Der Zauberer
1

[490] Als aber Zarathustra um einen Felsen herumbog, da sahe er, nicht weit unter sich, auf dem gleichen Wege, einen Menschen, der die Glieder warf wie ein Tobsüchtiger und endlich bäuchlings zur Erde niederstürzte. »Halt!« sprach da Zarathustra zu seinem Herzen, »der dort muß wohl der höhere Mensch sein, von ihm kam jener schlimme Notschrei, – ich will sehn, ob da zu helfen ist.« Als er aber hinzulief, an die Stelle, wo der Mensch auf dem Boden lag, fand er einen zitternden alten Mann mit stieren Augen; und wie sehr sich Zarathustra mühte, daß er ihn aufrichte und wieder auf seine Beine stelle, es war umsonst. Auch schien der Unglückliche nicht zu merken, daß jemand um ihn sei; vielmehr sah er sich immer mit rührenden Gebärden[490] um, wie ein von aller Welt Verlassener und Vereinsamter. Zuletzt aber, nach vielem Zittern, Zucken und Sich-Zusammenkrümmen, begann er also zu jammern:


Wer wärmt mich, wer liebt mich noch?

Gebt heiße Hände!

Gebt Herzens-Kohlenbecken!

Hingestreckt, schaudernd,

Halbtotem gleich, dem man die Füße wärmt –

Geschüttelt, ach! von unbekannten Fiebern,

Zitternd vor spitzen eisigen Frost-Pfeilen,

Von dir gejagt, Gedanke!

Unnennbarer! Verhüllter! Entsetzlicher!

Du Jäger hinter Wolken!

Darniedergeblitzt von dir,

Du höhnisch Auge, das mich aus Dunklem anblickt: – so liege ich,

Biege mich, winde mich, gequält

Von allen ewigen Martern,

Getroffen

Von dir, grausamster Jäger,

Du unbekannter – Gott!


Triff tiefer!

Triff einmal noch!

Zerstich, zerbrich dies Herz!

Was soll dies Martern

Mit zähnestumpfen Pfeilen?

Was blickst du wieder,

Der Menschen-Qual nicht müde,

Mit schadenfrohen Götter-Blitz-Augen?

Nicht töten willst du,

Nur martern, martern?

Wozu – mich martern,

Du schadenfroher unbekannter Gott? –

Haha! Du schleichst heran?[491]

Bei solcher Mitternacht

Was willst du? Sprich!

Du drängst mich, drückst mich –

Ha! schon viel zu nahe!

Weg! Weg!

Du hörst mich atmen,

Du behorchst mein Herz,

Du Eifersüchtiger –

Worauf doch eifersüchtig?

Weg! Weg! Wozu die Leiter?

Willst du hinein,

Ins Herz,

Einsteigen, in meine heimlichsten

Gedanken einsteigen?

Schamloser! Unbekannter – Dieb!

Was willst du dir erstehlen?

Was willst du dir erhorchen?

Was willst du dir erfoltern,

Du Folterer!

Du – Henker-Gott!

Oder soll ich, dem Hunde gleich,

Vor dir mich wälzen?

Hingebend, begeistert-außer-mir,

Dir – Liebe zuwedeln?


Umsonst! Stich weiter,

Grausamster Stachel! Nein,

Kein Hund – dein Wild nur bin ich,

Grausamster Jäger!

Dein stolzester Gefangner,

Du Räuber hinter Wolken!

Sprich endlich!

Was willst du, Wegelagerer, von mir?

Du Blitz-Verhüllter! Unbekannter! Sprich,

Was willst du, unbekannter – Gott? – –
[492]

Wie? Lösegeld?

Was willst du Lösegelds?

Verlange viel – das rät mein Stolz!

Und rede kurz – das rät mein andrer Stolz!


Haha!

Mich – willst du? Mich?

Mich – ganz?...


Haha!

Und marterst mich, Narr, der du bist,

Zermarterst meinen Stolz?

Gib Liebe mir – wer wärmt mich noch?

Wer liebt mich noch? – gib heiße Hände,

Gib Herzens-Kohlenbecken,

Gib mir, dem Einsamsten,

Den Eis, ach! siebenfaches Eis

Nach Feinden selber,

Nach Feinden schmachten lehrt,

Gib, ja ergib

Grausamster Feind,

Mir – dich! – –


Davon!

Da floh er selber,

Mein letzter einziger Genoß,

Mein großer Feind,

Mein Unbekannter,

Mein Henker-Gott! –


– Nein! Komm zurück,

Mit allen deinen Martern!

Zum Letzten aller Einsamen

O komm zurück!

All meine Tränen-Bäche laufen

Zu dir den Lauf![493]

Und meine letzte Herzens-Flamme –

Dir glüht sie auf!

O komm zurück,

Mein unbekannter Gott! Mein Schmerz!

Mein letztes – Glück!


2

– Hier aber konnte sich Zarathustra nicht länger halten, nahm seinen Stock und schlug mit allen Kräften auf den Jammernden los. »Halt ein!« schrie er ihm zu, mit ingrimmigem Lachen, »halt ein, du Schauspieler! Du Falschmünzer! Du Lügner aus dem Grunde! Ich erkenne dich wohl!

Ich will dir schon warme Beine machen, du schlimmer Zauberer, ich verstehe mich gut darauf, solchen wie du bist – einzuheizen!«

– »Laß ab«, sagte der alte Mann und sprang vom Boden auf, »schlage nicht mehr, o Zarathustra! Ich trieb's also nur zum Spiele!

Solcherlei gehört zu meiner Kunst; dich selber wollte ich auf die Probe stellen, als ich dir diese Probe gab! Und, wahrlich, du hast mich gut durchschaut!

Aber auch du – gabst mir von dir keine kleine Probe: du bist hart, du weiser Zarathustra! Hart schlägst du zu mit deinen ›Wahrheiten‹, dein Knüttel erzwingt von mir – diese Wahrheit!«

– »Schmeichle nicht,« antwortete Zarathustra, immer noch erregt und finsterblickend, »du Schauspieler aus dem Grunde! Du bist falsch: was redest du – von Wahrheit!

Du Pfau der Pfauen, du Meer der Eitelkeit, was spieltest du vor mir, du schlimmer Zauberer, an wen sollte ich glauben, als du in solcher Gestalt jammertest?«

»Den Büßer des Geistes«, sagte der alte Mann, »den – spielte ich: du selber erfandest einst dies Wort –

– den Dichter und Zauberer, der gegen sich selber endlich seinen Geist wendet, den Verwandelten, der an seinem bösen Wissen und Gewissen erfriert.

Und gesteh es nur ein: es währte lange, o Zarathustra, bis du hinter[494] meine Kunst und Lüge kamst! Du glaubtest an meine Not, als du mir den Kopf mit beiden Händen hieltest, –

– ich hörte dich jammern ›man hat ihn zu wenig geliebt, zu wenig geliebt!‹ Daß ich dich soweit betrog, darüber frohlockte inwendig meine Bosheit.«

»Du magst Feinere betrogen haben als mich«, sagte Zarathustra hart. »Ich bin nicht auf der Hut vor Betrügern, ich muß ohne Vorsicht sein: so will es mein Los.

Du aber – mußt betrügen: so weit kenne ich dich! Du mußt immer zwei- drei- vier- fünfdeutig sein! Auch was du jetzt bekanntest, war mir lange nicht wahr und nicht falsch genug!

Du schlimmer Falschmünzer, wie könntest du anders! Deine Krankheit würdest du noch schminken, wenn du dich deinem Arzte nackt zeigtest.

So schminktest du eben vor mir deine Lüge, als du sprachst: ›ich trieb's also nur zum Spiele!‹ Es war auch Ernst darin, du bist etwas von einem Büßer des Geistes!

Ich errate dich wohl: du wurdest der Bezauberer aller, aber gegen dich hast du keine Lüge und List mehr übrig – du selber bist dir entzaubert!

Du erntetest den Ekel ein, als deine eine Wahrheit. Kein Wort ist mehr an dir echt, aber dein Mund: nämlich der Ekel, der an deinem Munde klebt.« –

– »Wer bist du doch!« schrie hier der alte Zauberer mit einer trotzigen Stimme, »wer darf also zu mir reden, dem Größten, der heute lebt?«

– und ein grüner Blitz schoß aus seinem Auge nach Zarathustra. Aber gleich darauf verwandelte er sich und sagte traurig:

»O Zarathustra, ich bin's müde, es ekelt mich meiner Künste, ich bin nicht groß, was verstelle ich mich! Aber, du weißt es wohl – ich suchte nach Größe!

Einen großen Menschen wollte ich vorstellen und überredete viele: aber diese Lüge ging über meine Kraft. An ihr zerbreche ich.

O Zarathustra, alles ist Lüge an mir; aber daß ich zerbreche – dies mein Zerbrechen ist echt

»Es ehrt dich«, sprach Zarathustra düster und zur Seite niederblickend, »es ehrt dich, daß du nach Größe suchtest, aber es verrät dich auch. Du bist nicht groß.[495]

Du schlimmer alter Zauberer, das ist dein Bestes und Redlichstes, was ich an dir ehre, daß du deiner müde wurdest und es aussprachst: ›ich bin nicht groß‹.

Darin ehre ich dich als einen Büßer des Geistes: und wenn auch nur für einen Hauch und Husch, diesen einen Augenblick warst du – echt.

Aber sprich, was suchst du hier in meinen Wäldern und Felsen? Und wenn du mir dich in den Weg legtest, welche Probe wolltest du von mir? –

– wes versuchtest du mich?« –

Also sprach Zarathustra, und seine Augen funkelten. Der alte Zauberer schwieg eine Weile, dann sagte er: »Versuchte ich dich? Ich – suche nur.

O Zarathustra, ich suche einen Echten, Rechten, Einfachen, Eindeutigen, einen Menschen aller Redlichkeit, ein Gefäß der Weisheit, einen Heiligen der Erkenntnis, einen großen Menschen!

Weißt du es denn nicht, o Zarathustra? Ich suche Zarathustra


– Und hier entstand ein langes Stillschweigen zwischen beiden; Zarathustra aber versank tief hinein in sich selber, also daß er die Augen schloß. Dann aber, zu seinem Unterredner zurückkehrend, ergriff er die Hand des Zauberers und sprach, voller Artigkeit und Arglist:

»Wohlan! Dort hinauf führt der Weg, da liegt die Höhle Zarathustras. In ihr darfst du suchen, wen du finden möchtest.

Und frage meine Tiere um Rat, meinen Adler und meine Schlange: die sollen dir suchen helfen. Meine Höhle aber ist groß.

Ich selber freilich – ich sah noch keinen großen Menschen. Was groß ist, dafür ist das Auge der Feinsten heute grob. Es ist das Reich des Pöbels.

So manchen fand ich schon, der streckte und blähte sich, und das Volk schrie: »Seht da, einen großen Menschen!« Aber was helfen alle Blasebälge! Zuletzt fährt der Wind heraus.

Zuletzt platzt ein Frosch, der sich zu lange aufblies: da fährt der Wind heraus. Einem Geschwollnen in den Bauch stechen, das heiße ich eine brave Kurzweil. Hört das, ihr Knaben!

Dies Heute ist des Pöbels: wer weiß da noch, was groß, was klein ist! Wer suchte da mit Glück nach Größe! Ein Narr allein: den Narren glückt's.[496]

Du suchst nach großen Menschen, du wunderlicher Narr? Wer lehrte's dich? Ist heute dazu die Zeit? O du schlimmer Sucher, was – versuchst du mich?« – –


Also sprach Zarathustra, getrösteten Herzens, und ging lachend seines Wegs fürbaß.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 490-497.
Lizenz:
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