[5]

[422] Der Mensch hat, im Gegensatz zum Tier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich großgezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. – Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zugrunde geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für die Tätigkeit des Haupttriebes abgibt.

Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt. In der Tat: wo die Pflanze Mensch sich stark zeigt, findet man die mächtig gegeneinander treibenden Instinkte (z. B. Shakespeare), aber gebändigt.

[966]


Die Erziehung zu jenen Herrscher-Tugenden, welche auch über sein Wohlwollen und Mitleiden Herr werden: die großen Züchter-Tugenden (»seinen Feinden vergeben« ist dagegen Spielerei), den Affekt des Schaffenden auf die Höhe bringen – nicht mehr Marmor behauen! – Die Ausnahme- und Macht-Stellung jener Wesen (verglichen mit der der bisherigen Fürsten): der römische Cäsar mit Christi Seele.

[983]


Der höhere Mensch und der Herden-Mensch. Wenn die großen Menschen fehlen, so macht man aus den vergangenen großen Menschen Halbgötter oder ganze Götter: das Ausbrechen von Religion beweist, daß der Mensch nicht mehr am Menschen Lust hat (– »und am Weibe auch nicht« mit Hamlet). Oder: man bringt viele Menschen auf einen Haufen, als Parlamente, und wünscht, daß sie gleich tyrannisch wirken.

Das »Tyrannisierende« ist die Tatsache großer Menschen: sie machen den Geringeren dumm.

[875]
[422]

Ich lehre: die Herde sucht einen Typus aufrechtzuerhalten und wehrt sich nach beiden Seiten, ebenso gegen die davon Entartenden (Verbrecher usw.) als gegen die darüber Emporragenden. Die Tendenz der Herde ist auf Stillstand und Erhaltung gerichtet, es ist nichts Schaffendes in ihr.

Die angenehmen Gefühle, die der Gute, Wohlwollende, Gerechte uns einflößt (im Gegensatz zu der Spannung, Furcht, welche der große, neue Mensch hervorbringt), sind unsere persönlichen Sicherheits-, Gleichheits-Gefühle: das Herdentier verherrlicht dabei die Herdennatur und empfindet sich selber dann wohl. Dies Urteil des Wohlbehagens maskiert sich mit schönen Worten – so entsteht »Moral«. – Man beobachte aber den Haß der Herde gegen den Wahrhaftigen. –

[285]


Ich lehre: daß es höhere und niedere Menschen gibt und daß ein einzelner ganzen Jahrtausenden unter Umständen ihre Existenz rechtfertigen kann – das heißt ein voller, reicher, großer, ganzer Mensch in Hinsicht auf zahllose unvollständige Bruchstück-Menschen.

[997]


Seelengröße nicht zu trennen von geistiger Größe. Denn sie involviert Unabhängigkeit; aber ohne geistige Größe soll diese nicht erlaubt sein, sie richtet Unfug an, selbst noch durch Wohltun-wollen und »Gerechtigkeit«-üben. Die geringen Geister haben zu gehorchen – können also nicht Größe haben.

[984] [423]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 422-424.
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