[27]

[864] Die wenigsten machen sich klar, was der Standpunkt der Wünschbarkeit, jedes »so sollte es sein, aber es ist nicht« oder gar »so hätte es sollen gewesen sein« in sich schließt: eine Verurteilung des gesamten Gangs der Dinge. Denn in ihm gibt es nichts Isoliertes: das Kleinste trägt das Ganze, auf deinem kleinen Unrechte steht der ganze Bau der Zukunft, das Ganze wird bei jeder Kritik, die das Kleinste trifft, mit verurteilt. Gesetzt nun gar, daß die moralische Norm, wie es selbst Kant vermeinte, niemals vollkommen erfüllt worden ist und als eine Art Jenseits über der Wirklichkeit hängen bliebe, ohne jemals in sie hineinzufallen: so schlösse die Moral ein Urteil über das Ganze in sich, welches aber doch erlaubte zu fragen: woher nimmt sie das Recht dazu? Wie kommt der Teil dazu, dem Ganzen gegenüber hier den Richter zu machen? – Und wäre es in der Tat ein unausrottbarer Instinkt, dieses Moral-Urteilen und Ungenügen am Wirklichen, wie man behauptet hat, gehörte dann dieser Instinkt nicht vielleicht mit zu den unausrottbaren Dummheiten, auch Unbescheidenheiten unsrer Spezies? – Aber indem wir dies sagen, tun wir das, was wir tadeln; der Standpunkt der Wünschbarkeit, des unbefugten Richterspielens gehört mit in den Charakter des Gangs der Dinge, jede Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit ebenso – es ist eben unser Begriff von »Vollkommenheit«, welcher seine Rechnung nicht findet. Jeder Trieb, der befriedigt werden will, drückt seine Unzufriedenheit mit der jetzigen Lage der Dinge aus: wie? ist vielleicht das Ganze aus lauter unzufriedenen Teilen zusammengesetzt, die allesamt Wünschbarkeiten im Kopf haben? ist der »Gang der Dinge« vielleicht eben das »Weg von hier? Weg von der Wirklichkeit!«, die ewige Unbefriedigung selbst? ist die Wünschbarkeit vielleicht die treibende Kraft selbst? ist sie – deus?[864]

Es scheint mir wichtig, daß man das All, die Einheit los wird, irgendeine Kraft, ein Unbedingtes; man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und »Gott« zu taufen. Man muß das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; das, was wir dem Unbekannten und Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsere.

Was Kant z. B. sagt »Zwei Dinge bleiben ewig verehrenswert« (Schluß der prakt. Vernunft) – heute würden wir eher sagen »die Verdauung ist ehrwürdiger«. Das All brächte immer die alten Probleme mit sich – »wie Übel möglich sei?« usw. Also: es gibt kein All, es fehlt das große Sensorium oder Inventarium oder Kraft-Magazin.

[331]


Ethik: oder »Philosophie der Wünschbarkeit«. – »Es sollte anders sein«, »es soll anders werden«: die Unzufriedenheit wäre also der Keim der Ethik.

Man könnte sich retten, erstens indem man auswählt, wo man nicht das Gefühl hat; zweitens indem man die Anmaßung und Albernheit begreift: denn verlangen, daß etwas anders ist, als es ist, heißt: verlangen, daß alles anders ist – es enthält eine verwerfende Kritik des Ganzen. Aber Leben ist selbst ein solches Verlangen!

Feststellen, was ist, wie es ist, scheint etwas unsäglich Höheres, Ernsteres als jedes »So sollte es sein«, weil letzteres, als menschliche Kritik und Anmaßung von vornherein zur Lächerlichkeit verurteilt erscheint. Es drückt sich darin ein Bedürfnis aus, welches verlangt, daß unserem menschlichen Wohlbefinden die Einrichtung der Welt entspricht; auch der Wille, so viel als möglich auf diese Aufgabe hin zu tun.

Andrerseits hat nur dieses Verlangen »so sollte es sein« jenes andre Verlangen, was ist, hervorgerufen. Das Wissen nämlich darum, was ist, ist bereits eine Konsequenz jenes Fragens »wie? ist es möglich? warum gerade so?« Die Verwunderung über die Nicht-Übereinstimmung unsrer Wünsche und des Weltlaufs hat dahin gefühlt, den Weltlauf kennenzulernen. Vielleicht steht es noch anders: vielleicht ist jenes »so sollte es sein« unser Weltüberwältigungs-Wunsch – –

[333]


Wenn ich ein regelmäßiges Geschehen in eine Formel bringe, so habe ich mir die Bezeichnung des ganzen Phänomens erleichtert, abgekürzt[865] usw. Aber ich habe kein »Gesetz« konstatiert, sondern die Frage aufgestellt, woher es kommt, daß hier etwas sich wiederholt: es ist eine Vermutung, daß der Formel ein Komplex von zunächst unbekannten Kräften und Kraft-Auslösungen entspricht: es ist Mythologie zu denken, daß hier Kräfte einem Gesetz gehorchen, so daß infolge ihres Gehorsams wir jedesmal das gleiche Phänomen haben.

[629]


A. Moral als Werk der Unmoralität.

  • 1. Damit moralische Werte zur Herrschaft kommen, müssen lauter unmoralische Kräfte und Affekte helfen.

  • 2. Die Entstehung moralischer Werte ist das Werk unmoralischer Affekte und Rücksichten.


B. Moral als Werk des Irrtums.

C. Moral mit sich selbst allgemach im Widerspruch.

Vergeltung. – Wahrhaftigkeit, Zweifel, epochê, Richten. »Unmoralität« des Glaubens an die Moral.

Die Schritte:

  • 1. absolute Herrschaft der Moral; alle biologischen Erscheinungen nach ihr gemessen und gerichtet.

  • 2. Versuch einer Identifikation von Leben und Moral (Symptom einer erwachten Skepsis: Moral soll nicht mehr als Gegensatz gefühlt werden); mehrere Mittel, selbst ein transzendenter Weg.

  • 3. Entgegensetzung von Leben und Moral: Moral vom Leben aus gerichtet und verurteilt.


D. Inwiefern die Moral dem Leben schädlich war:

  • a) dem Genuß des Lebens, der Dankbarkeit gegen das Leben usw.,

  • b) der Verschönerung, Veredelung des Lebens,

  • c) der Erkenntnis des Lebens,

  • d) der Entfaltung des Lebens, insofern es die höchsten Erscheinungen desselben mit sich selbst zu entzweien suchte.


E. Gegenrechnung: ihre Nützlichkeit für das Leben.

  • 1. die Moral als Erhaltungsprinzip von größeren Ganzen, als Einschränkung der Glieder: nützlich für das »Werkzeug».

  • 2. die Moral als Erhaltungsprinzip im Verhältnis zur inneren[866] Gefährdung des Menschen durch Leidenschaften; nützlich für den »Mittelmäßigen«.

  • 3. die Moral als Erhaltungsprinzip gegen die lebenvernichtenden Einwirkungen tiefer Not und Verkümmerung: nützlich für den »Leidenden«.

  • 4. die Moral als Gegenprinzip gegen die furchtbare Explosion der Mächtigen: nützlich für den »Niedrigen«.


[266]


Inwiefern die Welt-Auslegungen Symptome eines herrschenden Triebes sind

Die artistische Welt-Betrachtung: sich vor das Leben hinsetzen. Aber hier fehlt die Analysis des ästhetischen Anschauens, seine Reduktion auf Grausamkeit, Gefühl der Sicherheit, des Richter-seins und Außerhalb-seins usw. Man muß den Künstler selbst nehmen: und dessen Psychologie (die Kritik des Spieltriebs, als Auslassen von Kraft, Lust am Wechsel, am Eindrücken der eigenen Seele in Fremdes, der absolute Egoismus des Künstlers usw.). Welche Triebe er sublimisiert.

Die wissenschaftliche Welt-Betrachtung: Kritik des psychologischen Bedürfnisses nach Wissenschaft. Das Begreiflich-machen-wollen; das Praktisch-, Nützlich-, Ausbeutbar-machen-wollen –: inwiefern antiästhetisch. Der Wert allein, was gezählt und berechnet werden kann. Inwiefern eine durchschnittliche Art Mensch dabei zum Übergewicht kommen will. Furchtbar, wenn gar die Geschichte in dieser Weise in Besitz genommen wird – das Reich des Überlegenen, des Richtenden. Welche Triebe er sublimisiert!

Die religiöse Welt-Betrachtung: Kritik des religiösen Menschen. Es ist nicht notwendig der moralische, sondern der Mensch der starken Erhebungen und tiefen Depressionen, der die ersteren mit Dankbarkeit oder Verdacht interpretiert und nicht von sich herleitet (– die letzteren auch nicht –). Wesentlich der sich »unfrei« fühlende Mensch, der seine Zustände, die Unterwerfungs-Instinkte sublimisiert.

Die moralische Welt-Betrachtung. Die sozialen Rangordnungs-Gefühle werden ins Universum verlegt: die Unverrückbarkeit, das Gesetz, die Einordnung und Gleichordnung werden, weil am höchsten geschätzt, auch an der höchsten Stelle gesucht – über dem All, oder hinter dem All.[867]

Was gemeinsam ist: die herrschenden Triebe wollen auch als höchste Wert-Instanzen überhaupt, ja als schöpferische und regierende Gewalten betrachtet werden. Es versteht sich, daß diese Triebe sich gegenseitig entweder anfeinden oder unterwerfen (synthetisch auch wohl binden, oder in der Herrschaft wechseln). Ihr tiefer Antagonismus ist aber so groß, daß wo sie alle Befriedigung wollen, ein Mensch von tiefer Mittelmäßigkeit zu denken ist.

[677]


Moral der Wahrhaftigkeit in der Herde. »Du sollst er kennbar sein, dein Inneres durch deutliche und konstante Zeichen ausdrücken – sonst bist du gefährlich: und wenn du böse bist, ist die Fähigkeit, dich zu verstellen, das Schlimmste für die Herde. Wir verachten den Heimlichen, Unkennbaren. – Folglich mußt du dich selber für erkennbar halten, du darfst dir nicht verborgen sein, du darfst nicht an deinen Wechsel glauben.« Also: die Forderung der Wahrhaftigkeit setzt die Erkennbarkeit und die Beharrlichkeit der Person voraus. Tatsächlich ist es Sache der Erziehung, das Herden-Mitglied zu einem bestimmten Glauben über das Wesen des Menschen zu bringen: sie macht erst diesen Glauben und fordert dann daraufhin »Wahrhaftigkeit«.

[277]


Die Wissenschaft – das war bisher die Beseitigung der vollkommenen Verworrenheit der Dinge durch Hypothesen, welche alles »erklären« – also aus dem Widerwillen des Intellekts an dem Chaos. – Dieser selbe Widerwille ergreift mich bei der Betrachtung meiner selber: die innere Welt möchte ich auch durch ein Schema mir bildlich vorstellen und über die intellektuelle Verworrenheit hinauskommen. Die Moral war eine solche Vereinfachung: sie lehrte den Menschen als erkannt, als bekannt. – Nun haben wir die Moral vernichtet – wir selber sind uns wieder völlig dunkel geworden! Ich weiß, daß ich von mir nichts weiß. Die Physik ergibt sich als eine Wohltat für das Gemüt: die Wissenschaft (als der Weg zur Kenntnis) bekommt einen neuen Zauber nach der Beseitigung der Moral – und weil wir hier allein Konsequenz finden, so müssen wir unser Leben darauf einrichten, sie uns zu erhalten. Dies ergibt eine Art praktischen Nachdenkens über unsre Existenzbedingungen als Erkennende.

[594]


[868] Die Falschheit. – Jeder souveräne Instinkt hat die anderen zu seinen Werkzeugen, Hofstaat, Schmeichlern: er läßt sich nie bei seinem häßlichen Namen nennen: und er duldet keine anderen Lobsprüche, bei denen er nicht indirekt mit gelobt wird. Um jeden souveränen Instinkt herumkristallisiert sich alles Loben und Tadeln überhaupt zu einer festen Ordnung und Etikette. – Dies die eine Ursache der Falschheit.

Jeder nach Herrschaft strebende, aber unter einem Joch befindliche Instinkt braucht für sich, zur Unterstützung seines Selbstgefühls, zur Stärkung, alle schönen Namen und anerkannten Werte: so daß er sich hervorwagt zumeist unter dem Namen des von ihm bekämpften »Herren«, von dem er frei werden will (z. B. unter der Herrschaft christlicher Werte die fleischliche Begierde oder die Machtbegierde). – Dies die andere Ursache der Falschheit.

In beiden Fällen herrscht vollkommene Naivität: die Falschheit tritt nicht ins Bewußtsein. Es ist ein Zeichen von gebrochenem Instinkt, wenn der Mensch das Treibende und dessen »Ausdruck« (»die Maske«) getrennt sieht – ein Zeichen von Selbstwiderspruch, und viel weniger siegreich. Die absolute Unschuld in der Gebärde, im Wort, im Affekt, das »gute Gewissen« in der Falschheit, die Sicherheit, mit der man nach den größten und prachtvollsten Worten und Stellungen faßt – alles notwendig zum Siege.

Im andern Falle: bei extremer Hellsichtigkeit bedarf es Genie des Schauspielers und ungeheure Zucht in der Selbstbeherrschung, um zu siegen. Deshalb sind Priester die geschicktesten bewußten Heuchler; sodann Fürsten, denen ihr Rang und ihre Abkunft eine Art von Schauspielerei großzüchtet. Drittens Gesellschafts-Menschen, Diplomaten. Viertens Frauen.

[377a]


Die Sinnlichkeit in ihren Verkleidungen: 1. als Idealismus (»Plato«), der Jugend eigen, dieselbe Art von Hohlspiegel-Bild schaffend, wie die Geliebte im Speziellen erscheint, eine Inkrustation, Vergrößerung, Verklärung, Unendlichkeit um jedes Ding legend –: 2. in der Religion der Liebe: »ein schöner junger Mann, ein schönes Weib«, irgendwie göttlich, ein Bräutigam, eine Braut der Seele –: 3. in der Kunst, als »schmückende« Gewalt: wie der Mann das Weib sieht, indem er ihr gleichsam alles zum Präsent macht, was es von Vorzügen gibt, so legt[869] die Sinnlichkeit des Künstlers in ein Objekt, was er sonst noch ehrt und hochhält – dergestalt vollendet er ein Objekt (»idealisiert« es). Das Weib, unter dem Bewußtsein, was der Mann in bezug auf das Weib empfindet, kommt dessen Bemühen nach Idealisierung entgegen, indem es sich schmückt, schön geht, tanzt, zarte Gedanken äußert: insgleichen übt sie Scham, Zurückhaltung, Distanz – mit dem Instinkt dafür, daß damit das idealisierende Vermögen des Mannes wächst. (– Bei der ungeheuren Feinheit des weiblichen Instinkts bleibt die Scham keineswegs bewußte Heuchelei: sie errät, daß gerade die naive wirkliche Schamhaftigkeit den Mann am meisten verführt und zur Überschätzung drängt. Darum ist das Weib naiv – aus Feinheit des Instinkts, welcher ihr die Nützlichkeit des Unschuldigseins anrät. Ein willentliches die-Augen-über-sich-geschlossen-halten... Überall, wo die Verstellung stärker wirkt, wenn sie unbewußt ist, wird sie unbewußt.)

[806]


Zur Genesis der Kunst. – Jenes Vollkommen-machen, Vollkommen-sehen, welches dem mit geschlechtlichen Kräften überladenen zerebralen System zu eigen ist (der Abend zusammen mit der Geliebten, die kleinsten Zufälligkeiten verklärt, das Leben eine Abfolge sublimer Dinge, »das Unglück des Unglücklich-Liebenden mehr wert als irgend etwas«): andrerseits wirkt jedes Vollkommene und Schöne als unbewußte Erinnerung jenes verliebten Zustandes und seiner Art zu sehen – jede Vollkommenheit, die ganze Schönheit der Dinge erweckt durch contiguity die aphrodisische Seligkeit wieder. (Physiologisch: der schaffende Instinkt des Künstlers und die Verteilung des semen ins Blut...) Das Verlangen nach Kunst und Schönheit ist ein indirektes Verlangen nach den Entzückungen des Geschlechtstriebes, welche er dem cerebrum mitteilt. Die vollkommen gewordne Welt, durch »Liebe«.

[805]


Ja die Philosophie des Rechts! Das ist eine Wissenschaft, welche wie alle moralische Wissenschaft noch nicht einmal in der Windel liegt!

Man verkennt z. B. immer noch, auch unter frei sich dünkenden Juristen, die älteste und wertvollste Bedeutung der Strafe – man kennt sie gar nicht: und so lange die Rechtswissenschaft sich nicht auf einen neuen Boden stellt, nämlich auf die Historien- und die Völker-Vergleichung,[870] wird es bei dem unnützen Kampfe von grundfalschen Abstraktionen verbleiben, welche heute sich als »Philosophie des Rechts« vorstellen und die sämtlich vom gegenwärtigen Menschen abgezogen sind. Dieser gegenwärtige Mensch ist aber ein so verwickeltes Geflecht, auch in bezug auf seine rechtlichen Wertschätzungen, daß er die verschiedensten Ausdeutungen erlaubt.

[744]


Das Beschimpfende ist erst so in die Strafe gekommen, daß gewisse Bußen an verächtliche Menschen (Sklaven z. B.) geknüpft wurden. Die, welche am meisten bestraft wurden, waren verächtliche Menschen, und schließlich lag im Strafen etwas Beschimpfendes.

[741]


Der Glaube an »Affekte«. – Affekte sind eine Konstruktion des Intellekts, eine Erdichtung von Ursachen, die es nicht gibt. Alle körperlichen Gemeingefühle, die wir nicht verstehen, werden intellektuell ausgedeutet, d. h. ein Grund gesucht, um sich so oder so zu fühlen, in Personen, Erlebnissen usw. Also etwas Nachteiliges, Gefährliches, Fremdes wird gesetzt, als wäre es die Ursache unserer Verstimmung; tatsächlich wird es zu der Verstimmung hinzugesucht, um der Denkbarkeit unseres Zustandes willen. – Häufige Blutzuströmungen zum Gehirn mit dem Gefühl des Erstickens werden als »Zorn« interpretiert: die Personen und Sachen, die uns zum Zorn reizen, sind Auslösungen für den physiologischen Zustand. – Nachträglich, in langer Gewöhnung, sind gewisse Vorgänge und Gemeingefühle sich so regelmäßig verbunden, daß der Anblick gewisser Vorgänge jenen Zustand des Gemeingefühls hervorbringt und speziell irgendjene Blutstauung, Samenerzeugung usw. mit sich bringt: also durch die Nachbarschaft. »Der Affekt wird erregt« sagen wir dann.

In »Lust« und »Unlust« stecken bereits Urteile: die Reize werden unterschieden, ob sie dem Machtgefühl förderlich sind oder nicht.

Der Glaube an das Wollen. Es ist Wunder-Glaube, einen Gedanken als Ursache einer mechanischen Bewegung zu setzen. Die Konsequenz der Wissenschaft verlangt, daß, nachdem wir die Welt in Bildern uns denkbar gemacht haben, wir auch die Affekte, Begehrungen, Willen usw. uns denkbar machen, d. h. sie leugnen und als Irrtümer des Intellekts behandeln.

[670]
[871]

Wir finden als das Stärkste und fortwährend Geübte auf allen Stufen des Lebens das Denken – in jedem Perzipieren und scheinbaren Erleiden auch noch! Offenbar wird es dadurch am mächtigsten und anspruchvollsten, und auf die Dauer tyrannisiert es alle anderen Kräfte. Es wird endlich die »Leidenschaft an sich«.

[611]


Ein alter Chinese sagte, er habe gehört, wenn Reiche zugrunde gehn sollen, so hätten sie viele Gesetze.

[745]


In bezug auf deutsche Kultur habe ich das Gefühl des Niedergangs immer gehabt. Das hat mich oft unbillig gegen das ganze Phänomen der europäischen Kultur gemacht, daß ich eine niedergehende Art kennen lernte. Die Deutschen kommen immer später hinterdrein: sie tragen etwas in der Tiefe, z. B. –

Abhängigkeit vom Ausland: z. B. Kant – Rousseau, Sensualisten, Hume, Swedenborg.

Schopenhauer – Inder und Romantik, Voltaire.

Wagner – französischer Kultus des Gräßlichen und der großen Oper, Paris und Flucht in Urzustände (die Schwester-Ehe).

– Gesetz der Nachzügler (Provinz nach Paris, Deutschland nach Frankreich). Wieso gerade Deutsche das Griechische entdeckten (: je stärker man einen Trieb entwickelt, um so anziehender wird es, sich einmal in seinen Gegensatz zu stürzen).

Musik ist Ausklingen.

[92]


Ursprünglich Chaos der Vorstellungen. Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben übrig, die größte Zahl ging zugrunde – und geht zugrunde.

[508]


Schaffen – als Auswählen und Fertig-machen des Gewählten. (Bei jedem Willensakte ist dies das Wesentliche.)

[662]


Die ewige Wiederkunft. Eine Prophezeiung.

  • 1. Darstellung der Lehre und ihrer theoretischen Voraussetzungen und Folgen.

  • 2. Beweis der Lehre.

  • [872] 3. Mutmaßliche Folgen davon, daß sie geglaubt wird (sie bringt alles zum Aufbrechen).
    • a) Mittel, sie zu ertragen;

    • b) Mittel, sie zu beseitigen.

  • 4. Ihr Platz in der Geschichte, als eine Mitte.
    Zeit der höchsten Gefahr. Gründung einer Oligarchie über den Völkern und ihren Interessen:
    Erziehung zu einer allmenschlichen Politik. Gegenstück des Jesuitismus.


[1057]


Die beiden größten (von Deutschen gefundenen) philosophischen Gesichtspunkte:

  • a) der des Werdens, der Entwicklung;

  • b) der nach dem Werte des Daseins (aber die erbärmliche Form des deutschen Pessimismus erst zu überwinden!) –
    beide von mir in entscheidender Weise zusammengebracht.

Alles wird und kehrt ewig wieder – entschlüpfen ist nicht möglich! – Gesetzt, wir könnten den Wert beurteilen, was folgt daraus? Der Gedanke der Wiederkunft als auswählendes Prinzip, im Dienste der Kraft (und Barbarei!!).

Reife der Menschheit für diesen Gedanken.

[1058]


»Wollen«: ist gleich Zweck-Wollen. »Zweck« enthält eine Wertschätzung. Woher stammen die Wertschätzungen? Ist eine feste Norm von »angenehm und schmerzhaft« die Grundlage?

Aber in unzähligen Fällen machen wir erst eine Sache schmerzhaft, dadurch daß wir unsere Wertschätzung hineinlegen.

Umfang der moralischen Wertschätzungen: sie sind fast in jedem Sinneseindruck mitspielend. Die Welt ist uns gefärbt dadurch.

Wir haben die Zwecke und die Werte hineingelegt: wir haben eine ungeheure latente Kraftmasse dadurch in uns: aber in der Vergleichung der Werte ergibt sich, daß Entgegengesetztes als wertvoll galt, daß viele Gütertafeln existierten (also nichts »an sich« wertvoll).

Bei der Analyse der einzelnen Gütertafeln ergab sich ihre Aufstellung als die Aufstellung von Existenzbedingungen beschränkter Gruppen (und oft irrtümlicher): zur Erhaltung.[873]

Bei der Betrachtung der jetzigen Menschen ergab sich, daß wir sehr verschiedene Werturteile handhaben, und daß keine schöpferische Kraft mehr darin ist – die Grundlage: »die Bedingung der Existenz« fehlt dem moralischen Urteile jetzt. Es ist viel überflüssiger, es ist lange nicht so schmerzhaft. – Es wird willkürlich. Chaos.

Wer schafft das Ziel, das über der Menschheit stehen bleibt und auch über dem einzelnen? Ehemals wollte man mit der Moral erhalten: aber niemand will jetzt mehr erhalten, es ist nichts daran zu erhalten. Also eine versuchende Moral: sich ein Ziel geben.

[260]


»Die Kraftempfindung kann nicht aus Bewegung hervorgehen: Empfindung überhaupt kann nicht aus Bewegung hervorgehen.«

»Auch dafür spricht nur eine scheinbare Erfahrung: in einer Substanz (Gehirn) wird durch übertragene Bewegung (Reize) Empfindung erzeugt. Aber erzeugt? Wäre denn bewiesen, daß die Empfindung dort noch gar nicht existiert? so daß ihr Auftreten als Schöpfungsakt der eingetretenen Bewegung aufgefaßt werden müßte? Der empfindungslose Zustand dieser Substanz ist nur eine Hypothese! keine Erfahrung! – Empfindung also Eigenschaft der Substanz: es gibt empfindende Substanzen.«

»Erfahren wir von gewissen Substanzen, daß sie Empfindung nicht haben? Nein, wir erfahren nur nicht, daß sie welche haben. Es ist unmöglich, die Empfindung aus der nicht empfindenden Substanz abzuleiten.« – O der Übereilung!

[626]


Eine Vielheit von Kräften, verbunden durch einen gemeinsamen Ernährungs-Vorgang, heißen wir »Leben«. Zu diesem Ernährungs-Vorgang, als Mittel seiner Ermöglichung, gehört alles sogenannte Fühlen, Vorstellen, Denken, d. h. 1. ein Widerstreben gegen alle anderen Kräfte; 2. ein Zurechtmachen derselben nach Gestalt und Rhythmus; 3. ein Abschätzen in bezug auf Einverleibung oder Abscheidung.

[641]


»Es mußte in der Ausbildung des Denkens der Punkt eintreten, wo es zum Bewußtsein kam, daß das, was man als Eigenschaften der Dinge bezeichnete, Empfindungen des empfindenden Subjekts seien: damit[874] hörten die Eigenschaften auf, dem Dinge anzugehören.« Es blieb »das Ding an sich« übrig. Die Unterscheidung zwischen Ding an sich und des Dinges für uns basiert auf der älteren, naiven Wahrnehmung, die dem Dinge Energie beilegte: aber die Analyse ergab, daß auch die Kraft hineingedichtet worden ist, und ebenso – die Substanz. »Das Ding affiziert ein Subjekt.«? Wurzel der Substanzvorstellung in der Sprache, nicht im Außer-uns-Seienden! Das Ding an sich ist gar kein Problem!

Das Seiende wird als Empfindung zu denken sein, welcher nichts Empfindungsloses mehr zugrunde liegt.

In der Bewegung ist kein neuer Inhalt der Empfindung gegeben. Das Seiende kann nicht inhaltlich Bewegung sein: also Form des Seins.

  • NB. Die Erklärung des Geschehens kann versucht werden einmal: durch Vorstellung von Bildern des Geschehens, die ihm voranlaufen (Zwecke); zweitens: durch Vorstellung von Bildern, die ihm nachlaufen (die mathematisch-physikalische Erklärung).

Beide soll man nicht durcheinanderwerfen. Also: die physische Erklärung, welche die Verbildlichung der Welt ist aus Empfindung und Denken, kann nicht selber wieder das Empfinden und Denken ableiten und entstehen machen: vielmehr muß die Physik auch die empfindende Welt konsequent als ohne Empfindung und Zweck konstruieren – bis hinauf zum höchsten Menschen. Und die teleologische ist nur eine Geschichte der Zwecke und nie physikalisch!

[562]


Die Wissenschaft fragt nicht, was uns zum Wollen trieb: sie leugnet vielmehr, daß gewollt worden ist, und meint, daß etwas ganz anderes geschehen sei – kurz, daß der Glaube an »Wille« und »Zweck« eine Illusion sei. Sie fragt nicht nach den Motiven der Handlung, als ob diese uns vor der Handlung im Bewußtsein gewesen wären: sondern sie zerlegt erst die Handlung in eine mechanische Gruppe von Erscheinungen und sucht die Vorgeschichte dieser mechanischen Bewegung – aber nicht im Fühlen, Empfinden, Denken. Daher kann sie nie die Erklärung nehmen: die Empfindung ist ja eben ihr Material, das erklärt werden soll. – Ihr Problem ist eben: die Welt zu erklären, ohne zu Empfindungen als Ursache zu greifen: denn das hieße ja: als Ursache[875] der Empfindungen die Empfindungen ansehen. Ihre Aufgabe ist schlechterdings nicht gelöst.

Also: entweder kein Wille – die Hypothese der Wissenschaft –, oder freier Wille. Letztere Annahme das herrschende Gefühl, von dem wir uns nicht losmachen können, auch wenn die Hypothese bewiesen wäre.

Der populäre Glaube an Ursache und Wirkung ist auf die Voraussetzung gebaut, daß der freie Wille Ursache sei von jeder Wirkung: erst daher haben wir das Gefühl der Kausalität. Also darin liegt auch das Gefühl, daß jede Ursache nicht Wirkung ist, sondern immer erst Ursache – wenn der Wille die Ursache ist. »Unsre Willensakte sind nicht notwendig« – das liegt im Begriff »Wille«. Notwendig ist die Wirkung nach der Ursache – so fühlen wir. Es ist eine Hypothese, daß auch unser Wollen in jedem Falle ein Müssen sei.

[667]


Wir haben von alters her den Wert einer Handlung, eines Charakters, eines Daseins in die Absicht gelegt, in den Zweck, um dessentwillen getan, gehandelt, gelebt worden ist: diese uralte Idiosynkrasie des Geschmacks nimmt endlich eine gefährliche Wendung, – gesetzt nämlich, daß die Absichts- und Zwecklosigkeit des Geschehens immer mehr in den Vordergrund des Bewußtseins tritt. Damit scheint eine allgemeine Entwertung sich vorzubereiten: »Alles hat keinen Sinn«, – diese melancholische Sentenz heißt »aller Sinn liegt in der Absicht, und gesetzt, daß die Absicht ganz und gar fehlt, so fehlt auch ganz und gar der Sinn«. Man war, jener Schätzung gemäß, genötigt gewesen, den Wert des Lebens in ein »Leben nach dem Tode« zu verlegen, oder in die fortschreitende Entwicklung der Ideen oder der Menschheit oder des Volkes oder über den Menschen weg; aber damit war man in den Zweckprogressus in infinitum gekommen: man hatte endlich nötig, sich einen Platz in dem »Welt-Prozeß« auszumachen (mit der dysdämonistischen Perspektive vielleicht, daß es der Prozeß ins Nichts sei).

Demgegenüber bedarf der »Zweck« einer strengeren Kritik: man muß einsehen, daß eine Handlung niemals verursacht wird durch einen Zweck; daß Zweck und Mittel Auslegungen sind, wobei gewisse Punkte eines Geschehens unterstrichen und herausgewählt werden, auf Unkosten anderer und zwar der meisten; daß jedesmal, wenn etwas auf einen Zweck hin getan wird, etwas Grundverschiednes und[876] andres geschieht; daß in bezug auf jede Zweck-Handlung es so steht, wie mit der angeblichen Zweckmäßigkeit der Hitze, welche die Sonne ausstrahlt: die übergroße Masse ist verschwendet; ein kaum in Rechnung kommender Teil hat »Zweck«, hat »Sinn« – ; daß ein »Zweck« mit seinen »Mitteln« eine unbeschreiblich unbestimmte Zeichnung ist, welche als Vorschrift, als »Wille« zwar kommandieren kann, aber ein System von gehorchenden und eingeschulten Werkzeugen voraussetzt, welche an Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen (d. h. wir imaginieren ein System von zweck- und mittelsetzenden klügeren, aber engeren Intellekten, um unserm einzig bekannten »Zweck« die Rolle der »Ursache einer Handlung« zumessen zu können, wozu wir eigentlich kein Recht haben: es hieße, um ein Problem zu lösen, die Lösung des Problems in eine unserer Beobachtung unzugängliche Welt hineinstellen –).

Zuletzt: warum könnte nicht »ein Zweck« eine Begleiterscheinung sein, in der Reihe von Veränderungen wirkender Kräfte, welche die zweckmäßige Handlung hervorrufen – ein in das Bewußtsein vorausgeworfenes blasses Zeichenbild, das uns zur Orientierung dient dessen, was geschieht, als ein Symptom selbst vom Geschehen, nicht als dessen Ursache? – Aber damit haben wir den Willen selbst kritisiert: ist es nicht eine Illusion, das, was im Bewußtsein als Willensakt auftaucht, als Ursache zu nehmen? Sind nicht alle Bewußtseins-Erscheinungen nur End-Erscheinungen, letzte Glieder einer Kette, aber scheinbar in ihrem Hintereinander innerhalb einer Bewußtseins-Fläche sich bedingend? Dies könnte eine Illusion sein.–

[666]


Widerspruch gegen die angeblichen »Tatsachen des Bewußtseins«. Die Beobachtung ist tausendfach schwieriger, der Irrtum vielleicht Bedingung der Beobachtung überhaupt.

[472]


Ich habe die Absicht, meinen Arm auszustrecken; angenommen, ich weiß so wenig von Physiologie des menschlichen Leibes und von den mechanischen Gesetzen seiner Bewegung als ein Mann aus dem Volke, was gibt es eigentlich Vageres, Blasseres, Ungewisseres als diese Absicht im Vergleich zu dem, was darauf geschieht? Und gesetzt, ich sei der scharfsinnigste Mechaniker und speziell über die Formeln unterrichtet,[877] die hierbei angewendet werden, so würde ich um keinen Deut besser oder schlechter meinen Arm ausstrecken. Unser »Wissen« und unser »Tun« in diesem Falle liegen kalt auseinander: als in zwei verschiedenen Reichen. – Andererseits: Napoleon führt den Plan eines Feldzuges durch – was heißt das? Hier ist alles gewußt, was zur Durchführung des Planes gehört, weil alles befohlen werden muß: aber auch hier sind Untergebene vorausgesetzt, welche das Allgemeine auslegen, anpassen an die Not des Augenblicks, Maß der Kraft usw.

[665]


Wenn wir etwas tun, so entsteht ein Kraftgefühl, oft schon vor dem Tun, bei der Vorstellung des zu Tuenden (wie beim Anblick eines Feindes, eines Hemmnisses, dem wir uns gewachsen glauben): immer begleitend. Wir meinen instinktiv, dies Kraftgefühl sei Ursache der Handlung, es sei »die Kraft«. Unser Glaube an Kausalität ist der Glaube an Kraft und deren Wirkung; eine Übertragung unsres Erlebnisses: wobei wir Kraft und Kraftgefühl identifizieren. – Nirgends aber bewegt die Kraft die Dinge; die empfundene Kraft »setzt nicht die Muskeln in Bewegung«. »Wir haben von einem solchen Prozeß keine Vorstellung, keine Erfahrung.« – »Wir erfahren ebensowenig, wie die Kraft als Bewegendes, die Notwendigkeit einer Bewegung.« Die Kraft soll das Zwingende sein! »Wir erfahren nur, daß eins auf das andre folgt – weder Zwang erfahren wir, noch Willkür, daß eins auf das andre folgt.« Die Kausalität wird erst durch die Hineindenkung des Zwanges in den Folgenvorgang geschaffen. Ein gewisses »Begreifen« entsteht dadurch, d. h. wir haben uns den Vorgang angemenschlicht, »bekannter« gemacht: das Bekannte ist das Gewohnheitsbekannte des mit Kraftgefühl verbundenen menschlichen Erzwingens.

[664]


Ob nicht der Ursprung unsrer anscheinenden »Erkenntnisse« auch nur in älteren Wertschätzungen zu suchen ist, welche so fest einverleibt sind, daß sie zu unserem Grundbestand gehören? So daß eigentlich nur jüngere Bedürfnisse mit dem Resultat der ältesten Bedürfnisse handgemein werden?

Die Welt so und so gesehen, empfunden, ausgelegt, daß organisches Leben bei dieser Perspektive von Auslegung sich erhält. Der Mensch ist nicht nur ein Individuum, sondern das fortlebende Gesamt-Organische[878] in einer bestimmten Linie. Daß er besteht, damit ist bewiesen, daß eine Gattung von Interpretation (wenn auch immer fortgebaut) auch bestanden hat, daß das System der Interpretation nicht gewechselt hat. »Anpassung«.

Unser »Ungenügen«, unser »Ideal« usw. ist vielleicht die Konsequenz dieses einverleibten Stücks Interpretation, unseres perspektivischen Gesichtspunkts: vielleicht geht endlich das organische Leben daran zugrunde – so wie die Arbeitsteilung von Organismen zugleich eine Verkümmerung und Schwächung der Teile, endlich den Tod für das Ganze mit sich bringt. Es muß der Untergang des organischen Lebens, auch seiner höchsten Form, ebenso angelegt sein wie der Untergang des einzelnen.

[678]


Warum alle Tätigkeit, auch die eines Sinnes, mit Lust verknüpft ist? Weil vorher eine Hemmung, ein Druck bestand? Oder vielmehr weil alles Tun ein Überwinden, ein Herrwerden ist und Vermehrung des Machtgefühls gibt? – Die Lust im Denken. – Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern die Lust an dem Schaffen und am Geschaffenen: denn alle Tätigkeit kommt uns ins Bewußtsein als Bewußtsein eines »Werks«.

[661]


Den größten Ekel haben mir bisher die Schmarotzer des Geistes gemacht: man findet sie, in unserem ungesunden Europa, überall schon, und zwar mit dem besten Gewissen von der Welt. Vielleicht ein wenig trübe, ein wenig air pessimiste, in der Hauptsache aber gefräßig, schmutzig, beschmutzend, sich einschleichend, einschmiegend, diebisch, krätzig – und unschuldig wie alle kleinen Sünder und Mikroben. Sie leben davon, daß andere Leute Geist haben und mit vollen Händen ausgeben: sie wissen, wie es selbst zum Wesen des reichen Geistes gehört, unbekümmert, ohne kleinliche Vorsicht, auf den Tag hin und selbst verschwenderisch sich auszugeben. – Denn der Geist ist ein schlechter Haushalter und hat kein Augenmerk darauf, wie alles von ihm lebt und zehrt.

[77]


Ein Künstler hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück: seine ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding wert ist, jener schattengleiche[879] Rest ist, den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt; er glaubt daran, daß, je mehr subtilisiert, verdünnt, verflüchtigt ein Ding, ein Mensch wird, um so mehr sein Wert zunimmt: je weniger real, um so mehr Wert. Dies ist Platonismus: der aber noch eine Kühnheit mehr besaß, im Umdrehen: – er maß den Grad Realität nach dem Wertgrade ab und sagte: je mehr »Idee«, desto mehr Sein. Er drehte den Begriff »Wirklichkeit« herum und sagte: »Was ihr für wirklich haltet, ist ein Irrtum, und wir kommen, je näher wir der ›Idee‹ kommen, um so näher der ›Wahrheit‹«. – Versteht man es? Das war die größte Umtaufung: und weil sie vom Christentum aufgenommen ist, so sehen wir die erstaunliche Sache nicht. Plato hat im Grunde den Schein, als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen! also die Lüge und Erdichtung der Wahrheit! das Unwirkliche dem Vorhandenen! – er war aber so sehr vom Werte des Scheins überzeugt, daß er ihm die Attribute »Sein«, »Ursächlichkeit« und »Gutheit«, »Wahrheit«, kurz alles übrige beilegte, dem man Wert beilegt.

Der Wertbegriff selbst, als Ursache gedacht: erste Einsicht.

Das Ideal mit allen Attributen bedacht, die Ehre verleihen: zweite Einsicht.

[572]


Grundgedanke: Die Falschheit erscheint so tief, so allseitig, der Wille ist dergestalt gegen das direkte Sich-selbst-Erkennen und Bei-Namen-Nennen gerichtet, daß die Vermutung sehr große Wahrscheinlichkeit hat:

Wahrheit, Wille zur Wahrheit sei eigentlich etwas ganz andres und auch nur eine Verkleidung. (Das Bedürfnis nach Glauben ist der größte Hemmschuh der Wahrhaftigkeit.)

[377b]


Das allgemeinste Zeichen der modernen Zeit: der Mensch hat in seinen eigenen Augen unglaublich an Würde eingebüßt. Lange als Mittelpunkt und Tragödien-Held des Daseins überhaupt; dann wenigstens bemüht, sich als verwandt mit der entscheidenden und an sich wertvollen Seite des Daseins zu beweisen – wie es alle Metaphysiker tun, die die Würde des Menschen festhalten wollen, mit ihrem Glauben, daß die moralischen Werte kardinale Werte sind. Wer Gott fahren ließ, hält um so strenger am Glauben an die Moral fest.

[18]
[880]

Jede rein moralische Wertsetzung (wie z. B. die buddhistische) endet mit Nihilismus: dies für Europa zu erwarten! Man glaubt mit einem Moralismus ohne religiösen Hintergrund auszukommen: aber damit ist der Weg zum Nihilismus notwendig. – In der Religion fehlt der Zwang, uns als wertsetzend zu betrachten.

[19]


1. Der Nihilismus steht vor der Tür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste? – Ausgangspunkt: es ist ein Irrtum, auf »soziale Notstände« oder »physiologische Entartungen« oder gar auf Korruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus. Es ist die honetteste, mitfühlendste Zeit. Not, seelische, leibliche, intellektuelle Not ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d. h. die radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen. Diese Nöte erlauben immer noch ganz verschiedene Ausdeutungen. Sondern: in einer ganz bestimmten Ausdeutung, in der christlich-moralischen, steckt der Nihilismus.

2. Der Untergang des Christentums – an seiner Moral (die unablösbar ist –), welche sich gegen den christlichen Gott wendet (der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christentum hoch entwickelt, bekommt Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung. Rückschlag von »Gott ist die Wahrheit« in den fanatischen Glauben »Alles ist falsch«. Buddhismus der Tat...).

3. Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang der moralischen Weltauslegung, die keine Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten: endet in Nihilismus. »Alles hat keinen Sinn« (die Undurchführbarkeit einer Weltauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist – erweckt das Mißtrauen, ob nicht alle Weltauslegungen falsch sind –). Buddhistischer Zug, Sehnsucht ins Nichts. (Der indische Buddhismus hat nicht eine grundmoralische Entwicklung hinter sich, deshalb ist bei ihm im Nihilismus nur unüberwundene Moral: Dasein als Strafe, Dasein als Irrtum kombiniert, der Irrtum also als Strafe – eine moralische Wertschätzung). Die philosophischen Versuche, den »moralischen Gott« zu überwinden (Hegel, Pantheismus). Überwindung der volkstümlichen Ideale: der Weise; der Heilige; der Dichter. Antagonismus von »wahr« und »schön« und »gut« – –[881]

4. Gegen die »Sinnlosigkeit« einerseits, gegen die moralischen Werturteile andrerseits: inwiefern alle Wissenschaft und Philosophie bisher unter moralischen Urteilen stand? und ob man nicht die Feindschaft der Wissenschaft mit in den Kauf bekommt? Oder die Antiwissenschaftlichkeit? Kritik des Spinozismus. Die christlichen Werturteile überall in den sozialistischen und positivistischen Systemen rückständig. Es fehlt eine Kritik der christlichen Moral.

5. Die nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft (nebst ihren Versuchen, ins Jenseitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betriebe folgt endlich eine Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Antiwissenschaftlichkeit. Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x.

6. Die nihilistischen Konsequenzen der politischen und volkswirtschaftlichen Denkweise, wo alle »Prinzipien« nachgerade zur Schauspielerei gehören: der Hauch von Mittelmäßigkeit, Erbärmlichkeit, Unaufrichtigkeit usw. Der Nationalismus. Der Anarchismus usw. Strafe. Es fehlt der erlösende Stand und Mensch, die Rechtfertiger –

7. Die nihilistischen Konsequenzen der Historie und der »praktischen Historiker«, d. h. der Romantiker. Die Stellung der Kunst: absolute Unoriginalität ihrer Stellung in der modernen Welt. Ihre Verdüsterung. Goethes angebliches Olympiertum.

8. Die Kunst und die Vorbereitung des Nihilismus: Romantik (Wagners Nibelungen-Schluß).

[)]


Man kennt die Art Mensch, welche sich in die Sentenz tout comprendre c'est tout pardonner verliebt hat. Es sind die Schwachen, es sind vor allem die Enttäuschten: wenn es an allem etwas zu verzeihen gibt, so gibt es auch an allem etwas zu verachten! Es ist die Philosophie der Enttäuschung, die sich hier so human in Mitleiden einwickelt und süß blickt.

Das sind Romantiker, denen der Glaube flöten ging: nun wollen sie wenigstens noch zusehen, wie alles läuft und verläuft. Sie nennen's l'art pour l'art, »Objektivität« usw.

[81]


»Schönheit« ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste[882] Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung – daß keine Gewalt mehr not tut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht – das ergötzt den Machtwillen des Künstlers.

[803]


Erster Satz. Die leichtere Denkweise siegt über die schwierigere – als Dogma: simplex sigillum veri. – Dico: daß die Deutlichkeit etwas für Wahrheit ausweisen soll, ist eine vollkommne Kinderei...

Zweiter Satz. Die Lehre vom Sein, vom Ding, von lauter festen Einheiten ist hundertmal leichter als die Lehre vom Werden, von der Entwicklung...

Dritter Satz. Die Logik war als Erleichterung gemeint: als Ausdrucksmittelnicht als Wahrheit... Später wirkte sie als Wahrheit...

[538]


Zur Psychologie der Metaphysik. – Diese Welt ist scheinbar: folglich gibt es eine wahre Welt; – diese Welt ist bedingt: – folglich gibt es eine unbedingte Welt; – diese Welt ist widerspruchsvoll: folglich gibt es eine widerspruchslose Welt; – diese Welt ist werdend: folglich gibt es eine seiende Welt: – lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft: wenn A ist, so muß auch sein Gegensatz-Begriff B sein). Zu diesen Schlüssen inspiriert das Leiden: im Grunde sind es Wünsche, es möchte eine solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginiert wird, eine wertvollere: das Ressentiment der Metaphysiker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch.

Zweite Reihe von Fragen: wozu Leiden? ...und hier ergibt sich ein Schluß auf das Verhältnis der wahren Welt zu unsrer scheinbaren, wandelbaren, leidenden, widerspruchsvollen: 1. Leiden als Folge des Irrtums: wie ist Irrtum möglich? 2. Leiden als Folge von Schuld: wie ist Schuld möglich? (– lauter Erfahrungen aus der Natursphäre oder der Gesellschaft universalisiert und ins »An-sich« projiziert). Wenn aber die bedingte Welt ursächlich von der unbedingten bedingt ist, so muß die Freiheit zum Irrtum und zur Schuld mit von ihr bedingt sein: und wieder fragt man wozu? ... Die Welt des Scheins, des Werdens, des Widerspruchs, des Leidens ist also gewollt: wozu?

Der Fehler dieser Schlüsse: zwei gegensätzliche Begriffe sind gebildet[883]weil dem einen von ihnen eine Realität entspricht, »muß« auch dem andern eine Realität entsprechen. »Woher sollte man sonst dessen Gegenbegriff haben?« – Vernunft somit als eine Offenbarungs-Quelle über An-sich-Seiendes.

Aber die Herkunft jener Gegensätze braucht nicht notwendig auf eine übernatürliche Quelle der Vernunft zurückzugehn: es genügt, die wahre Genesis der Begriffe dagegenzustellen: – diese stammt aus der praktischen Sphäre, aus der Nützlichkeitssphäre, und hat eben daher ihren starken Glauben (man geht daran zugrunde, wenn man nicht gemäß dieser Vernunft schließt: aber damit ist das nicht »bewiesen«, was sie behauptet).

Die Präokkupation durch das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. »Ewige Seligkeit«: psychologischer Unsinn. Tapfere und schöpferische Men schen fassen Lust und Leid nie als letzte Wertfragen, – es sind Begleit-Zustände: man muß beides wollen, wenn man etwas erreichen will –. Darin drückt sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus, daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrunde sehn. Auch die Moral hat nur deshalb für sie solche Wichtigkeit, weil sie als wesentliche Bedingung in Hinsicht auf Abschaffung des Leidens gilt.

Insgleichen die Präokkupation durch Schein und Irrtum: Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der »Gewißheit«, im »Glauben«).

[579]


Das theologische Vorurteil bei Kant, sein unbewußter Dogmatismus, seine moralistische Perspektive als herrschend, lenkend, befehlend.

Dasprôton pseudos: wie ist die Tatsache der Erkenntnis möglich? ist die Erkenntnis überhaupt eine Tatsache? was ist Erkenntnis? Wenn wir nicht wissen, was Erkenntnis ist, können wir unmöglich die Frage beantworten, ob es Erkenntnis gibt. – Sehr schön! Aber wenn ich nicht schon »weiß«, ob es Erkenntnis gibt, geben kann, kann ich die Frage »was ist Erkenntnis« vernünftigerweise gar nicht stellen. Kant glaubt an die Tatsache der Erkenntnis: es ist eine Naivität, was er will: die Erkenntnis der Erkenntnis!

»Erkenntnis ist Urteil!« Aber Urteil ist ein Glaube, daß etwas so und[884] so ist! Und nicht Erkenntnis! »Alle Erkenntnis besteht in synthetischen Urteilen« mit dem Charakter der Allgemeingültigkeit (die Sache verhält sich in allen Fällen so und nicht anders), mit dem Charakter der Notwendigkeit (das Gegenteil der Behauptung kann nie stattfinden).

Die Rechtmäßigkeit im Glauben an die Erkenntnis wird immer vorausgesetzt: so wie die Rechtmäßigkeit im Gefühl des Gewissensurteils vorausgesetzt wird. Hier ist die moralische Ontologie das herrschende Vorurteil.

Also der Schluß ist: 1. es gibt Behauptungen, die wir für allgemeingültig und notwendig halten;

2. der Charakter der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit kann nicht aus der Erfahrung stammen;

3. folglich muß er ohne Erfahrung, anderswoher sich begründen und eine andere Erkenntnisquelle haben!

(Kant schließt 1. es gibt Behauptungen, die nur unter gewisser Bedingung gültig sind; 2. diese Bedingung ist, daß sie nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Vernunft stammen.)

Also: die Frage ist, woher unser Glaube an die Wahrheit solcher Behauptungen seine Gründe nimmt? Nein, woher er seine Ursache hat! Aber die Entstehung eines Glaubens, einer starken Überzeugung ist ein psychologisches Problem: und eine sehr begrenzte und enge Erfahrung bringt oft einen solchen Glauben zuwege! Er setzt bereits voraus, daß es nicht nur »data a posteriori« gibt, sondern auch data a priori, »vor der Erfahrung«. Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit könne nie durch Erfahrung gegeben werden: womit ist denn nun klar, daß sie ohne Erfahrung überhaupt da sind?

Es gibt keine einzelnen Urteile!

Ein einzelnes Urteil ist niemals »wahr«, niemals Erkenntnis; erst im Zusammenhang, in der Beziehung von vielen Urteilen ergibt sich eine Bürgschaft.

Was unterscheidet den wahren und den falschen Glauben? Was ist Erkenntnis? Er »weiß« es, das ist himmlisch!

Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit können nie durch Erfahrung gegeben werden! Also unabhängig von der Erfahrung, vor aller Erfahrung! Diejenige Einsicht, die a priori stattfindet, also unabhängig von aller Erfahrung aus der bloßen Vernunft, »eine reine Erkenntnis«![885]

»Die Grundsätze der Logik, der Satz der Identität und des Widerspruchs, sind reine Erkenntnisse, weil sie aller Erfahrung vorausgehen.« – Aber das sind gar keine Erkenntnisse! sondern regulative Glaubensartikel.

Um die Apriorität (die reine Vernunftmäßigkeit) der mathematischen Urteile zu begründen, muß der Raum begriffen werden als eine Form der reinen Vernunft.

Hume hatte erklärt: »es gibt gar keine synthetischen Urteile a priori.« Kant sagt: doch! die mathematischen! Und wenn es also solche Urteile gibt, gibt es vielleicht auch Metaphysik, eine Erkenntnis der Dinge durch die reine Vernunft!

Mathematik wird möglich unter Bedingungen, unter denen Metaphysik nie möglich ist. Alle menschliche Erkenntnis ist entweder Erfahrung oder Mathematik.

Ein Urteil ist synthetisch: d. h. es verknüpft verschiedene Vorstellungen.

Es ist a priori: d. h. jene Verknüpfung ist eine allgemeingültige und notwendige, die nie durch sinnliche Wahrnehmung, sondern nur durch reine Vernunft gegeben sein kann.

Soll es synthetische Urteile a priori geben, so wird die Vernunft imstande sein müssen, zu verknüpfen: das Verknüpfen ist eine Form. Die Vernunft muß formgebende Vermögen besitzen.

[530]


Das Mitleid eine Verschwendung der Gefühle, ein der moralischen Gesundheit schädlicher Parasit, »es kann unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren«. Wenn man bloß aus Mitleid wohltut, so tut man eigentlich sich selbst wohl und nicht dem andern. Mitleid beruht nicht auf Maximen, sondern auf Affekten; es ist pathologisch. Das fremde Leiden steckt uns an, Mitleid ist eine Ansteckung.

[368]


Die Priester sind die Schauspieler von irgend etwas Übermenschlichem, dem sie Sinnfälligkeit zu geben haben, sei es von Idealen, sei es von Göttern oder von Heilanden; darin finden sie ihren Beruf, dafür haben sie ihre Instinkte; um es so glaubwürdig wie möglich zu machen, müssen sie in der Anähnlichung so weit wie möglich gehen; ihre Schauspieler-Klugheit muß vor allem das gute Gewissen bei ihnen erzielen, mit Hilfe dessen erst wahrhaft überredet werden kann.

[138]
[886]

Ein Ideal, das sich durchsetzen oder noch behaupten will, sucht sich zu stützen a) durch eine untergeschobene Herkunft, b) durch eine angebliche Verwandtschaft mit schon bestehenden mächtigen Idealen, c) durch die Schauder des Geheimnisses, wie als ob hier eine undiskutierbare Macht rede, d) durch Verleumdung seiner gegnerischen Ideale, e) durch eine lügnerische Lehre des Vorteils, den es mit sich bringt, z. B. Glück, Seelenruhe, Frieden oder auch die Beihilfe eines mächtigen Gottes usw. – Zur Psychologie des Idealisten: Carlyle, Schiller, Michelet.

Hat man alle Defensiv- und Schutz-Maßregeln aufgedeckt, mit denen ein Ideal sich erhält: ist es damit widerlegt? Es hat die Mittel angewendet, durch die alles Lebendige lebt und wächst – sie sind allesamt »unmoralisch«.

Meine Einsicht: alle die Kräfte und Triebe, vermöge deren es Leben und Wachstum gibt, sind mit dem Banne der Moral belegt: Moral als Instinkt der Verneinung des Lebens. Man muß die Moral vernichten, um das Leben zu befreien.

[343]


»Du sollst nicht lügen«: man fordert Wahrhaftigkeit. Aber die Anerkennung des Tatsächlichen (das Sich-nicht-belügen-lassen) ist gerade bei den Lügnern am größten gewesen: sie erkannten eben auch das Untatsächliche dieser populären »Wahrhaftigkeit«. Es wird beständig zu viel oder zu wenig gesagt: die Forderung, sich zu entblößen mit jedem Worte, das man spricht, ist eine Naivität.

Man sagt, was man denkt, man ist »wahrhaft« nur unter Voraussetzungen: nämlich unter der, verstanden zu werden (inter pares), und zwar wohlwollend verstanden zu werden (noch einmal inter pares). Gegen das Fremde verbirgt man sich: und wer etwas erreichen will, sagt was er über sich gedacht haben will, nicht aber was er denkt. (»Der Mächtige lügt immer.«)

[378]


Der Sieg eines moralischen Ideals wird durch dieselben »unmoralischen« Mittel errungen wie jeder Sieg: Gewalt, Lüge, Verleumdung, Ungerechtigkeit.

[306]


Alle die Triebe und Mächte, welche von der Moral gelobt werden,[887] ergeben sich mir als essentiell gleich mit dem von ihr verleumdeten und abgelehnten: z. B. Gerechtigkeit als Wille zur Macht, Wille zur Wahrheit als Mittel des Willens zur Macht.

[375]


Zur Kritik der Herden-Tugenden. – Die inertia tätig 1. im Vertrauen, weil Mißtrauen Spannung, Beobachtung, Nachdenken nötig macht; – 2. in der Verehrung, wo der Abstand der Macht groß ist und Unterwerfung notwendig: um nicht zu fürchten, wird versucht zu lieben, hochzuschätzen und die Machtverschiedenheit als Wertverschiedenheit auszudeuten: so daß das Verhältnis nicht mehr revoltiert; – 3. im Wahrheitssinn. Was ist wahr? Wo eine Erklärung gegeben ist, die uns das Minimum von geistiger Kraftanstrengung macht (überdies ist Lügen sehr anstrengend); – 4. in der Sympathie. Sich gleichsetzen, versuchen gleich zu empfinden, ein vorhandenes Gefühl anzunehmen, ist eine Erleichterung: es ist etwas Passives gegen das Aktivum gehalten, welches die eigensten Rechte des Werturteils sich wahrt und beständig betätigt (letzteres gibt keine Ruhe); – 5. in der Unparteilichkeit und Kühle des Urteils: man scheut die Anstrengung des Affekts und stellt sich lieber abseits, »objektiv«; – 6. in der Rechtschaffenheit: man gehorcht lieber einem vorhandenen Gesetz, als daß man sich ein Gesetz schafft, als daß man sich und anderen befiehlt: die Furcht vor dem Befehlen –: lieber sich unterwerfen, als reagieren; – 7. in der Toleranz: die Furcht vor dem Ausüben des Rechts, des Richtens.

[279]


Die maskierten Arten des Willens zur Macht:

  • 1. Verlangen nach Freiheit, Unabhängigkeit, auch nach Gleichgewicht, Frieden, Koordination. Auch der Einsiedler, die »Geistesfreiheit«. In niedrigster Form: Wille überhaupt dazusein, »Selbsterhaltungstrieb«.

  • 2. Die Einordnung, um im größeren Ganzen dessen Willen zur Macht zu befriedigen: die Unterwer fung, das Sich-unentbehrlich-machen, -nützlich-machen bei dem, der die Gewalt hat; die Liebe, als ein Schleichweg zum Herzen des Mächtigeren – um über ihn zu herrschen.

  • 3. Das Pflichtgefühl, das Gewissen, der imaginäre Trost, zu einem[888] höheren Rang zu gehören, als die tatsächlich Gewalthabenden; die Anerkennung einer Rangordnung, die das Richten erlaubt, auch über die Mächtigeren; die Selbstverurteilung; die Erfindung neuer Werttafeln (Juden: klassisches Beispiel).


[774]


Die Tugenden sind so gefährlich als die Laster, insofern man sie von außen her als Autorität und Gesetz über sich herrschen läßt und sie nicht aus sich selbst erst erzeugt, wie es das Rechte ist, als persönlichste Notwehr und Notdurft, als Bedingung gerade unseres Daseins und Wachstums, die wir erkennen und anerkennen, gleichgültig ob andere mit uns unter gleicher oder verschiedner Bedingung wachsen. Dieser Satz von der Gefährlichkeit der unpersönlich verstandenen, objektiven Tugend gilt auch von der Bescheidenheit: an ihr gehen viele der ausgesuchten Geister zugrunde. Die Moralität der Bescheidenheit ist die schlimmste Verweichlichung für solche Seelen, bei denen es allein Sinn hat, daß sie beizeiten hart werden.

[326]


Gegen den Darwinismus. – Der Nutzen eines Organs erklärt nicht seine Entstehung, im Gegenteil! Die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich bildet, erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten im Kampf mit äußeren Umständen und Feinden.

Was ist zuletzt »nützlich«? Man muß fragen »in bezug worauf nützlich?« Z. B. was der Dauer des Individuums nützt, könnte seiner Stärke und Pracht ungünstig sein; was das Individuum erhält, könnte es zugleich festhalten und stillstellen in der Entwicklung. Andererseits kann ein Mangel, eine Entartung vom höchsten Nutzen sein, insofern sie als Stimulans anderer Organe wirkt. Ebenso kann eine Notlage Existenzbedingung sein, insofern sie ein Individuum auf das Maß herunterschraubt, bei dem es zusammenhält und sich nicht vergeudet. – Das Individuum selbst als Kampf der Teile (um Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen einzelner Teile, an ein Verkümmern, »Organwerden« anderer Teile.

Der Einfluß der »äußeren Umstände« ist bei Darwin ins Unsinnige überschätzt: das Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von innen her formenschaffende Gewalt, welche die »äußeren Umstände« ausnützt, ausbeutet –. Die von innen her gebildeten [889] neuen Formen sind nicht auf einen Zweck hin geformt; aber im Kampf der Teile wird eine neue Form nicht lange ohne Beziehung zu einem partiellen Nutzen stehen und dann, dem Gebrauche nach, sich immer vollkommener ausgestalten.

[647]


Gefahr in der Bescheidenheit. – Sich zu früh anpassen an Aufgaben, Gesellschaften, Alltags- und Arbeits-Ordnungen, in welche der Zufall uns setzt, zur Zeit, wo weder unsere Kraft, noch unser Ziel uns gesetzgeberisch ins Bewußtsein getreten ist; die damit errungene allzufrühe Gewissens-Sicherheit, Erquicklichkeit, Gemeinsamkeit, dieses vorzeitige Sich-Bescheiden, das sich als Loskommen von der inneren und äußeren Unruhe dem Gefühl einschmeichelt, verwöhnt und hält in der gefährlichsten Weise nieder; das Achten-lernen nach Art von »seinesgleichen«, wie als ob wir selbst in uns kein Maß und Recht hätten, Werte anzusetzen, die Bemühung, gleichzuschätzen gegen die innere Stimme des Geschmacks, der auch ein Gewissen ist, wird eine furchtbare feine Fesselung: wenn es endlich keine Explosion gibt, mit Zersprengung aller Bande der Liebe und Moral mit einem Male, so verkümmert, verkleinlicht, verweiblicht, versachlicht sich ein solcher Geist. – Das Entgegengesetzte ist schlimm genug, aber immer noch besser: an seiner Umgebung leiden, an ihrem Lobe sowohl wie an ihrer Mißbilligung, verwundet dabei und unterschwürig werden, ohne es zu verraten; unfreiwillig-mißtrauisch sich gegen ihre Liebe verteidigen, das Schweigen lernen, vielleicht indem man es durch Reden verbirgt, sich Winkel und unerratbare Einsamkeiten schaffen für die Augenblicke des Aufatmens, der Tränen, der sublimen Tröstung – bis man endlich stark genug ist, um zu sagen: »was habe ich mit euch zu schaffen ?« und seines Weges geht.

[970]


Lamartine hat für Sorrent und den Posilipp die Sprache –

Victor Hugo schwärmt für Spanien, »parce que aucune autre nation n'a moins emprunté à l'antiquité, parce qu'elle n'a subi aucune influence classique«.

[103b]


Das Übergewicht der Musik in den Romantikern von 1830 und 1840. Delacroix. Ingres, ein leidenschaftlicher Musiker (Kultus für Gluck, Haydn, Beethoven, Mozart) sagte seinen Schülern in Rom[890] »si je pouvais vous rendre tous musiciens, vous y gagneriez comme peintres« –; insgleichen Horace Vernet, mit einer besonderen Leidenschaft für den Don Juan (wie Mendelssohn bezeugt 1831); insgleichen Stendhal, der von sich sagt: Combien de lieues ne ferais-je pas à pied, et à combien de jours de prison ne me soumetterais-je pas pour entendre Don Juan ou le Matrimonio segreto; et je ne sais pour quelle autre chose je ferais cet effort. Damals war er 56 Jahre alt.

Die entliehenen Formen, z. B. Brahms als typischer »Epigone«, Mendelssohns gebildeter Protestantismus ebenfalls (eine frühere »Seele« wird nachgedichtet...)

– die moralischen und poetischen Substitutionen bei Wagner, die eine Kunst als Notbehelf für Mängel in der anderen,

– der »historische Sinn«, die Inspiration durch Dichten, Sagen,

– jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. Flaubert, unter Deutschen Richard Wagner das deutlichste Beispiel ist, wie der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts sich verwandelt, 1830 in 1850.

[105]


Wenn irgend etwas erreicht ist, so ist es ein harmloseres Verhalten zu den Sinnen, eine freudigere, wohlwollendere, goethischere Stellung zur Sinnlichkeit; insgleichen eine stolzere Empfindung in betreff des Erkennens: so daß der »reine Tor« wenig Glauben findet.

[118]


Gesetzt, unsere übliche Auffassung der Welt wäre ein Mißverständnis: könnte eine Vollkommenheit konzipiert werden, innerhalb deren selbst solche Mißverständnisse sanktioniert wären?

Konzeption einer neuen Vollkommenheit: das, was unserer Logik, unserem »Schönen«, unserem »Guten«, unserem »Wahren« nicht entspricht, könnte in einem höheren Sinne vollkommen sein, als es unser Ideal selbst ist.

[1010]


Die absolute Notwendigkeit ganz von Zwecken zu befreien: sonst dürfen wir auch nicht versuchen, uns zu opfern und gehen zu lassen! Erst die Unschuld des Werdens gibt uns den größten Mut und die größte Freiheit!

[787]


[891] Atavismus: wonnevolles Gefühl, einmal unbedingt gehorchen zu können.

[358b]


Der Mensch, mehr als jedes andre Tier, ursprünglich altruistisch – daher seine langsame Entwicklung (Kind) und hohe Ausbildung, daher auch die außerordentliche, letzte Art von Egoismus. – Die Raubtiere sind viel individueller.

[771]


Das Begierden-Erdreich, aus dem die Logik herausgewachsen ist: Herden-Instinkt im Hintergrunde. Die Annahme der gleichen Fälle setzt die »gleiche Seele« voraus. Zum Zweck der Verständigung und Herrschaft.

[509]


Der Antagonismus zwischen der »wahren Welt«, wie sie der Pessimismus aufdeckt, und einer lebensmöglichen Welt – dazu muß man die Rechte der Wahrheit prüfen. Es ist nötig, den Sinn aller dieser »idealen Triebe« am Leben zu messen, um zu begreifen, was eigentlich jener Antagonismus ist: der Kampf des krankhaften, verzweifelnden, sich an Jenseitiges klammernden Lebens mit dem gesünderen, dümmeren, verlogneren, reicheren, unzersetzteren Leben. Also nicht »Wahrheit« im Kampf mit Leben, sondern eine Art Leben mit einer anderen. – Aber es will die höhere Art sein! – Hier muß die Beweisführung einsetzen, daß eine Rangordnung not tut – daß das erste Problem das der Rangordnung der Arten Leben ist.

[592]


Der Sinn und die Lust an der Nuance (– die eigentliche Modernität), an dem, was nicht generell ist, läuft dem Triebe entgegen, welcher seine Lust und Kraft im Erfassen des Typischen hat: gleich dem griechischen Geschmack der besten Zeit. Ein Überwältigen der Fülle des Lebendigen ist darin, das Maß wird Herr, jene Ruhe der starken Seele liegt zugrunde, welche sich langsam bewegt und einen Widerwillen vor dem Allzu-Lebendigen hat. Der allgemeine Fall, das Gesetz wird verehrt und herausgehoben: die Ausnahme wird umgekehrt beiseite gestellt, die Nuance weggewischt. Das Feste, Mächtige, Solide, das Leben, das breit und gewaltig ruht und seine Kraft birgt – das »gefällt«: d. h. das korrespondiert mit dem, was man von sich hält.

[819]
[892]

In Hinsicht auf die Maler: tout ces modernes sont des poètes qui ont voulu être peintres. L'un a cherché des drames dans l'histoire, l'autre des scènes de mœurs, celui-ci traduit des religions, celui-lá une philosophie. Jener ahmt Raffael nach, ein anderer die ersten italienischen Meister; die Landschafter verwenden Bäume und Wolken, um Oden und Elegien zu machen. Keiner ist einfach Maler; alle sind Archäologen, Psychologen, In-Szene-Setzer irgendwelcher Erinnerung oder Theorie. Sie gefallen sich an unsrer Erudition, an unsrer Philosophie. Sie sind, wie wir, voll und übervoll von allgemeinen Ideen. Sie lieben eine Form nicht um das, was sie ist, sondern um das, was sie ausdrückt. Sie sind die Söhne einer gelehrten, gequälten und reflektierenden Generation – tausend Meilen weit von den alten Meistern, welche nicht lasen und nur daran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben.

[828]


Es ist ganz und gar nicht die erste Frage, ob wir mit uns zufrieden sind, sondern ob wir überhaupt irgendwomit zufrieden sind. Gesetzt, wir sagen ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nötig, um dies eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.

[1032]


Eine volle und mächtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer Fülle und Mächtigkeit heraus: und, um das Wesentlichste zu sagen, mit einem neuen Wachstum in der Seligkeit der Liebe. Ich glaube, der, welcher etwas von den untersten Bedingungen jedes Wachstums in der Liebe erraten hat, wird Dante, als er über die Pforte seines Inferno schrieb: »auch mich schuf die ewige Liebe«, verstehen.

[1030]


Die nihilistische Konsequenz (der Glaube an die Wertlosigkeit) als Folge der moralischen Wertschätzung: – das Egoistische ist uns verleidet (selbst nach der Einsicht in die Unmöglichkeit des Unegoistischen);[893]das Notwendige ist uns verleidet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit eines liberum arbitrium und einer »intelligiblen Freiheit«). Wir sehen, daß wir die Sphäre, wohin wir unsere Werte gelegt haben, nicht erreichen – damit hat die andere Sphäre, in der wir leben, noch keineswegs an Wert gewonnen: im Gegenteil, wir sind müde, weil wir den Hauptantrieb verloren haben. »Umsonst bisher!«

[8]


A.

Von einer vollen herzhaften Würdigung unsrer jetzigen Menschheit auszugehen: – sich nicht durch den Augenschein täuschen lassen: diese Menschheit ist weniger »effektvoll«, aber sie gibt ganz andere Garantien der Dauer, ihr Tempo ist langsamer, aber der Takt selbst ist viel reicher. Die Gesundheit nimmt zu, die wirklichen Bedingungen des starken Leibes werden erkannt und allmählich geschaffen, der »Asketismus« ironice –. Die Scheu vor Extremen, ein gewisses Zutrauen zum »rechten Weg«, keine Schwärmerei; ein zeitweiliges Sich-Einleben in engere Werte (wie »Vaterland«, wie »Wissenschaft« usw.).

Dies ganze Bild wäre aber immer noch zweideutig: – es könnte eine aufsteigende oder aber eine absteigende Bewegung des Lebens sein.

B.

Der Glaube an den »Fortschritt« – – in der niederen Sphäre der Intelligenz erscheint er als aufsteigendes Leben: aber das ist Selbsttäuschung;

in der höheren Sphäre der Intelligenz als absteigendes.

Schilderung der Symptome.

Einheit des Gesichtspunktes: Unsicherheit in betreff der Wertmaße.

Furcht vor einem allgemeinen »Umsonst«.

Nihilismus.

[113]


»Nützlich« im Sinne der darwinistischen Biologie – das heißt: im Kampf mit anderen sich als begünstigend erweisend. Aber mir scheint schon das Mehrgefühl, das Gefühl des Stärker-werdens, ganz abgesehen vom Nutzen im Kampf, der eigentliche Fortschritt: aus diesem Gefühle entspringt erst der Wille zum Kampf –

[649]
[894]

»Nützlich« in bezug auf die Beschleunigung des Tempos der Entwicklung ist ein anderes »Nützlich« als das in bezug auf möglichste Feststellung und Dauerhaftigkeit des Entwickelten.

[648]


Die größte Kompliziertheit, die scharfe Abscheidung, das Nebeneinander der ausgebildeten Organe und Funktionen, mit Verschwinden der Mittelglieder – wenn das Vollkommenheit ist, so ergibt sich ein Wille zur Macht im organischen Prozeß, vermöge deren herrschaftliche, gestaltende, befehlende Kräfte immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb desselben immer wieder vereinfachen: der Imperativ wachsend.

Der »Geist« ist nur ein Mittel und Werkzeug im Dienst des höheren Lebens, der Erhöhung des Lebens.

[644]


Wenn es »nur ein Sein gibt, das Ich« und nach seinem Bilde alle andern »Seienden« gemacht sind – wenn schließlich der Glaube an das »Ich« mit dem Glauben an die Logik, d. h. metaphysische Wahrheit der Vernunft-Kategorien steht und fällt: wenn andrerseits das Ich sich als etwas Werdendes erweist: so –

[519]


Rekapitulation:

Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.

Zwiefache Fälschung, von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwertigen usw.

Daß alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des SeinsGipfel der Betrachtung.

Von den Werten aus, die dem Seienden beigelegt werden, stammt die Verurteilung und Unzufriedenheit im Werdenden: nachdem eine solche Welt des Seins erst erfunden war.

Die Metamorphosen des Seienden (Körper, Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln usw.).

»Das Seiende« als Schein; Umkehrung der Werte: der Schein war das Wertverleihende –.

Erkenntnis an sich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntnis[895] möglich? Als Irrtum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung.

Werden als Erfinden, Wollen, Selbstverneinen, Sich-selbst-überwinden: kein Subjekt, sondern ein Tun, Setzen, schöpferisch, keine »Ursachen und Wirkungen«.

Kunst als Wille zur Überwindung des Werdens, als »Verewigen«, aber kurzsichtig, je nach der Perspektive: gleichsam im kleinen die Tendenz des Ganzen wiederholend.

Was alles Leben zeigt, als verkleinerte Formel für die gesamte Tendenz zu betrachten: deshalb eine neue Fixierung des Begriffs »Leben«, als Wille zur Macht.

Anstatt »Ursache und Wirkung« der Kampf des Werdenden miteinander, oft mit Einschlürfung des Gegners; keine konstante Zahl des Werdenden.

Unbrauchbarkeit der alten Ideale zur Interpretation des ganzen Geschehens, nachdem man deren tierische Herkunft und Nützlichkeit erkannt hat; alle überdies dem Leben widersprechend.

Unbrauchbarkeit der mechanistischen Theorie – gibt den Eindruck der Sinnlosigkeit.

Der ganze Idealismus der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus umzuschlagen – in den Glauben an die absolute Wertlosigkeit, d. h. Sinnlosigkeit.

Die Vernichtung der Ideale, die neue Öde; die neuen Künste, um es auszuhalten, wir Amphibien.

Voraussetzung: Tapferkeit, Geduld, keine »Rückkehr«, keine Hitze nach vorwärts. (NB. Zarathustra, sich beständig parodisch zu allen früheren Werten verhaltend, aus der Fülle heraus.)

[617]


Gegen das physikalische Atom. – Um die Welt zu begreifen, müssen wir sie berechnen können; um sie berechnen zu können, müssen wir konstante Ursachen haben; weil wir in der Wirklichkeit keine solchen konstanten Ursachen finden, erdichten wir uns welche – die Atome. Dies ist die Herkunft der Atomistik.

Die Berechenbarkeit der Welt, die Ausdrückbarkeit alles Geschehens in Formeln – ist das wirklich ein »Begreifen«? Was wäre wohl an einer Musik begriffen, wenn alles, was an ihr berechenbar ist und[896] in Formeln abgekürzt werden kann, berechnet wäre? – Sodann die »konstanten Ursachen«, Dinge, Substanzen, etwas »Unbedingtes« also; erdichtet – was hat man erreicht?

[624]


Die Individuation, vom Standpunkt der Abstammungstheorie beurteilt, zeigt das beständige Zerfallen von eins in zwei und das ebenso beständige Vergehen der Individuen auf den Gewinn von wenig Individuen, die die Entwicklung fortsetzen: die übergroße Masse stirbt jedesmal ab (»der Leib«).

Das Grundphänomen: unzählige Individuen geopfert um weniger willen: als deren Ermöglichung. – Man muß sich nicht täuschen lassen: ganz so steht es mit den Völkern und Rassen: sie bilden den »Leib« zur Erzeugung von einzelnen wertvollen Individuen, die den großen Prozeß fortsetzen.

[679]


Das Bewußtsein – ganz äußerlich beginnend, als Koordination und Bewußtwerden der »Eindrücke« – anfänglich am weitesten entfernt vom biologischen Zentrum des Individuums; aber ein Prozeß, der sich vertieft, verinnerlicht, jenem Zentrum beständig annähert.

[504]


Zur Entstehung der Logik. Der fundamentale Hang, gleichzusetzen, gleichzusehen wird modifiziert, im Zaum gehalten durch Nutzen und Schaden, durch den Erfolg: es bildet sich eine Anpassung aus, ein milderer Grad, in dem er sich befriedigen kann, ohne zu gleich das Leben zu verneinen und in Gefahr zu bringen. Dieser ganze Prozeß ist ganz entsprechend jenem äußeren, mechanischen (der sein Symbol ist), daß das Plasma fortwährend, was es sich aneignet, sich gleichmacht und in seine Formen und Reihen einordnet.

[510]


Die Frage der Werte ist fundamentaler als die Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Wertfrage beantwortet ist.

Sein und Schein, psychologisch nachgerechnet, ergibt kein »Sein an sich«, keine Kriterien für »Realität«, sondern nur für Grade der Scheinbarkeit, gemessen an der Stärke des Anteils, den wir einem Schein geben.[897]

Nicht ein Kampf um Existenz wird zwischen den Vorstellungen und Wahrnehmungen gekämpft, sondern um Herrschaft; – vernichtet wird die überwundene Vorstellung nicht, nur zurückgedrängt oder subordiniert. Es gibt im Geistigen keine Vernichtung...

[588]


Gegen die Theorie, daß das einzelne Individuum den Vorteil der Gattung, seiner Nachkommenschaft im Auge hat, auf Unkosten des eigenen Vorteils: das ist nur Schein.

Die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den geschlechtlichen Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für die Gattung, sondern das Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich, seine höchste Machtäußerung (natürlich nicht vom Bewußtsein aus beurteilt, sondern von dem Zentrum der ganzen Individuation).

[680]


Grundirrtümer der bisherigen Biologen: es handelt sich nicht um die Gattung, sondern um stärker auszuwirkende Individuen. (Die Vielen sind nur Mittel.)

Das Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr »Äußeres« sich unterwirft und einverleibt.

Diese Biologen setzen die moralischen Wertschätzungen fort (– der »an sich höhere Wert des Altruismus«, die Feindschaft gegen die Herrschsucht, gegen den Krieg, gegen die Unnützlichkeit, gegen die Rang- und Ständeordnung).

[681]


Intellektualität des Schmerzes: er bezeichnet nicht an sich, was augenblicklich geschädigt ist, sondern welchen Wert die Schädigung hat in Hinsicht auf das allgemeine Individuum.

Ob es Schmerzen gibt, in denen »die Gattung« und nicht das Individuum leidet –?

[700]


Muß nicht alle Philosophie endlich die Voraussetzungen, auf denen die Bewegung der Vernunft ruht, ans Licht bringen? – unsern Glauben an das »Ich« als an eine Substanz, als an die einzige Realität, nach welcher wir überhaupt den Dingen Realität zusprechen? Der älteste[898] »Realismus« kommt zuletzt ans Licht: zu gleicher Zeit, wo die ganze religiöse Geschichte der Menschheit sich wiedererkennt als Geschichte vom Seelen-Aberglauben. Hier ist eine Schranke: unser Denken selbst involviert jenen Glauben (mit seiner Unterscheidung von Substanz, Akzidens; Tun, Täter usw.); ihn fahrenlassen heißt: nicht-mehr-denken-dürfen.

Daß aber ein Glaube, so notwendig er ist zur Erhaltung von Wesen, nichts mit der Wahrheit zu tun hat, erkennt man z. B. selbst daran, daß wir an Zeit, Raum und Bewegung glauben müssen, ohne uns gezwungen zu fühlen, hier absolute Realität zuzugestehen.

[487]


Man hat neuerdings mit einem zufälligen und in jedem Betracht unzutreffenden Wort viel Mißbrauch getrieben: man redet überall von »Pessimismus«, man kämpft um die Frage, auf die es Antworten geben müsse, wer recht habe, der Pessimismus oder der Optimismus.

Man hat nicht begriffen, was doch mit Händen zu greifen: daß Pessimismus kein Problem, sondern ein Symptom ist, – daß der Name ersetzt werden müsse durch »Nihilismus«, – daß die Frage, ob Nicht-sein besser ist als Sein, selbst schon eine Krankheit, ein Niedergangs-Anzeichen, eine Idiosynkrasie ist.

Die nihilistische Bewegung ist nur der Ausdruck einer physiologischen décadence.

[38]


Allgemeine Typen der décadence:

  • 1. man wählt, im Glauben, Heilmittel zu wählen, das, was die Erschöpfung beschleunigt; – dahin gehört das Christentum (um den größten Fall des fehlgreifenden Instinkts zu nennen); – dahin gehört der »Fortschritt« –

  • 2. man verliert die Widerstands-Kraft gegen die Reize – man wird bedingt durch die Zufälle: man vergröbert und vergrößert die Erlebnisse ins Ungeheure ... eine »Entpersönlichung«, eine Disgregation des Willens; – dahin gehört eine ganze Art Moral, die altruistische, die, welche das Mitleiden im Munde führt: an der das Wesentliche die Schwäche der Persönlichkeit ist, so daß sie mitklingt und wie eine überreizte Saite beständig zittert... eine extreme Irritabilität...

  • [899] 3. man verwechselt Ursache und Wirkung: man versteht die décadence nicht als physiologisch und sieht in ihren Folgen die eigentliche Ursache des Sich-schlecht-befindens; – dahin gehört die ganze religiöse Moral...

  • 4. man ersehnt einen Zustand, wo man nicht mehr leidet: das Leben wird tatsächlich als Grund zu Übeln empfunden – man taxiert die bewußtlosen, gefühllosen Zustände (Schlaf, Ohnmacht) unvergleichlich wertvoller, als die bewußten; daraus eine Methodik...


[44]


Über die Herkunft unsrer Wertschätzungen

Wir können uns unsern Leib räumlich auseinanderlegen, und dann erhalten wir ganz dieselbe Vorstellung davon wie vom Sternensystem, und der Unterschied von organisch und unorganisch fällt nicht mehr in die Augen. Ehemals erklärte man die Sternbewegungen als Wirkungen zweckbewußter Wesen: man braucht das nicht mehr, und auch in betreff des leiblichen Bewegens und Sich-Veränderns glaubt man lange nicht mehr mit dem zwecksetzenden Bewußtsein auszukommen. Die allergrößte Menge der Bewegungen hat gar nichts mit Bewußtsein zu tun: auch nicht mit Empfindung. Die Empfindungen und Gedanken sind etwas äußerst Geringes und Seltenes im Verhältnis zu dem zahllosen Geschehn in jedem Augenblick.

Umgekehrt nehmen wir wahr, daß eine Zweckmäßigkeit im kleinsten Geschehn herrscht, der unser bestes Wissen nicht gewachsen ist: eine Vorsorglichkeit, eine Auswahl, ein Zusammenbringen, Wiedergut-machen usw. Kurz, wir finden eine Tätigkeit vor, die einem ungeheuer viel höheren und überschauenden Intellekt zuzuschreiben wäre, als der uns bewußte ist. Wir lernen von allem Bewußten geringer denken: wir verlernen, uns für unser Selbst verantwortlich zu machen, da wir als bewußte, zwecksetzende Wesen nur der kleinste Teil davon sind. Von den zahlreichen Einwirkungen in jedem Augenblick, z. B. Luft, Elektrizität empfinden wir fast nichts: es könnte genug Kräfte geben, welche, obschon sie uns nie zur Empfindung kommen, uns fortwährend beeinflussen. Lust und Schmerz sind ganz seltene und spärliche Erscheinungen gegenüber den zahllosen Reizen, die eine Zelle, ein Organ auf eine andre Zelle, ein andres Organ ausübt.[900]

Es ist die Phase der Bescheidenheit des Bewußtseins. Zuletzt verstehen wir das bewußte Ich selber nur als ein Werkzeug im Dienste jenes höheren, überschauenden Intellekts: und da können wir fragen, ob nicht alles bewußte Wollen, alle bewußten Zwecke, alle Wertschätzungen vielleicht nur Mittel sind, mit denen etwas wesentlich Verschiedenes erreicht werden soll, als es innerhalb des Bewußtseins scheint. Wir meinen: es handle sich um unsre Lust und Unlust – – – aber Lust und Unlust könnten Mittel sein, vermöge deren wir etwas zu leisten hätten, was außerhalb unseres Bewußtseins liegt – – – Es ist zu zeigen, wie sehr alles Bewußte auf der Oberfläche bleibt: wie Handlung und Bild der Handlung verschieden ist, wie wenig man von dem weiß, was einer Handlung vorhergeht: wie phantastisch unsere Gefühle »Freiheit des Willens«, »Ursache und Wirkung« sind: wie Gedanken und Bilder, wie Worte nur Zeichen von Gedanken sind: die Unergründlichkeit jeder Handlung: die Oberflächlichkeit alles Lobens und Tadelns: wie wesentlich Erfindung und Einbildung ist, worin wir bewußt leben: wie wir in allen unsern Worten von Erfindungen reden (Affekte auch), und wie die Verbindung der Menschheit auf einem Überleiten und Fortdichten dieser Erfindungen beruht: während im Grunde die wirkliche Verbindung (durch Zeugung) ihren unbekannten Weg geht. Verändert wirklich dieser Glaube an die gemeinsamen Erfindungen die Men schen? Oder ist das ganze Ideen- und Wertschätzungswesen nur ein Ausdruck selber von unbekannten Veränderungen? Gibt es denn Willen, Zwecke, Gedanken, Werte wirklich? Ist vielleicht das ganze bewußte Leben nur ein Spiegelbild? Und auch wenn die Wertschätzung einen Menschen zu bestimmen scheint, geschieht im Grunde etwas ganz anderes! Kurz: gesetzt, es gelänge, das Zweckmäßige im Wirken der Natur zu erklären ohne die Annahme eines zweckesetzenden Ichs: könnte zuletzt vielleicht auch unser Zweckesetzen, unser Wollen usw. nur eine Zeichensprache sein für etwas wesentlich anderes, nämlich Nicht-Wollendes und Unbewußtes? nur der feinste Anschein jener natürlichen Zweckmäßigkeit des Organischen, aber nichts Verschiedenes davon?

Und kurz gesagt: es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den Leib: es ist die fühlbar werdende Geschichte davon, daß ein höherer Leib sich bildet. Das Organische steigt noch auf[901] höhere Stufen. Unsere Gier nach Erkenntnis der Natur ist ein Mittel, wodurch der Leib sich vervollkommnen will. Oder vielmehr: es werden hunderttausende von Experimenten gemacht, die Ernährung, Wohnart, Lebensweise des Leibes zu verändern: das Bewußtsein und die Wertschätzungen in ihm, alle Arten von Lust und Unlust sind Anzeichen dieser Veränderungen und Experimente. Zuletzt handelt es sich gar nicht um den Menschen: er soll überwunden werden.

[676]


Bei der Entstehung der Organismen denkt sich der Mensch zugegen: was ist bei diesem Vorgange mit Augen und Getast wahrzunehmen gewesen? Was ist in Zahlen zu bringen? Welche Regeln zeigen sich in den Bewegungen? Also: der Mensch will alles Geschehen sich als ein Geschehen für Auge und Getast zurechtlegen, folglich als Bewegungen: er will Formeln finden, die ungeheure Masse dieser Erfahrungen zu vereinfachen. Reduktion alles Geschehens auf den Sinnenmenschen und Mathematiker. Es handelt sich um ein Inventarium der menschlichen Erfahrungen: gesetzt, daß der Mensch, oder vielmehr das menschliche Auge und Begriffsvermögen, der ewige Zeuge aller Dinge gewesen sei.

[640]


Was ist das Kriterium der moralischen Handlung? 1. ihre Uneigennützigkeit, 2. ihre Allgemeingültigkeit usw. Aber das ist Stuben-Moralistik. Man muß die Völker studieren und zusehn, was jedesmal das Kriterium ist, und was sich darin ausdrückt: ein Glaube »ein solches Verhalten gehört zu unseren ersten Existenz-Bedingungen«. Unmoralisch heißt »Untergang- bringend«. Nun sind alle diese Gemeinschaften, in denen diese Sätze gefunden wurden, zugrunde gegangen: einzelne dieser Sätze sind immer von neuem unterstrichen worden, weil jede neu sich bildende Gemeinschaft sie – wieder nötig hatte, z. B. »Du sollst nicht stehlen«. Zu Zeiten, wo das Gemeingefühl für die Gesellschaft (z. B. im imperium Romanum) nicht verlangt werden konnte, warf sich der Trieb aufs »Heil der Seele«, religiös gesprochen: oder »das größte Glück«, philosophisch geredet. Denn auch die griechischen Moral-Philosophen empfanden nicht mehr mit ihrer polis.

[261]


Aus der Gewöhnung an unbedingte Autoritäten ist zuletzt ein tiefes Bedürfnis nach unbedingten Autoritäten entstanden: – so stark, daß[902] es selbst in einem kritischen Zeitalter, wie dem Kants, dem Bedürfnis nach Kritik sich als überlegen bewies und, in einem gewissen Sinne, die ganze Arbeit des kritischen Verstandes sich untertänig und zunutze zu machen wußte. – Es bewies in der darauffolgenden Generation, welche durch ihre historischen Instinkte notwendig auf das Relative jeder Autorität hingelenkt wurde, noch einmal seine Überlegenheit, als es auch die Hegelsche Entwicklungs-Philosophie, die in Philosophie umgetaufte Historie, selbst sich dienstbar machte und die Geschichte als die fortschreitende Selbstoffenbarung, Selbstüberbietung der moralischen Ideen hinstellte. Seit Plato ist die Philosophie unter der Herrschaft der Moral. Auch bei seinen Vorgängern spielen moralische Interpretationen entscheidend hinein (bei Anaximander das Zugrunde-gehn aller Dinge als Strafe für ihre Emanzipation vom reinen Sein; bei Heraklit die Regelmäßigkeit der Erscheinungen als Zeugnis für den sittlich-rechtlichen Charakter des gesamten Werdens).

[412]


Gegen den Positivismus, welcher bei den Phänomenen stehn bleibt »es gibt nur Tatsachen«, würde ich sagen: nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Faktum »an sich« feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen.

»Es ist alles subjektiv« sagt ihr: aber schon das ist Auslegung. Das »Subjekt« ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nötig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese.

Soweit überhaupt das Wort »Erkenntnis« Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne. – »Perspektivismus.«

Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen; unsere Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte.

[481]


Der christliche Priester ist von Anfang an der Todfeind der Sinnlichkeit; man kann sich keinen größeren Gegensatz denken, als die unschuldig-ahnungsvolle und feierliche Haltung, mit der z. B. in den ehrwürdigsten Frauenkulten Athens die Gegenwart der geschlechtlichen[903] Symbole empfunden wurde. Der Akt der Zeugung ist das Geheimnis an sich in allen nicht-asketischen Religionen: eine Art Symbol der Vollendung und der geheimnisvollen Absicht der Zukunft: der Wiedergeburt, Unsterblichkeit.

[148]


Was ist denn das, dieser Kampf des Christen »wider die Natur«? Wir werden uns ja durch seine Worte und Auslegungen nicht täuschen lassen! Es ist Natur wider etwas, das auch Natur ist. Furcht bei vielen, Ekel bei manchen, eine gewisse Geistigkeit bei anderen, die Liebe zu einem Ideal ohne Fleisch und Begierde, zu einem »Auszug der Natur« bei den Höchsten – diese wollen es ihrem Ideale gleichtun. Es versteht sich, daß Demütigung an Stelle des Selbstgefühls, ängstliche Vorsicht vor den Begierden, die Lostrennung von den gewöhnlichen Pflichten (wodurch wieder ein höheres Ranggefühl geschaffen wird), die Aufregung eines beständigen Kampfes um ungeheure Dinge, die Gewohnheit der Gefühls-Effusion – alles einen Typus zusammensetzt: in ihm überwiegt die Reizbarkeit eines verkümmernden Leibes, aber die Nervosität und ihre Inspiration wird anders interpretiert. Der Geschmack dieser Art Naturen geht einmal 1. auf das Spitzfindige, 2. auf das Blumige, 3. auf die extremen Gefühle. – Die natürlichen Hänge befriedigen sich doch, aber unter einer neuen Form der Interpretation, z. B. als »Rechtfertigung vor Gott«, »Erlösungsgefühl in der Gnade« (–jedes unabweisbare Wohlgefühl wird so interpretiert! –), der Stolz, die Wollust usw. – Allgemeines Problem: was wird aus dem Menschen, der sich das Natürliche verlästert und praktisch verleugnet und verkümmert? Tatsächlich erweist sich der Christ als eine übertreibende Form der Selbstbeherrschung: um seine Begierden zu bändigen, scheint er nötig zu haben, sie zu vernichten oder zu kreuzigen.

[228]


Der Haß gegen die Leiblich- und Seelisch-Privile gierten: Aufstand der häßlichen, mißratenen Seelen gegen die schönen, stolzen, wohlgemuten. Ihr Mittel: Verdächtigung der Schönheit, des Stolzes, der Freude: »es gibt kein Verdienst«, »die Gefahr ist ungeheuer: man soll zittern und sich schlecht befinden«, »die Natürlichkeit ist böse; der Natur widerstreben ist das Rechte. Auch der ›Vernunft‹« (– das Widernatürliche als das Höhere).[904]

Wieder sind es die Priester, die diesen Zustand ausbeuten und das »Volk« für sich gewinnen. »Der Sünder«, an dem Gott mehr Freude hat als am »Gerechten«. Dies ist der Kampf gegen das »Heidentum« (der Gewissensbiß als Mittel, die seelische Harmonie zu zerstören).

Der Haß der Durchschnittlichen gegen die Ausnahmen, der Herde gegen die Unabhängigen. (Die Sitte als eigentliche »Sittlichkeit«.) Wendung gegen den »Egoismus«: Wert hat allein das »dem andern«. »Wir sind alle gleich«; – gegen die Herrschsucht, gegen »Herrschen« überhaupt; – gegen das Vorrecht; – gegen Sektierer, Freigeister, Skeptiker; – gegen die Philosophie (als dem Werkzeug- und Ecken-Instinkt entgegen); bei Philosophen selbst »der kategorische Imperativ«, das Wesen des Moralischen »allgemein und überall«.

[283]


Die drei Behauptungen:

Das Unvornehme ist das Höhere (Protest des »gemeinen Mannes«); das Widernatürliche ist das Höhere (Protest der Schlechtweggekommenen); das Durchschnittliche ist das Höhere (Protest der Herde, der »Mittleren«).

In der Geschichte der Moral drückt sich also ein Wille zur Macht aus, durch den bald die Sklaven und Unterdrückten, bald die Mißratenen und An-sich-Leidenden, bald die Mittelmäßigen den Versuch machen, die ihnen günstigsten Werturteile durchzusetzen.

Insofern ist das Phänomen der Moral vom Standpunkt der Biologie aus höchst bedenklich. Die Moral hat sich bisher entwickelt auf Unkosten: der Herrschenden und ihrer spezifischen Instinkte, der Wohlgeratenen und schönen Naturen, der Unabhängigen und Privilegierten in irgendeinem Sinne.

Die Moral ist also eine Gegenbewegung gegen die Bemühungen der Natur, es zu einem höheren Typus zu bringen. Ihre Wirkung ist; Mißtrauen gegen das Leben überhaupt (insofern dessen Tendenzen als »unmoralisch« empfunden werden) – Sinnlosigkeit, Widersinn (insofern die obersten Werte als im Gegensatz zu den obersten Instinkten empfunden werden) – Entartung und Selbstzerstörung der »höheren Naturen«, weil gerade in ihnen der Konflikt bewußt wird.

[400] [905]


Es gelingt den wenigsten, in dem, worin wir leben, woran wir von alters her gewöhnt sind, ein Problem zu sehn – das Auge ist gerade dafür nicht eingestellt: dies scheint mir zumal in betreff unserer Moral der Fall zu sein.

Das Problem »jeder Mensch als Objekt für andere« ist Anlaß zu den höchsten Ehrverleihungen: für sich selbst – nein!

Das Problem »du sollst«: ein Hang, der sich nicht zu begründen weiß, ähnlich wie der Geschlechtstrieb, soll nicht unter die Verurteilung der Triebe fallen; umgekehrt, er soll ihr Wertmesser und Richter sein!

Das Problem der »Gleichheit«, während wir alle nach Auszeichnung dürsten: hier gerade sollen wir umgekehrt an uns genau die Anforderungen wie an andere stellen. Das ist so abgeschmackt, sinnfällig verrückt: aber – es wird als heilig, als höheren Ranges empfunden, der Widerspruch gegen die Vernunft wird kaum gehört.

Aufopferung und Selbstlosigkeit als auszeichnend, der unbedingte Gehorsam gegen die Moral und der Glaube, vor ihr mit jedermann gleichzustehn.

Die Vernachlässigung und Preisgebung von Wohl und Leben als auszeichnend, die vollkommne Verzichtleistung auf eigne Wertesetzung, das strenge Verlangen, von jedermann auf dasselbe verzichtet zu sehen. »Der Wert der Handlungen ist bestimmt: jeder einzelne ist dieser Wertung unterworfen.«

Wir sehn: eine Autorität redet – wer redet? – Man darf es dem menschlichen Stolze nachsehn, wenn er diese Autorität so hoch als möglich suchte, um sich so wenig als möglich unter ihr gedemütigt zu finden. Also – Gott redet!

Man bedurfte Gottes, als einer unbedingten Sanktion, welche keine Instanz über sich hat, als eines »kategorischen Imperators« –: oder, sofern man an die Autorität der Vernunft glaubt, man brauchte eine Einheits-Metaphysik, vermöge deren dies logisch war.

Gesetzt nun, der Glaube an Gott ist dahin: so stellt sich die Frage von neuem: "wer redet?« – Meine Antwort, nicht aus der Metaphysik, sondern der Tier-Physiologie genommen: der Herden-Instinkt redet. Er will Herr sein: daher sein »du sollst!« – er will den einzelnen nur im Sinne des Ganzen, zum besten des Ganzen gelten lassen, er haßt die Sich-Loslösenden, – er wendet den Haß aller einzelnen gegen ihn.

[275]
[906]

Das gesamte Moralisieren als Phänomen ins Auge bekommen. Auch als Rätsel. Die moralischen Phänomene haben mich beschäftigt wie Rätsel. Heute würde ich eine Antwort zu geben wissen: was bedeutet es, daß für mich das Wohl des Nächsten höheren Wert haben soll, als mein eigenes? daß aber der Nächste selbst den Wert seines Wohls anders schätzen soll als ich, nämlich demselben gerade mein Wohl überordnen soll? Was bedeutet das »Du sollst«, das selbst von Philosophen als »gegeben« betrachtet wird?

Der anscheinend verrückte Gedanke, daß einer die Handlung, die er dem andern erweist, höher halten soll als die sich selbst erwiesene, dieser andere ebenso wieder usw. (daß man nur Handlungen gutheißen soll, weil einer dabei nicht sich selbst im Auge hat, sondern das Wohl des andern) hat seinen Sinn: nämlich als Instinkt des Gemeinsinns, auf der Schätzung beruhend, daß am einzelnen überhaupt wenig gelegen ist, aber sehr viel an allen zusammen, vorausgesetzt, daß sie eben eine Gemeinschaft bilden, mit einem Gemein-Gefühl und Gemein-Gewissen. Also eine Art Übung in einer bestimmten Richtung des Blicks, Wille zu einer Optik, welche sich selbst zu sehn unmöglich machen will.

Mein Gedanke: es fehlen die Ziele, und diese müssen einzelne sein! Wir sehn das allgemeine Treiben: jeder einzelne wird geopfert und dient als Werkzeug. Man gehe durch die Straße, ob man nicht lauter »Sklaven« begegnet. Wohin? Wozu?

[269]


Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet: nicht auf eine individualistische Moral. Der Sinn der Herde soll in der Herde herrschen – aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer der Herde bedürfen einer grundverschiedenen Wertung ihrer eignen Handlungen, insgleichen die Unabhängigen, oder die »Raubtiere« usw.

[287]


Erwägen wir, wie teuer sich ein solcher moralischer Kanon (»ein Ideal«) bezahlt macht. (Seine Feinde sind – nun? Die »Egoisten«.)

Der melancholische Scharfsinn der Selbstverkleinerung in Europa (Pascal, Larochefoucauld) – die innere Schwächung, Entmutigung, Selbstannagung der Nicht-Herdentiere –

die beständige Unterstreichung der Mittelmäßigkeits-Eigenschaften[907] als der wertvollsten (Bescheidenheit, in Reih und Glied, die Werkzeug-Natur)

– das schlechte Gewissen eingemischt in alles Selbstherrliche, Originale:

– die Unlust also: – also Verdüsterung der Welt der Stärker-Geratenen!

– das Herdenbewußtsein in die Philosophie und Religion übertragen: auch seine Ängstlichkeit.

– Lassen wir die psychologische Unmöglichkeit einer rein selbstlosen Handlung außer Spiel!

[389]


Daß man sich nicht über sich selbst vergreift! Wenn man in sich den moralischen Imperativ so hört, wie der Altruismus ihn versteht, so gehört man zur Herde. Hat man das umgekehrte Gefühl, fühlt man in seinen uneigennützigen und selbstlosen Handlungen seine Gefahr, seine Abirrung, so gehört man nicht zur Herde.

[286]


Vorteil eines Abseits von seiner Zeit. – Abseits gestellt gegen die beiden Bewegungen, die individualistische und die kollektivistische Moral – denn auch die erste kennt die Rangordnung nicht und will dem einen die gleiche Freiheit geben wie allen. Meine Gedanken drehen sich nicht um den Grad von Freiheit, der dem einen oder dem anderen oder allen zu gönnen ist, sondern um den Grad von Macht, den einer oder der andere über andere oder alle üben soll, resp. inwiefern eine Opferung von Freiheit, eine Versklavung selbst, zur Hervorbringung eines höheren Typus die Basis gibt. In gröbster Form gedacht: wie könnte man die Entwicklung der Menschheit opfern, um einer höheren Art, als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen? –

[859]


Zuletzt sei man ohne Sorge: man braucht nämlich sehr viel Moralität, um in dieser feinen Weise unmoralisch zu sein; ich will ein Gleichnis gebrauchen:

Ein Physiologe, der sich für eine Krankheit interessiert, und ein Kranker, der von ihr geheilt werden will, haben nicht das gleiche Interesse. Nehmen wir einmal an, daß jene Krankheit die Moral ist – denn sie ist eine Krankheit –, und daß wir Europäer deren Kranke sind: was für eine feine Qual und Schwierigkeit wird entstehen, wenn wir Europäer nun zugleich auch deren neugierige Beobachter und[908] Physiologen sind! Werden wir auch nur ernsthaft wünschen, von der Moral loszukommen? Werden wir es wollen? Abgesehen von der Frage, ob wir es können? Ob wir »geheilt« werden können? –

[273]


Da jeder Trieb unintelligent ist, so ist »Nützlichkeit« gar kein Gesichtspunkt für ihn. Jeder Trieb, indem er tätig ist, opfert Kraft und andere Triebe: er wird endlich gehemmt; sonst würde er alles zugrunde richten, durch Verschwendung. Also: das »Unegoistische«, Aufopfernde, Unkluge ist nichts Besonderes – es ist allen Trieben gemeinsam –, sie denken nicht an den Nutzen des ganzen ego (weil sie nicht denken!), sie handeln wider unseren Nutzen, gegen das ego: und oft für das ego – unschuldig in beidem!

[372]


Man sucht das Bild der Welt in der Philosophie, bei der es uns am freisten zumute wird; d. h. bei der unser mächtigster Trieb sich frei fühlt zu seiner Tätigkeit. So wird es auch bei mir stehn!

[418]


Unsinn aller Metaphysik als einer Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten.

Zur Natur des Denkens gehört es, daß es zu dem Bedingten das Unbedingte hinzudenkt, hinzuerfindet: wie es das »Ich« zur Vielheit seiner Vorgänge hinzudenkt, hinzuerfindet: es mißt die Welt an lauter von ihm selbst gesetzten Größen: an seinen Grundfiktionen »Unbedingtes«, »Zweck und Mittel«, »Dinge«, »Substanzen«, an logischen Gesetzen, an Zahlen und Gestalten.

Es gäbe nichts, was Erkenntnis zu nennen wäre, wenn nicht erst das Denken sich die Welt dergestalt umschüfe zu »Dingen«, Sich-selbst- Gleichem. Erst vermöge des Denkens gibt es Unwahrheit.

Das Denken ist unableitlar, ebenso die Empfindungen: aber damit ist es noch lange nicht als ursprünglich oder »an sich seiend« bewiesen! sondern nur festgestellt, daß wir nicht dahinter können, weil wir nichts als Denken und Empfinden haben.

[574]


Wer die Vernünftigkeit vorwärts stößt, treibt damit die entgegengesetzte Macht auch wieder zu neuer Kraft, die Mystik und Narrheit aller Art.[909]

In jeder Bewegung zu unterscheiden 1. daß sie teilweise Ermüdung ist von einer vorhergegangenen Bewegung (Sattheit davon, Bosheit der Schwäche gegen sie, Krankheit); 2. daß sie teilweise eine neu aufgewachte, lange schlummernde aufgehäufte Kraft ist, freudig, übermutig, gewalttätig: Gesundheit.

[1012]


Was bedeutet das, daß wir die Campagna romana nachfühlen? Und das Hochgebirge?

Chateaubriand 1803 in einem Brief an M. de Fontanes gibt den ersten Eindruck der Campagna romana.

Der Präsident de Brosses sagt von der Campagna romana: »il fallait que Romulus fût ivre, quand il songea à bâtir une ville dans un terrain aussi laid.«

Auch Delacroix wollte Rom nicht, es machte ihm Furcht. Er schwärmte für Venedig, wie Shakespeare, wie Byron, wie George Sand. Die Abneigung gegen Rom auch bei Theoph. Gautier – und bei Rich. Wagner.

[103a]


Der Gewissensbiß: Zeichen, daß der Charakter der Tat nicht gewachsen ist. Es gibt Gewissensbisse auch nach guten Werken: ihr Ungewöhnliches, das was aus dem alten Milieu heraushebt. –

[234]


Die nächste Vorgeschichte einer Handlung bezieht sich auf diese: aber weiter zurück liegt eine Vorgeschichte, die weiter hinaus deutet: die einzelne Handlung ist zugleich ein Glied einer viel umfänglicheren späteren Tatsache. Die kürzeren und die längeren Prozesse sind nicht getrennt –

[672]


Dem bösen Menschen das gute Gewissen zurückgeben – ist das mein unwillkürliches Bemühen gewesen? und zwar dem bösen Menschen, insofern er der starke Mensch ist? (Das Urteil Dostojewskijs über die Verbrecher der Gefängnisse ist hierbei anzuführen.)

[788]


Der starke Mensch, mächtig in den Instinkten einer starken Gesundheit, verdaut seine Taten ganz ebenso, wie er die Mahlzeiten verdaut; er wird mit schwerer Kost selbst fertig: in der Hauptsache aber führt ihn ein unversehrter und strenger Instinkt, daß er nichts tut, was ihm widersteht, so wenig als er etwas tut, das ihm nicht schmeckt.

[906]


[910] Die Arten der Selbstbetäubung. – Im Innersten: nicht wissen, wohinaus? Leere. Versuch, mit Rausch darüber hinwegzukommen: Rausch als Musik, Rausch als Grausamkeit im tragischen Genuß des Zugrundegehens des Edelsten, Rausch als blinde Schwärmerei für einzelne Menschen oder Zeiten (als Haß usw.). – Versuch, besinnungslos zu arbeiten, als Werkzeug der Wissenschaft: das Auge offen machen für die vielen kleinen Genüsse, z. B. auch als Erkennender (Bescheidenheit gegen sich); die Bescheidung über sich zu generalisieren, zu einem Pathos; die Mystik, der wollüstige Genuß der ewigen Leere; die Kunst »um ihrer selber willen« (»le fait«), das »reine Erkennen« als Narkosen des Ekels an sich selber; irgendwelche beständige Arbeit, irgendein kleiner dummer Fanatismus; das Durcheinander aller Mittel, Krankheit durch allgemeine Unmäßigkeit (die Ausschweifung tötet das Vergnügen).

  • 1. Willensschwäche als Resultat.

  • 2. Extremer Stolz und die Demütigung kleinlicher Schwäche im Kontrast gefühlt.

[29]


Die höchste Billigkeit und Milde als Zustand der Schwächung (das Neue Testament und die christliche Urgemeinde – als volle bêtise bei den Engländern Darwin, Wallace sich zeigend). Eure Billigkeit, ihr höheren Naturen, treibt euch zum suffrage universel usw., eure »Menschlichkeit« zur Milde gegen Verbrechen und Dummheit. Auf die Dauer bringt ihr damit die Dummheit und die Unbedenklichen zum Siege: Behagen und Dummheit – Mitte.

Äußerlich: Zeitalter ungeheurer Kriege, Umstürze, Explosionen. Innerlich: immer größere Schwäche der Menschen, die Ereignisse als Exzitantien. Der Pariser als das europäische Extrem.

Konsequenzen: 1. die Barbaren (zuerst natürlich unter der Form der bisherigen Kultur); 2. die souveränen Individuen (wo barbarische Kraft- Mengen und die Fessellosigkeit in Hinsicht auf alles Dagewesene sich kreuzen). Zeitalter der größten Dummheit, Brutalität und Erbärmlichkeit der Massen, und der höchsten Individuen.

[130]


Theorie des Zufalls. Die Seele ein auslesendes und sich nährendes Wesen äußerst klug und schöpferisch fortwährend (diese schaffende Kraft gewöhnlich übersehn! nur als »passiv« begriffen).[911]

Ich erkannte die aktive Kraft, das Schaffende inmitten des Zufälligen: – Zufall ist selber nur das Aufeinanderstoßen der schaffenden Impulse.

[673]


Meine erste Lösung: die dionysische Weisheit. Lust an der Vernichtung des Edelsten und am Anblick, wie er schrittweise ins Verderben gerät: als Lust am Kommenden, Zukünftigen, welches triumphiert über das vorhandene noch so Gute. Dionysisch: zeitweilige Identifikation mit dem Prinzip des Lebens (Wollust des Märtyrers einbegriffen).

Meine Neuerungen. – Weiter-Entwicklung des Pessimismus: der Pessimismus des Intellekts; die moralische Kritik, Auflösung des letzten Trostes. Erkenntnis der Zeichen des Verfalls: umschleiert durch Wahn jedes starke Handeln; die Kultur isoliert, ist ungerecht und dadurch stark.

1. Mein Anstreben gegen den Verfall und die zunehmende Schwäche der Persönlichkeit. Ich suchte ein neues Zentrum.

2. Unmöglichkeit dieses Strebens erkannt.

3. Darauf ging ich weiter in der Bahn der Auflösungdarin fand ich für einzelne neue Kraftquellen. Wir müssen Zerstörer sein! – – Ich erkannte, daß der Zustand der Auflösung, in der einzelne Wesen sich vollenden können wie nie – ein Abbild und Einzelfall des allgemeinen Daseins ist. Gegen die lähmende Empfindung der allgemeinen Auflösung und Unvollendung hielt ich die ewige Wiederkunft.

[417]


Zur Psychologie der Metaphysik: – der Einfluß der Furchtsamkeit.

Was am meisten gefürchtet worden ist, die Ursache der mächtigsten Leiden (Herrschsucht, Wollust usw.), ist von den Menschen am feindseligsten behandelt worden und aus der »wahren« Welt eliminiert. So haben sie die Affekte Schritt für Schritt weggestrichen – Gott als Gegensatz des Bösen angesetzt, das heißt die Realität in die Negation der Begierden und Affekte verlegt (d. h. gerade ins Nichts).

Insgleichen ist die Unvernunft, das Willkürliche, Zufällige von ihnen gehaßt worden (als Ursache zahlloser physischer Leiden). Folglich negierten sie dies Element im An-sich-Seienden, faßten es als absolute »Vernünftigkeit« und »Zweckmäßigkeit«.

Insgleichen der Wechsel, die Vergänglichkeit gefürchtet: darin drückt sich eine gedrückte Seele aus, voller Mißtrauen und schlimmer Erfahrung (Fall Spinoza: eine umgekehrte Art Mensch würde diesen[912] Wechsel zum Reiz rechnen).

Eine mit Kraft überladene und spielende Art Wesen würde gerade die Affekte, die Unvernunft und den Wechsel in eudämonistischem Sinne gutheißen, samt ihren Konsequenzen Gefahr, Kontrast, Zugrundegehn usw.

[576]


Alle Tugenden physiologische Zustände: namentlich die organischen Hauptfunktionen als notwendig, als gut empfunden. Alle Tugenden sind eigentlich verfeinerte Leidenschaften und erhöhte Zustände.

Mitleid und Liebe zur Menschheit als Entwicklung des Geschlechtstriebes. Gerechtigkeit als Entwicklung des Rachetriebes. Tugend als Lust am Widerstande, Wille zur Macht. Ehre als Anerkennung des Ähnlichen und Gleichmächtigen.

[255]


Unfreiheit oder Freiheit des Willens? – Es gibt keinen »Willen«: das ist nur eine vereinfachende Konzeption des Verstandes, wie »Materie«.

Alle Handlungen müssen erst mechanisch als möglich vorbereitet sein, bevor sie gewollt werden. Oder: der »Zweck« tritt im Gehirn zumeist erst auf, wenn alles vorbereitet ist zu seiner Ausführung. Der Zweck ein »innerer« »Reiz« – nicht mehr.

[671]


Das Individuum ist etwas ganz Neues und Neuschaf fendes, etwas Absolutes, alle Handlungen ganz sein Eigen.

Die Werte für seine Handlungen entnimmt der einzelne zuletzt doch sich selber: weil er auch die überlieferten Worte sich ganz individuell deuten muß. Die Auslegung der Formel ist mindestens persönlich, wenn er auch keine Formel schafft: als Ausleger ist er immer noch schaffend.

[767]


Indem ich dieses sage, sehe ich über mir den ungeheuren Rattenschwanz von Irrtümern unter den Sternen glänzen, der bisher als die höchste Inspiration der Menschheit galt: »alles Glück folgt aus der Tugend, alle Tugend aus dem freien Willen«!

Kehren wir die Werte um: alle Tüchtigkeit Folge einer glücklichen Organisation, alle Freiheit Folge der Tüchtigkeit (– Freiheit hier als Leichtigkeit in der Selbstdirektive verstanden. Jeder Künstler versteht mich).

[705] [913]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 864-914.
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