Das Lied der Schwermut
1

[531] Als Zarathustra diese Reden sprach, stand er nahe dem Eingange seiner Höhle; mit den letzten Worten aber entschlüpfte er seinen Gästen und floh für eine kurze Weile ins Freie.

»O reine Gerüche um mich«, rief er aus, »o selige Stille um mich! Aber wo sind meine Tiere? Heran, heran, mein Adler und meine Schlange![531]

Sagt mir doch, meine Tiere: diese höheren Menschen insgesamt – riechen sie vielleicht nicht gut? O reine Gerüche um mich! Jetzo weiß und fühle ich erst, wie ich euch, meine Tiere, liebe.«

– Und Zarathustra sprach nochmals: »ich liebe euch, meine Tiere!« Der Adler aber und die Schlange drängten sich an ihn, als er diese Worte sprach, und sahen zu ihm hinauf. Solchergestalt waren sie zu drei still beisammen und schnüffelten und schlürften miteinander die gute Luft. Denn die Luft war hier draußen besser als bei den höheren Menschen.


2

Kaum aber hatte Zarathustra seine Höhle verlassen, da erhob sich der alte Zauberer, sah listig umher und sprach: »Er ist hinaus!

Und schon, ihr höheren Menschen – daß ich euch mit diesem Lob- und Schmeichel-Namen kitzle, gleich ihm selber – schon fällt mich mein schlimmer Trug- und Zaubergeist an, mein schwermütiger Teufel,

– welcher diesem Zarathustra ein Widersacher ist aus dem Grunde: vergebt es ihm! Nun will er vor euch zaubern, er hat gerade seine Stunde; umsonst ringe ich mit diesem bösen Geiste.

Euch allen, welche Ehren ihr euch mit Worten geben mögt, ob ihr euch ›die freien Geister‹ nennt oder ›die Wahrhaftigen‹ oder ›die Büßer des Geistes‹ oder ›die Entfesselten‹ oder ›die großen Sehnsüchtigen‹ –

– euch allen, die ihr am großen Ekel leidet gleich mir, denen der alte Gott starb und noch kein neuer Gott in Wiegen und Windeln liegt, – euch allen ist mein böser Geist und Zauber-Teufel hold.

Ich kenne euch, ihr höheren Menschen, ich kenne ihn – ich kenne auch diesen Unhold, den ich wider Willen liebe, diesen Zarathustra: er selber dünkt mich öfter gleich einer schönen Heiligen-Larve,

– gleich einem neuen wunderlichen Mummenschanze, in dem sich mein böser Geist, der schwermütige Teufel, gefällt – ich liebe Zarathustra, so dünkt mich oft, um meines bösen Geistes willen. –

Aber schon fällt der mich an und zwingt mich, dieser Geist der Schwermut, dieser Abend-Dämmerungs-Teufel: und, wahrlich, ihr höheren Menschen, es gelüstet ihn –[532] – macht nur die Augen auf! – es gelüstet ihn, nackt zu kommen, ob männlich, ob weiblich, noch weiß ich's nicht: aber er kommt, er zwingt mich, wehe! macht eure Sinne auf!

Der Tag klingt ab, allen Dingen kommt nun der Abend, auch den besten Dingen; hört nun und seht, ihr höheren Menschen, welcher Teufel, ob Mann, ob Weib, dieser Geist der Abend-Schwermut ist!«

Also sprach der alte Zauberer, sah listig umher und griff dann zu seiner Harfe.


3

Bei abgehellter Luft,

Wenn schon des Taus Tröstung

Zur Erde niederquillt,

Unsichtbar, auch ungehört –

Denn zartes Schuhwerk trägt

Der Tröster Tau gleich allen Trost-Milden –:

Gedenkst du da, gedenkst du, heißes Herz,

Wie einst du durstetest,

Nach himmlischen Tränen und Tau-Geträufel

Versengt und müde durstetest,

Dieweil auf gelben Gras-Pfaden

Boshaft abendliche Sonnenblicke

Durch schwarze Bäume um dich liefen,

Blendende Sonnen-Glutblicke, schadenfrohe?


»Der Wahrheit Freier? Du?« – so höhnten sie –

»Nein! Nur ein Dichter!

Ein Tier, ein listiges, raubendes, schleichendes,

Das lügen muß,

Das wissentlich, willentlich lügen muß:

Nach Beute lüstern,

Bunt verlarvt,

Sich selber Larve,[533]

Sich selbst zur Beute –

Das – der Wahrheit Freier?

Nein! Nur Narr! Nur Dichter!

Nur Buntes redend,

Aus Narren-Larven bunt herausschreiend,

Herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken,

Auf bunten Regenbogen,

Zwischen falschen Himmeln

Und falschen Erden,

Herumschweifend, herumschwebend, –

Nur Narr! Nur Dichter!


Das – der Wahrheit Freier?

Nicht still, starr, glatt, kalt,

Zum Bilde worden,

Zur Gottes-Säule,

Nicht aufgestellt vor Tempeln,

Eines Gottes Türwart:

Nein! feindselig solchen Wahrheits-Standbildern,

In jeder Wildnis heimischer als vor Tempeln,

Voll Katzen-Mutwillens,

Durch jedes Fenster springend

Husch! in jeden Zufall,

Jedem Urwalde zuschnüffelnd,

Süchtig-sehnsüchtig zuschnüffelnd,

Daß du in Urwäldern

Unter buntgefleckten Raubtieren

Sündlich-gesund und bunt und schön liefest,

Mit lüsternen Lefzen,

Selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig,

Raubend, schleichend, lugend liefest: –


Oder dem Adler gleich, der lange,

Lange starr in Abgründe blickt,

In seine Abgründe: – –[534]

O wie sie sich hier hinab,

Hinunter, hinein,

In immer tiefere Tiefen ringeln! –

Dann,

Plötzlich, geraden Zugs,

Gezückten Flugs,

Auf Lämmer stoßen,

Jach hinab, heißhungrig,

Nach Lämmern lüstern,

Gram allen Lamms-Seelen,

Grimmig-gram allem, was blickt

Schafmäßig, lammäugig, krauswollig,

Grau, mit Lamms-Schafs-Wohlwollen!


Also

Adlerhaft, pantherhaft

Sind des Dichters Sehnsüchte,

Sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven,

Du Narr! Du Dichter!


Der du den Menschen schautest

So Gott als Schaf –:

Den Gott zerreißen im Menschen

Wie das Schaf im Menschen,

Und zerreißend lachen


Das, das ist deine Seligkeit!

Eines Panthers und Adlers Seligkeit!

Eines Dichters und Narren Seligkeit!« – –


Bei abgehellter Luft,

Wenn schon des Monds Sichel

Grün zwischen Purpurröten

Und neidisch hinschleicht:

– dem Tage feind,

Mit jedem Schritte heimlich[535]

An Rosen-Hängematten

Hinsichelnd, bis sie sinken,

Nacht-abwärts blaß hinabsinken: –


So sank ich selber einstmals

Aus meinem Wahrheits-Wahnsinne,

Aus meinen Tages-Sehnsüchten,

Des Tages müde, krank vom Lichte,

– sank abwärts, abendwärts, schattenwärts:

Von einer Wahrheit

Verbrannt und durstig:

– gedenkst du noch, gedenkst du, heißes Herz,

Wie da du durstetest? –

Daß ich verbannt sei

Von aller Wahrheit,

Nur Narr!

Nur Dichter!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 531-536.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
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Also sprach Zarathustra I - IV. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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