der es wagen wird, auf diesem Gebiete ganz ehrlich zu sein, wird den Widerhall seiner Ehrlichkeit aus tausend mutigen Seelen zu hören bekommen. Denn im Grunde ist unter den edler begabten und wärmer fühlenden Menschen dieser Gegenwart ein stillschweigendes Einverständnis: jeder von ihnen weiß, was er von den Bildungszuständen der Schule zu leiden hatte, jeder möchte seine Nachkommen mindestens von dem gleichen Drucke erlösen, wenn er sich auch selbst preisgeben müßte. Daß aber trotzdem es nirgends zur vollen Ehrlichkeit kommt, hat seine traurige Ursache in der pädagogischen Geistesarmut unserer Zeit; es fehlt gerade hier an wirklich erfinderischen Begabungen, es fehlen hier die wahrhaft praktischen Menschen, das heißt diejenigen, welche gute und neue Einfälle haben und welche wissen, daß die rechte Genialität und die rechte Praxis sich notwendig im gleichen Individuum begegnen müssen: während den nüchternen Praktikern es gerade an Einfällen und deshalb wieder an der rechten Praxis fehlt.

Man mache sich nur einmal mit der pädagogischen Literatur dieser Gegenwart vertraut; an dem ist nichts mehr zu verderben, der bei diesem Studium nicht über die allerhöchste Geistesarmut und über einen wahrhaft täppischen Zirkeltanz erschrickt. Hier muß unsere Philosophie nicht mit dem Erstaunen, sondern mit dem Erschrecken beginnen: wer es zu ihm nicht zu bringen vermag, ist gebeten, von den pädagogischen Dingen seine Hände zu lassen. Das Umgekehrte war freilich bisher die Regel; diejenigen, welche erschraken, liefen wie du, mein armer Freund, scheu davon, und die nüchternen Unerschrocknen legten ihre breiten Hände recht breit auf die allerzarteste Technik, die es in einer Kunst geben kann, auf die Technik der Bildung. Das wird aber nicht lange mehr möglich sein; es mag nur einmal der ehrliche Mann kommen, der jene guten und neuen Einfälle hat und zu deren Verwirklichung mit allem Vorhandenen zu brechen wagt, er mag nur einmal an einem großartigen Beispiel es vormachen, was jene bisher allein tätigen breiten Hände nicht nachzumachen vermögen – dann wird man wenigstens überall anfangen zu unterscheiden, dann wird man wenigstens den Gegensatz spüren und über die Ursachen[197] dieses Gegensatzes nachdenken können, während jetzt noch so viele in aller Gutmütigkeit glauben, daß die breiten Hände zum pädagogischen Handwerk gehören.«

»Ich möchte, mein geehrter Lehrer«, sagte hier der Begleiter, »daß Sie mir an einem einzelnen Beispiele selbst zu jener Hoffnung verhülfen, die aus Ihnen so mutig zu mir redet. Wir kennen beide das Gymnasium; glauben Sie zum Beispiel auch in Hinsicht auf dieses Institut, daß hier mit Ehrlichkeit und guten, neuen Einfällen die alten zähen Gewohnheiten aufgelöst werden könnten? Hier schützt nämlich, scheint es mir, nicht eine harte Mauer gegen die Sturmböcke eines Angriffs, wohl aber die fatalste Zähigkeit und Schlüpfrigkeit aller Prinzipien. Der Angreifende hat nicht einen sichtbaren und festen Gegner zu zermalmen: dieser Gegner ist vielmehr maskiert, vermag sich in hundert Gestalten zu verwandeln und in einer derselben dem packenden Griffe zu entgleiten, um immer von neuem wieder durch feiges Nachgeben und zähes Zurückprallen den Angreifenden zu verwirren. Gerade das Gymnasium hat mich zu einer mutlosen Flucht in die Einsamkeit gedrängt, gerade weil ich fühle, daß, wenn hier der Kampf zum Siege führt, alle anderen Institutionen der Bildung nachgeben müssen, und daß, wer hier verzagen muß, überhaupt in den ernstesten pädagogischen Dingen verzagen muß. Also, mein Meister, belehren Sie mich über das Gymnasium: was dürfen wir für eine Vernichtung des Gymnasiums, was für eine Neugeburt desselben hoffen?«

»Auch ich«, sagte der Philosoph, »denke von der Bedeutung des Gymnasiums so groß wie du: an dem Bildungsziele, das durch das Gymnasium erstrebt wird, müssen sich alle anderen Institute messen, an den Verirrungen seiner Tendenz leiden sie mit, durch die Reinigung und Erneuerung desselben werden sie sich gleichfalls reinigen und erneuern. Eine solche Bedeutung als bewegender Mittelpunkt kann jetzt selbst die Universität nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die, bei ihrer jetzigen Formation, wenigstens nach einer wichtigen Seite hin nur als Ausbau der Gymnasialtendenz gelten darf; wie ich dir dies später deutlich machen will. Für jetzt betrachten wir das miteinander, was in mir den hoffnungsvollen Gegensatz erzeugt, daß entweder der bisher gepflegte, so buntgefärbte und schwer zu erhaschende Geist des Gymnasiums völlig in der Luft zerstieben wird oder daß er von Grund[198] aus gereinigt und erneuert werden muß: und damit ich dich nicht mit allgemeinen Sätzen erschrecke, denken wir zuerst an eine jener Gymnasialerfahrungen, die wir alle gemacht haben und an denen wir alle leiden. Was ist jetzt, mit strengem Auge betrachtet, der deutsche Unterricht auf dem Gymnasium?

Ich will dir zuerst sagen, was er sein sollte. Von Natur spricht und schreibt jetzt jeder Mensch so schlecht und gemein seine deutsche Sprache, als es eben in einem Zeitalter des Zeitungsdeutsches möglich ist: deshalb müßte der heranwachsende edler begabte Jüngling mit Gewalt unter die Glasglocke des guten Geschmacks und der strengen sprachlichen Zucht gesetzt werden: ist dies nicht möglich, nun so ziehe ich nächstens wieder vor, lateinisch zu sprechen, weil ich mich einer so verhunzten und geschändeten Sprache schäme.

Was für eine Aufgabe hätte eine höhere Bildungsanstalt in diesem Punkte, wenn nicht gerade die, autoritativ und mit würdiger Strenge die sprachlich verwilderten Jünglinge zurechtzuleiten und ihnen zuzurufen: ›Nehmt eure Sprache ernst! Wer es hier nicht zu dem Gefühl einer heiligen Pflicht bringt, in dem ist auch nicht einmal der Keim für eine höhere Bildung vorhanden. Hier kann sich zeigen, wie hoch oder wie gering ihr die Kunst schätzt und wie weit ihr verwandt mit der Kunst seid, hier in der Behandlung eurer Muttersprache. Erlangt ihr nicht soviel von euch, vor gewissen Worten und Wendungen unserer journalistischen Gewöhnung einen physischen Ekel zu empfinden, so gebt es nur auf, nach Bildung zu streben: denn hier, in der allernächsten Nähe, in jedem Augenblick eures Sprechens und Schreibens habt ihr einen Prüfstein, wie schwer, wie ungeheuer jetzt die Aufgabe des Gebildeten ist und wie unwahrscheinlich es sein muß, daß viele von euch zur rechten Bildung kommen.‹

Im Sinne einer solchen Anrede hätte der deutsche Lehrer am Gymnasium die Verpflichtung, auf tausende von Einzelheiten seine Schüler aufmerksam zu machen und ihnen mit der ganzen Sicherheit eines guten Geschmacks den Gebrauch von solchen Worten geradezu zu verbieten, wie zum Beispiel von ›beanspruchen‹, ›vereinnahmen‹, ›einer Sache Rechnung tragen‹, ›die Initiative ergreifen‹, ›selbstverständlich‹ – und so weiter cum taedio in infinitum. Derselbe Lehrer würde ferner an unseren klassischen Autoren von Zeile zu Zeile zeigen müssen, wie[199] sorgsam und streng jede Wendung zu nehmen ist, wenn man das rechte Kunstgefühl im Herzen und die volle Verständlichkeit alles dessen, was man schreibt, vor Augen hat. Er wird immer und immer wieder seine Schüler nötigen, denselben Gedanken noch einmal und noch besser auszudrücken, und wird keine Grenze seiner Tätigkeit finden, bevor nicht die geringer Begabten in einen heiligen Schreck vor der Sprache, die Begabteren in eine edle Begeisterung für dieselbe geraten sind.

Nun, hier ist eine Aufgabe für die sogenannte formelle Bildung und eine der allerwertvollsten: und was finden wir nun am Gymnasium, an der Stätte der sogenannten formellen Bildung? – Wer das, was er hier gefunden hat, unter die richtigen Rubriken zu bringen versteht, wird wissen, was er von dem jetzigen Gymnasium als einer angeblichen Bildungsanstalt zu halten hat: er wird nämlich finden, daß das Gymnasium nach seiner ursprünglichen Formation nicht für die Bildung, sondern nur für die Gelehrsamkeit erzieht, und ferner, daß es neuerdings die Wendung nimmt, als ob es nicht einmal mehr für die Gelehrsamkeit, sondern für die Journalistik erziehn wolle. Dies ist an der Art, wie der deutsche Unterricht erteilt wird, wie an einem recht zuverlässigen Beispiele zu zeigen.

An Stelle jener rein praktischen Instruktion, durch die der Lehrer seine Schüler an eine strenge sprachliche Selbsterziehung gewöhnen sollte, finden wir überall die Ansätze zu einer gelehrt-historischen Behandlung der Muttersprache: das heißt, man verfährt mit ihr, als ob sie eine tote Sprache sei, und als ob es für die Gegenwart und Zukunft dieser Sprache keine Verpflichtungen gäbe. Die historische Manier ist unserer Zeit bis zu dem Grade geläufig geworden, daß auch der lebendige Leib der Sprache ihren anatomischen Studien preisgegeben wird: hier aber beginnt gerade die Bildung, daß man versteht, das Lebendige als lebendig zu behandeln, hier beginnt gerade die Aufgabe des Bildungslehrers, das überall her sich aufdrängende ›historische Interesse‹ dort zu unterdrücken, wo vor allen Dingen richtig gehandelt, nicht erkannt werden muß. Unsere Muttersprache aber ist ein Gebiet, auf dem der Schüler richtig handeln lernen muß: und ganz allein nach dieser praktischen Seite hin ist der deutsche Unterricht auf unsern Bildungsanstalten notwendig. Freilich scheint die historische Manier[200] für den Lehrer bedeutend leichter und bequemer zu sein, ebenfalls scheint sie einer weit geringeren Anlage, überhaupt einem niedrigeren Fluge seines gesamten Wollens und Strebens zu entsprechen. Aber diese selbe Wahrnehmung werden wir auf allen Feldern der pädagogischen Wirklichkeit zu machen haben: das Leichtere und Bequemere hüllt sich in den Mantel prunkhafter Ansprüche und stolzer Titel: das eigentlich Praktische, das zur Bildung gehörige Handeln, als das im Grunde Schwerere, erntet die Blicke der Mißgunst und Geringschätzung: weshalb der ehrliche Mensch auch dieses Quidproquo sich und anderen zur Klarheit bringen muß.

Was pflegt nun der deutsche Lehrer, außer diesen gelehrtenhaften Anregungen zu einem Studium der Sprache, sonst noch zu geben? Wie verbindet er den Geist seiner Bildungsanstalt mit dem Geist der wenigen wahrhaft Gebildeten, die das deutsche Volk hat, mit dem Geiste seiner klassischen Dichter und Künstler? Dies ist ein dunkles und bedenkliches Bereich, in das man nicht ohne Schrecken hineinleuchten kann: aber auch hier wollen wir uns nichts verhehlen, weil irgendwann einmal hier alles neu werden muß. In dem Gymnasium wird die widerwärtige Signatur unserer ästhetischen Journalistik auf die noch ungeformten Geister der Jünglinge geprägt: hier werden von dem Lehrer selbst die Keime zu dem rohen Mißverstehen-wollen unserer Klassiker ausgesät, das sich nachher als ästhetische Kritik gebärdet und nichts als vorlaute Barbarei ist. Hier lernen die Schüler von unserm einzigen Schiller mit jener knabenhaften Überlegenheit zu reden, hier gewöhnt man sie, über die edelsten und deutschesten seiner Entwürfe, über den Marquis Posa, über Max und Thekla zu lächeln – ein Lächeln, über das der deutsche Genius ergrimmt, über das eine bessere Nachwelt erröten wird.

Das letzte Bereich, auf dem der deutsche Lehrer am Gymnasium tätig zu sein pflegt, und das nicht selten als die Spitze seiner Tätigkeit, hier und da sogar als die Spitze der Gymnasialbildung betrachtet wird, ist die sogenannte deutsche Arbeit. Daran, daß auf diesem Bereiche sich fast immer die begabtesten Schüler mit besonderer Lust tummeln, sollte man erkennen, wie gefährlich-anreizend gerade die hier gestellte Aufgabe sein mag. Die deutsche Arbeit ist ein Appell an das Individuum: und je stärker bereits sich ein Schüler seiner unterscheidenden[201] Eigenschaften bewußt ist, um so persönlicher wird er seine deutsche Arbeit gestalten. Dieses ›persönliche Gestalten‹ wird noch dazu in den meisten Gymnasien schon durch die Wahl der Themata gefordert: wofür mir immer der stärkste Beweis ist, daß man schon in den niedrigeren Klassen das an und für sich unpädagogische Thema stellt, durch welches der Schüler zu einer Beschreibung seines eignen Lebens, seiner eignen Entwicklung veranlaßt wird. Nun mag man nur einmal die Verzeichnisse solcher Themata an einer größeren Anzahl von Gymnasien durchlesen, um zu der Überzeugung zu kommen, daß wahrscheinlich die allermeisten Schüler für ihr Leben an dieser zu früh geforderten Persönlichkeitsarbeit, an dieser unreifen Gedankenerzeugung, ohne ihr Verschulden, zu leiden haben: und wie oft erscheint das ganze spätere literarische Wirken eines Menschen wie die traurige Folge jener pädagogischen Ursünde wider den Geist!

Man muß nur denken, was in einem solchen Alter, bei der Produktion einer solchen Arbeit, vor sich geht. Es ist die erste eigne Produktion; die noch unentwickelten Kräfte schießen zum ersten Male zu einer Kristallisation zusammen; das taumelnde Gefühl der geforderten Selbständigkeit umkleidet diese Erzeugnisse mit einem allerersten, nie wiederkehrenden berückenden Zauber. Alle Verwegenheiten der Natur sind aus ihrer Tiefe hervorgerufen, alle Eitelkeiten, durch keine mächtigere Schranke zurückgehalten, dürfen zum ersten Male eine literarische Form annehmen: der junge Mensch empfindet sich von jetzt ab als fertig geworden, als ein zum Sprechen, zum Mitsprechen befähigtes, ja aufgefordertes Wesen. Jene Themata nämlich verpflichten ihn, sein Votum über Dichterwerke abzugeben oder historische Personen in die Form einer Charakterschilderung zusammenzudrängen oder ernsthafte ethische Probleme selbständig darzustellen oder gar, mit umgekehrter Leuchte, sein eignes Werden sich aufzuhellen und über sich selbst einen kritischen Bericht abzugeben: kurz, eine ganze Welt der nachdenklichsten Aufgaben breitet sich vor dem überraschten, bis jetzt fast unbewußten jungen Menschen aus und ist seiner Entscheidung preisgegeben.

Nun vergegenwärtigen wir uns, diesen so einflußreichen ersten Originalleistungen gegenüber, die gewöhnliche Tätigkeit des Lehrers. Was erscheint ihm an diesen Arbeiten als tadelnswert? Worauf macht[202] er seine Schüler aufmerksam? Auf alle Exzesse der Form und des Gedankens, das heißt auf alles das, was in diesem Alter überhaupt charakteristisch und individuell ist. Das eigentlich Selbständige, das sich, bei dieser allzufrühzeitigen Erregung, eben nur und ganz allein in Ungeschicklichkeiten, in Schärfen und grotesken Zügen äußern kann, also gerade das Individuum wird gerügt und vom Lehrer zugunsten einer unoriginalen Durchschnittsanständigkeit verworfen. Dagegen bekommt die uniformierte Mittelmäßigkeit das verdrossen gespendete Lob: denn gerade bei ihr pflegt sich der Lehrer aus guten Gründen sehr zu langweilen.

Vielleicht gibt es noch Menschen, die in dieser ganzen Komödie der deutschen Arbeit auf dem Gymnasium nicht nur das allerabsurdeste, sondern auch das allergefährlichste Element des jetzigen Gymnasiums sehen. Hier wird Originalität verlangt, aber die in jenem Alter einzig mögliche wiederum verworfen: hier wird eine formale Bildung vorausgesetzt, zu der jetzt überhaupt nur die allerwenigsten Menschen im reifen Alter kommen. Hier wird jeder ohne weiteres als ein literaturfähiges Wesen betrachtet, das über die ernstesten Dinge und Personen eigne Meinungen haben dürfte, während eine rechte Erziehung gerade nur daraufhin mit allem Eifer streben wird, den lächerlichen Anspruch auf Selbständigkeit des Urteils zu unterdrücken und den jungen Menschen an einen strengen Gehorsam unter dem Zepter des Genius zu gewöhnen. Hier wird eine Form der Darstellung in größerem Rahmen vorausgesetzt, in einem Alter, in dem jeder gesprochne oder geschriebene Satz eine Barbarei ist. Nun denken wir uns noch die Gefahr hinzu, die in der leicht erregten Selbstgefälligkeit jener Jahre liegt, denken wir an die eitle Empfindung, mit der der Jüngling jetzt zum ersten Male sein literarisches Bild im Spiegel sieht – wer möchte, alle diese Wirkungen mit einem Blick erfassend, daran zweifeln, daß alle Schäden unserer literarisch-künstlerischen Öffentlichkeit hier dem heranwachsenden Geschlecht immer wieder von neuem aufgeprägt werden, die hastige und eitle Produktion, die schmähliche Buchmacherei, die vollendete Stillosigkeit, das Ungegorene und Charakterlose oder Kläglich-Gespreizte im Ausdruck, der Verlust jedes ästhetischen Kanons, die Wollust der Anarchie und des Chaos, kurz die literarischen Züge unsrer Journalistik ebenso wie unseres Gelehrtentums.[203]

Davon wissen jetzt die wenigsten etwas, daß vielleicht unter vielen Tausenden kaum einer berechtigt ist, sich schriftstellerisch vernehmen zu lassen, und daß alle anderen, die es auf ihre Gefahr versuchen, unter wahrhaft urteilsfähigen Menschen als Lohn für jeden gedruckten Satz ein homerisches Gelächter verdienen – denn es ist wirklich ein Schauspiel für Götter, einen literarischen Hephäst heranhinken zu sehn, der uns nun gar etwas kredenzen will. Auf diesem Bereiche zu ernsten und unerbittlichen Gewöhnungen und Anschauungen zu erziehn, das ist eine der höchsten Aufgaben der formellen Bildung, während das allseitige Gewährenlassen der sogenannten ›freien Persönlichkeit‹ wohl nichts anderes als das Kennzeichen der Barbarei sein möchte. Daß aber wenigstens bei dem deutschen Unterricht nicht an Bildung, sondern an etwas anderes gedacht wird, nämlich an die besagte ›freie Persönlichkeit‹, dürfte aus dem bis jetzt Berichteten wohl deutlich geworden sein. Und so lange die deutschen Gymnasien in der Pflege der deutschen Arbeit der abscheulichen gewissenlosen Vielschreiberei vorarbeiten, so lange sie die allernächste praktische Zucht in Wort und Schrift nicht als heilige Pflicht nehmen, so lange sie mit der Muttersprache umgehen, als ob sie nur ein notwendiges Übel oder ein toter Leib sei, rechne ich diese Anstalten nicht zu den Insitutionen wahrer Bildung.

Am wenigsten wohl merkt man, in Hinsicht der Sprache, etwas von dem Einflusse des klassischen Vorbildes: weshalb mir schon von dieser einen Erwägung aus die sogenannte ›klassische Bildung‹, die von unserem Gymnasium ausgehn soll, als etwas sehr Zweifelhaftes und Mißverständliches erscheint. Denn wie könnte man, bei einem Blicke auf jenes Vorbild, den ungeheuren Ernst übersehn, mit dem der Grieche und Römer seine Sprache von den Jünglingsjahren an betrachtet und behandelt – wie könnte man sein Vorbild in einem solchen Punkte verkennen, wenn anders wirklich noch die klassisch-hellenische und römische Welt als höchstes belehrendes Muster dem Erziehungsplan unserer Gymnasien vorschwebte: woran ich wenigstens zweifle. Vielmehr scheint es sich, bei dem Anspruche des Gymnasiums, ›klassische Bildung‹ zu pflegen, nur um eine verlegene Ausrede zu handeln, welche dann angewendet wird, wenn von irgendeiner Seite her dem Gymnasium die Befähigung, zur Bildung zu erziehen, abgesprochen wird. Klassische Bildung! Es klingt so würdevoll! Es[204] beschämt den Angreifenden, es verzögert den Angriff- denn wer vermag gleich dieser verwirrenden Formel bis auf den Grund zu sehn! Und das ist die längst gewohnte Taktik des Gymnasiums: je nach der Seite, von der aus der Ruf zum Kampfe erschallt, schreibt es auf sein nicht gerade mit Ehrenzeichen geschmücktes Schild eines jener verwirrenden Schlagworte ›klassische Bildung‹, ›formale Bildung‹ oder ›Bildung zur Wissenschaft‹: drei gloriose Dinge, die nur leider teils in sich, teils untereinander im Widerspruch sind und die, wenn sie gewaltsam zusammengebracht würden, nur einen Bildungstragelaph hervorbringen müßten. Denn eine wahrhafte ›klassische Bildung‹ ist etwas so unerhört Schweres und Seltenes und fordert eine so komplizierte Begabung, daß es nur der Naivität oder der Unverschämtheit vorbehalten ist, diese als erreichbares Ziel des Gymnasiums zu versprechen. Die Bezeichnung ›formale Bildung‹ gehört unter die rohe, unphilosophische Phraseologie, deren man sich möglichst entschlagen muß: denn es gibt keine ›materielle Bildung‹. Und wer die ›Bildung zur Wissenschaft‹ als das Ziel des Gymnasiums aufstellt, gibt damit die ›klassische Bildung‹ und die sogenannte ›formale Bildung‹, überhaupt das ganze Bildungsziel des Gymnasiums preis: denn der wissenschaftliche Mensch und der gebildete Mensch gehören zwei verschiedenen Sphären an, die hier und da sich in einem Individuum berühren, nie aber miteinander zusammenfallen.

Vergleichen wir diese drei angeblichen Ziele des Gymnasiums mit der Wirklichkeit, die wir in betreff des deutschen Unterrichtes beobachteten, [so erkennen wir], was diese Ziele zumeist im gewöhnlichen Gebrauche sind: Verlegenheitsausflüchte, für den Kampf und Krieg erdacht und wirklich auch zur Betäubung des Gegners oft genug geeignet. Denn wir vermochten am deutschen Unterricht nichts zu erkennen, was irgendwie an das klassisch-antike Vorbild, an die antike Großartigkeit der sprachlichen Erziehung erinnerte: die ›formale Bildung‹ aber, die durch den besagten deutschen Unterricht erreicht wird, erwies sich als das absolute Belieben der ›freien Persönlichkeit‹, das heißt als Barbarei und Anarchie; und was die Heranbildung zur Wissenschaft als Folge jenes Unterrichtes betrifft, so werden unsre Germanisten mit Billigkeit abzuschätzen haben, wie wenig zur Blüte ihrer Wissenschaft gerade jene gelehrtenhaften Anfänge auf dem Gymnasium,[205] wie viel die Persönlichkeit einzelner Universitätslehrer beigetragen hat. – In Summa: das Gymnasium versäumt bis jetzt das allererste und nächste Objekt, an dem die wahre Bildung beginnt, die Muttersprache: damit aber fehlt ihm der natürliche fruchtbare Boden für alle weiteren Bildungsbemühungen. Denn erst auf Grund einer strengen, künstlerisch sorgfältigen sprachlichen Zucht und Sitte erstarkt das richtige Gefühl für die Größe unserer Klassiker, deren Anerkennung von seiten des Gymnasiums bis jetzt fast nur auf zweifelhaften ästhetisierenden Liebhabereien einzelner Lehrer oder auf der rein stofflichen Wirkung gewisser Tragödien und Romane ruht: man muß aber selbst aus Erfahrung wissen, wie schwer die Sprache ist, man muß nach langem Suchen und Ringen auf die Bahn gelangen, auf der unsre großen Dichter schritten, um nachzufühlen, wie leicht und schön sie auf ihr schritten, und wie ungelenk oder gespreizt die andern hinter ihnen dreinfolgen.

Erst durch eine solche Zucht bekommt der junge Mensch jenen physischen Ekel vor der so beliebten und so gepriesenen ›Eleganz‹ des Stils unsrer Zeitungsfabrik-Arbeiter und Romanschreiber, vor der ›gewählten Diktion‹ unserer Literaten, und ist mit einem Schlage und endgültig über eine ganze Reihe von recht komischen Fragen und Skrupeln hinausgehoben, zum Beispiel ob Auerbach oder Gutzkow wirklich Dichter sind: man kann sie einfach vor Ekel nicht mehr lesen, damit ist die Frage entschieden. Glaube niemand, daß es leicht ist, sein Gefühl bis zu jenem physischen Ekel auszubilden: aber hoffe auch niemand auf einem anderen Wege zu einem ästhetischen Urteile zu kommen als auf dem dornigen Pfade der Sprache, und zwar nicht der sprachlichen Forschung, sondern der sprachlichen Selbstzucht.

Hier muß es jedem ernsthaft sich Bemühenden so ergehen, wie demjenigen, der als erwachsener Mensch, etwa als Soldat, genötigt ist gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet, daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle Hoffnung, daß die künstlich und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und roh man Fuß vor Fuß setzt, und fürchtet jedes Gehen verlernt zu haben und das rechte Gehen nie zu lernen. Und plötzlich[206] wiederum merkt man, daß aus den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und zweite Natur geworden ist, und daß die alte Sicherheit und Kraft des Schrittes gestärkt und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt: jetzt weiß man auch, wie schwer das Gehen ist, und darf sich über den rohen Empiriker oder über den elegant sich gebärdenden Dilettanten des Gehens lustig machen. Unsere ›elegant‹ genannten Schriftsteller haben, wie ihr Stil beweist, nie gehen gelernt: und an unsern Gymnasien lernt man, wie unsere Schriftsteller beweisen, nicht gehen. Mit der richtigen Gangart der Sprache aber beginnt die Bildung; welche, wenn sie nur recht begonnen ist, nachher auch gegen jene ›eleganten‹ Schriftsteller eine physische Empfindung erzeugt, die man ›Ekel‹ nennt.

Hier erkennen wir die verhängnisvollen Konsequenzen unseres jetzigen Gymnasiums: dadurch, daß es nicht imstande ist, die rechte und strenge Bildung, die vor allem Gehorsam und Gewöhnung ist, einzupflanzen, dadurch, daß es vielmehr bestenfalls in der Erregung und Befruchtung der wissenschaftlichen Triebe überhaupt zu einem Ziele kommt, erklärt sich jenes so häufig anzutreffende Bündnis der Gelehrsamkeit mit der Barbarei des Geschmacks, der Wissenschaft mit der Journalistik. Man kann heute in ungeheurer Allgemeinheit die Wahrnehmung machen, daß unsere Gelehrten von jener Bildungshöhe abgefallen und heruntergesunken sind, die das deutsche Wesen unter den Bemühungen Goethes, Schillers, Lessings und Winckelmanns erreicht hatte: ein Abfall, der sich eben in der gröblichen Art von Mißverständnissen zeigt, denen jene Männer unter uns, bei den Literaturhistorikern ebensowohl – ob sie nun Gervinus oder Julian Schmidt heißen – als in jeder Geselligkeit, ja fast in jedem Gespräch unter Männern und Frauen, ausgesetzt sind. Am meisten aber und am schmerzlichsten zeigt sich gerade dieser Abfall in der pädagogischen, auf das Gymnasium bezüglichen Literatur. Es kann bezeugt werden, daß der einzige Wert, den jene Männer für eine wahre Bildungsanstalt haben, während eines halben Jahrhunderts und länger nicht einmal ausgesprochen, geschweige denn anerkannt worden ist: der Wert jener Männer, als der vorbereitenden Führer und Mystagogen der klassischen Bildung, an deren Hand allein der richtige Weg, der zum Altertum führt, gefunden werden kann.

Jede sogenannte klassische Bildung hat nur einen gesunden und natürlichen[207] Ausgangspunkt, die künstlerisch ernste und strenge Gewöhnung im Gebrauch der Muttersprache: für diese aber und für das Geheimnis der Form wird selten jemand von innen heraus, aus eigner Kraft zu dem rechten Pfade geleitet, während alle anderen jene großen Führer und Lehrmeister brauchen und sich ihrer Hut anvertrauen müssen. Es gibt aber gar keine klassische Bildung, die ohne diesen erschlossenen Sinn für die Form wachsen könnte. Hier, wo allmählich das unterscheidende Gefühl für die Form und für die Barbarei erwacht, regt sich zum ersten Male die Schwinge, die der rechten und einzigen Bildungsheimat, dem griechischen Altertum zu trägt. Freilich würden wir bei dem Versuche, uns jener unendlich fernen und mit diamantenen Wällen umschlossenen Burg des Hellenischen zu nahen, mit alleiniger Hilfe jener Schwinge nicht gerade weit kommen: sondern von neuem brauchen wir dieselben Führer, dieselben Lehrmeister, unsre deutschen Klassiker, um unter dem Flügelschlage ihrer antiken Bestrebungen selbst mit hinweggerissen zu werden – dem Lande der Sehnsucht zu, nach Griechenland.

Von diesem allein möglichen Verhältnisse zwischen unseren Klassikern und der klassischen Bildung ist freilich kaum ein Laut in die altertümlichen Mauern des Gymnasiums gedrungen. Die Philologen sind vielmehr unverdrossen bemüht, auf eigne Hand ihren Homer und Sophokles an die jungen Seelen heranzubringen, und nennen das Resultat ohne weiteres mit einem unbeanstandeten Euphemismus ›klassische Bildung‹. Mag sich jeder an seinen Erfahrungen prüfen, was er von Homer und Sophokles, an der Hand jener unverdrossenen Lehrer, gehabt hat. Hier ist ein Bereich der allerhäufigsten und stärksten Täuschungen und der unabsichtlich verbreiteten Mißverständnisse. Ich habe noch nie in dem deutschen Gymnasium auch nur eine Faser von dem vorgefunden, was sich wirklich ›klassische Bildung‹ nennen dürfte: und dies ist nicht verwunderlich, wenn man denkt, wie sich das Gymnasium von den deutschen Klassikern und von der deutschen Sprachzucht emanzipiert hat. Mit einem Sprung ins Blaue kommt niemand ins Altertum: und doch ist die ganze Art, wie man auf den Schulen mit antiken Schriftstellern verkehrt, das redliche Kommentieren und Paraphrasieren unserer philologischen Lehrer ein solcher Sprung ins Blaue.[208]

Das Gefühl für das Klassisch-Hellenische ist nämlich ein so seltenes Resultat des angestrengtesten Bildungskampfes und der künstlerischen Begabung, daß nur durch ein grobes Mißverständnis das Gymnasium bereits den Anspruch erheben kann, dies Gefühl zu wecken. In welchem Alter? In einem Alter, das noch blind herumgezogen wird von den buntesten Neigungen des Tages, das noch keine Ahnung davon in sich trägt, daß jenes Gefühl für das Hellenische, wenn es einmal erwacht ist, sofort aggressiv wird und in einem unausgesetzten Kampfe gegen die angebliche Kultur der Gegenwart sich ausdrücken muß. Für den jetzigen Gymnasiasten sind die Hellenen als Hellenen tot: ja, er hat seine Freude am Homer, aber ein Roman von Spielhagen fesselt ihn doch bei weitem stärker: ja, er verschluckt mit einigem Wohlbehagen die griechische Tragödie und Komödie, aber so ein recht modernes Drama, wie die ›Journalisten‹ von Freytag, berührt ihn doch ganz anders. Ja, er ist, im Hinblick auf alle antiken Autoren, geneigt, ähnlich zu reden, wie der Kunstästhetiker Hermann Grimm, der einmal in einem gewundenen Aufsatz über die Venus von Milo sich endlich doch fragt: ›Was ist mir diese Gestalt einer Göttin? Was nützen mir die Gedanken, die sie in mir erwachen läßt? Orest und Ödipus, Iphigenie und Antigone, was haben sie gemein mit meinem Herzen?‹ – Nein, meine Gymnasiasten, die Venus von Milo geht euch nichts an: aber eure Lehrer ebensowenig – und das ist das Unglück, das ist das Geheimnis des jetzigen Gymnasiums. Wer wird euch zur Heimat der Bildung führen, wenn eure Führer blind sind und gar noch als Sehende sich ausgeben! Wer von euch wird zu einem wahren Gefühl für den heiligen Ernst der Kunst kommen, wenn ihr mit Methode verwöhnt werdet, selbständig zu stottern, wo man euch lehren sollte zu sprechen, selbständig zu ästhetisieren, wo man euch anleiten sollte, vor dem Kunstwerk andächtig zu sein, selbständig zu philosophieren, wo man euch zwingen sollte, auf große Denker zu hören: alles mit dem Resultat, daß ihr dem Altertume ewig fern bleibt und Diener des Tages werdet.

Das Heilsamste, was die jetzige Institution des Gymnasiums in sich birgt, liegt jedenfalls in dem Ernste, mit dem die lateinische und griechische Sprache durch eine ganze Reihe von Jahren hindurch behandelt wird: hier lernt man den Respekt vor einer regelrecht fixierten[209] Sprache, vor Grammatik und Lexikon, hier weiß man noch, was ein Fehler ist, und wird nicht jeden Augenblick durch den Anspruch inkommodiert, daß auch grammatische und orthographische Grillen und Unarten, wie in dem deutschen Stil der Gegenwart, sich berechtigt fühlen. Wenn nur dieser Respekt vor der Sprache nicht so in der Luft hängenbliebe, gleichsam als eine theoretische Bürde, von der man sich bei seiner Muttersprache sofort wieder entlastet! Gewöhnlich pflegt vielmehr der lateinische oder griechische Lehrer selbst mit dieser Muttersprache wenig Umstände zu machen, er behandelt sie von vornherein als ein Bereich, auf dem man sich von der strengen Zucht des Lateinischen und des Griechischen wieder erholen darf, auf dem wieder die lässige Gemütlichkeit erlaubt ist, mit der der Deutsche alles Heimische zu behandeln pflegt. Jene herrlichen Übungen, aus einer Sprache in die andere zu übersetzen, die auf das heilsamste auch den künstlerischen Sinn für die eigne Sprache befruchten können, sind nach der Seite des Deutschen hin niemals mit der gebührenden kategorischen Strenge und Würde durchgeführt worden, die hier, als bei einer undisziplinierten Sprache, vor allem not tut. Neuerdings verschwinden auch diese Übungen immer mehr: man begnügt sich, die fremden klassischen Sprachen zu wissen, man verschmäht es, sie zu können.

Hier bricht wieder die gelehrtenhafte Tendenz in der Auffassung des Gymnasiums durch: ein Phänomen, welches auf die in früherer Zeit einmal ernst genommene Humanitätsbildung als Ziel des Gymnasiums ein aufklärendes Licht wirft. Es war die Zeit unserer großen Dichter, das heißt jener wenigen wahrhaft gebildeten Deutschen, als von dem großartigen Friedrich August Wolf der neue, von Griechenland und Rom her durch jene Männer strömende klassische Geist auf das Gymnasium geleitet wurde; seinem kühnen Beginnen gelang es, ein neues Bild des Gymnasiums aufzustellen, das von jetzt ab nicht etwa nur noch eine Pflanzstätte der Wissenschaft, sondern vor allem die eigentliche Weihestätte für alle höhere und edlere Bildung werden sollte.

Von den äußerlich dazu nötig erscheinenden Maßregeln sind sehr wesentliche mit dauerndem Erfolge auf die moderne Gestaltung des Gymnasiums übergegangen: nur ist gerade das Wichtigste nicht gelungen, die Lehrer selbst mit diesem neuen Geiste zu weihen, so daß sich inzwischen das Ziel des Gymnasiums wieder bedeutend von jener[210] durch Wolf angestrebten Humanitätsbildung entfernt hat. Vielmehr hat die alte, von Wolf selbst überwundene absolute Schätzung der Gelehrsamkeit und der gelehrten Bildung allmählich nach mattem Kampfe die Stelle des eingedrungnen Bildungsprinzips eingenommen und behauptet jetzt wieder, wenngleich nicht mit der früheren Offenheit, sondern maskiert, und mit verhülltem Angesicht, ihre alleinige Berechtigung. Und daß es nicht gelingen wollte, das Gymnasium in den großartigen Zug der klassischen Bildung zu bringen, lag in dem undeutschen, beinahe ausländischen oder kosmopolitischen Charakter dieser Bildungsbemühungen, in dem Glauben, daß es möglich sei, sich den heimischen Boden unter den Füßen fortzuziehn und dann doch noch feststehen zu können, in dem Wahne, daß man in die entfremdete hellenische Welt durch Verleugnung des deutschen, überhaupt des nationalen Geistes gleichsam direkt und ohne Brücken hineinspringen könne.

Freilich muß man verstehn, diesen deutschen Geist erst in seinen Verstecken, unter modischen Überkleidungen oder unter Trümmerhaufen, aufzusuchen, man muß ihn so lieben, um sich auch seiner verkümmerten Form nicht zu schämen, man muß vor allem sich hüten, ihn mit dem zu verwechseln, was sich jetzt mit stolzer Gebärde als ›deutsche Kultur der Jetztzeit‹ bezeichnet. Mit dieser ist vielmehr jener Geist innerlich verfeindet: und gerade in den Sphären, über deren Mangel an Kultur jene ›Jetztzeit‹ zu klagen pflegt, hat sich oftmals gerade jener echte deutsche Geist, wenngleich nicht in anmutender Form und unter rohen Äußerlichkeiten erhalten. Was dagegen sich jetzt mit besonderem Dünkel ›deutsche Kultur‹ nennt, ist ein kosmopolitisches Aggregat, das sich zum deutschen Geiste verhält, wie der Journalist zu Schiller, wie Meyerbeer zu Beethoven: hier übt den stärksten Einfluß die im tiefsten Fundamente ungermanische Zivilisation der Franzosen, die talentlos und mit unsicherstem Geschmack nachgeahmt wird und in dieser Nachahmung der deutschen Gesellschaft und Presse, Kunst und Stilistik eine gleißnerische Form gibt. Freilich bringt es diese Kopie nirgends zu einer so künstlerisch abgeschlossenen Wirkung, die jene originale, aus dem Wesen des Romanischen hervorgewachsene Zivilisation fast bis auf unsre Tage in Frankreich hervorbringt. Um diesen Gegensatz nachzuempfinden,[211] vergleiche man unsere namhaftesten deutschen Romanschreiber mit jedem auch weniger namhaften französischen oder italienischen: auf beiden Seiten dieselben zweifelhaften Tendenzen und Ziele, dieselben noch zweifelhafteren Mittel, aber dort mit künstlerischem Ernst, mindestens mit sprachlicher Korrektheit, oft mit Schönheit verbunden, überall der Wiederklang einer entsprechenden gesellschaftlichen Kultur, hier alles unoriginal, schlotterig, im Hausrocke des Gedankens und des Ausdrucks, oder unangenehm gespreizt, dazu ohne jeden Hintergrund einer wirklichen gesellschaftlichen Form, höchstens durch gelehrte Manieren und Kenntnisse daran erinnernd, daß in Deutschland der verdorbene Gelehrte, in den romanischen Ländern der künstlerisch gebildete Mensch zum Journalisten wird. Mit dieser angeblich deutschen, im Grunde unoriginalen Kultur darf der Deutsche sich nirgends Siege versprechen: in ihr beschämt ihn der Franzose und der Italiener und, was die geschickte Nachahmung einer fremden Kultur betrifft, vor allem der Russe.

Um so fester halten wir an dem deutschen Geiste fest, der sich in der deutschen Reformation und in der deutschen Musik offenbart hat und der in der ungeheuren Tapferkeit und Strenge der deutschen Philosophie und in der neuerdings erprobten Treue des deutschen Soldaten jene nachhaltige, allem Scheine abgeneigte Kraft bewiesen hat, von der wir auch einen Sieg über jene modische Pseudokultur der ›Jetztzeit‹ erwarten dürfen. In diesen Kampf die wahre Bildungsschule hineinzuziehn und besonders im Gymnasium die heranwachsende neue Generation für das zu entzünden, was wahrhaft deutsch ist, ist die von uns gehoffte Zukunftstätigkeit der Schule: in welcher auch endlich die sogenannte klassische Bildung wieder ihren natürlichen Boden und ihren einzigen Ausgangspunkt erhalten wird.

Eine wahre Erneuerung und Reinigung des Gymnasiums wird nur aus einer riefen und gewaltigen Erneuerung und Reinigung des deutschen Geistes hervorgehn. Sehr geheimnisvoll und schwer zu erfassen ist das Band, welches wirklich zwischen dem innersten deutschen Wesen und dem griechischen Genius sich knüpft. Bevor aber nicht das edelste Bedürfnis des echten deutschen Geistes nach der Hand dieses griechischen Genius, wie nach einer festen Stütze im Strome der Barbarei hascht, bevor aus diesem deutschen Geiste nicht eine verzehrende[212] Sehnsucht nach den Griechen hervorbricht, bevor nicht die mühsam errungene Fernsicht in die griechische Heimat, an der Schiller und Goethe sich erlabten, zur Wallfahrtsstätte der besten und begabtesten Menschen geworden ist, wird das klassische Bildungsziel des Gymnasiums haltlos in der Luft hin- und herflattern: und diejenigen werden wenigstens nicht zu tadeln sein, welche eine noch so beschränkte Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit im Gymnasium heranziehn wollen, um doch ein wirkliches, festes und immerhin ideales Ziel im Auge zu haben und ihre Schüler vor den Verführungen jenes glitzernden Phantoms zu retten, das sich jetzt ›Kultur‹ und ›Bildung‹ nennen läßt. Das ist die traurige Lage des jetzigen Gymnasiums: die beschränktesten Standpunkte sind gewissermaßen im Recht, weil niemand imstande ist, den Ort zu erreichen oder wenigstens zu bezeichnen, wo alle diese Standpunkte zum Unrecht werden.«

»Niemand?« fragte der Schüler den Philosophen mit einer gewissen Rührung in der Stimme: und beide verstummten.[213]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 196-214.
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